"Healing Rain" – eine Geschichte von Sayuri Kleiner - Young Circle

«Healing Rain» – eine Geschichte von Sayuri Kleiner

Member Stories 2022

«Healing Rain» – eine Geschichte von Sayuri Kleiner

Der weiche Stoff riecht noch nach ihm. Nach Black Musk Parfüm und altem Zigarettenrauch. Doch das warme Gefühl, das ich normalerweise bei diesem Duft fühle, ist verschwunden. Tränen steigen mir in die Augen. Das Bild seines leblosen Körpers auf dem glänzenden Marmorboden will mir nicht aus dem Kopf gehen.

Ich liege auf dem kalten, feuchten Asphalt. Mein Wollpullover ist durchnässt und mit braun-roten Flecken übersäht. Die Wolken, die mein Atem in der kühlen Herbstluft hinterlässt, schlängeln sich auf den mit Sternen übersäten Himmel zu. Tief ein- und ausatmend nehme ich den sanften Geruch von Blättern und Erde war. Wieso bin ich hier? Ich fühle mich leicht. Etwas drückt jedoch schwer auf meine Lunge und erschwert mir das Atmen. 

Ich wurde 2001 in einem kleinen Städtchen westlich von Edinburgh zur Welt gebracht. Meine Mutter war eine exzentrische Künstlerin mit feuerroten Haaren, die lieber an irgendwelchen Skulpturen herumbastelt, als sich mit der Realität zu befassen. Von meinem Vater muss ich erst gar nicht anfangen. Er ist ein Weltreisender, der nach der Trennung von meiner Mutter nach Skandinavien geflüchtet ist. Ich kann ihn sogar verstehen. Wie ich schon sagte, meine Mutter ist ziemlich verrückt.

Meine Gedanken schweifen ab. Ich betrachte die unscheinbare Mondsichel, während meine klammen Finger über einen seidenen Schal gleiten. Der weiche Stoff riecht noch nach ihm. Nach Black Musk Parfüm und altem Zigarettenrauch. Doch das warme Gefühl, das ich normalerweise bei diesem Duft fühle, ist verschwunden. Tränen steigen mir in die Augen. Das Bild seines leblosen Körpers auf dem glänzenden Marmorboden will mir nicht aus dem Kopf gehen. Blut rinnt langsam aus einer offenen Wunde an seinem Kopf und bildet eine schimmernde Pfütze auf dem weissen Untergrund. Am Boden liegt ein Schlagstock aus geschliffenem Eisen. Daneben steht mit geschocktem Gesichtsausdruck meine Mutter. Sein Blut klebt an ihren Händen. Ich erinnere mich noch, wie ich zu Boden gesunken bin. Meine Beine fühlten sich an wie an der Sonne erwärmter Plastik.

«Was habe ich getan?», flüstert sie leise. Sie starrt abwechslungsweise auf ihre verschmierten Hände und auf die Blase Leiche vor ihren Füssen. Die Haare meiner Mutter stehen wirr in alle Richtungen. Ich bewege mich langsam auf den Toten zu. Alles in mir schreit vor Schmerzen. Ich will davonrennen, irgendwo hin, wo ich niemanden sehen muss. An einen Ort, an dem ich nichts fühlen muss. Einen Ort ohne eine einzige Erinnerung an die vergangenen Ereignisse. Meine Hand zittert, als ich sie auf Lukes kalte Wange lege. Seine Augen sind weit aufgerissen. Vorsichtig schliesse ich seine Augenlider, jetzt sieht es so aus, als ob er eingeschlafen wäre. Ein letztes Mal fahre ich mit meinen Fingern durch seine lockigen schwarzen Haare. «Bye, Lucke» wispere ich leise. Kaum haben diese Worte meinen Mund verlassen, nehme ich das leise Geräusch einer Sirene wahr. Wenige Sekunden später ist die Eingangshalle unserer Villa mit Blaulicht erfüllt.

Alles scheint an mir vorbeizuziehen. Die Rettungskräfte, die ihn auf eine Trage legen. Meine Mutter, die mit Handschellen zu einem Polizeiauto geführt wird. Und da bin ich. Einer der Polizisten scheint mit mir zu sprechen. Ich blicke ihn an, kann aber nichts wirklich erkennen. Die Lichter werden vor meinen Augen zu einem Schleier aus blauen und roten Flecken. Ich blinzle doch, dass verschlimmert es nur. Wie in Trance gehe ich hinter dem braunhaarigen Polizisten her. Meine Beine fühlen sich an, als ob sie nicht mehr zu mir gehören würden.

«Ich habe gefragt, wie dein Name ist!» Eine laute, genervte Männer stimme, dringt durch den Nebel, der über meinem Verstand liegt. Ich schüttle verwirrt meinen Kopf. Wer bin ich? «Lass doch das arme Ding in Ruhe, sie ist sicher geschockt», eine Frau mit langen dunkelblonden Haaren taucht verschwommen in meinem Blickfeld auf. Langsam richte ich mich im Stuhl auf. Das helle Licht der Neoleuchte blendet mich. Langsam kann ich die Umgebung besser erkennen. «Ich weiss es nicht» flüstere ich heiser. «Was?» Der grimmig dreinblickende Polizist schaut mich an. «Ich weiss nicht, wer ich bin» meine Stimme ist schwach und zittrig.

Alles dreht sich. Der zuständige Polizist hängt seit einer Stunde am Telefon. Unterschiedlichste beamte Laufen ständig in und aus dem mit hässlichen grauen Ledersesseln eingerichteten Büro. Ohne weiter auf die Menschen zu achten, stehe ich auf. Mit Unsicheren schritten schwanke ich zur Türe und verlasse fluchtartig das Gebäude.

Die frische Nachtluft schlägt mir entgegen und beruhigt meinen Verstand. Über mir ein unendlicher Sternenhimmel vor mir die menschenleeren Strassen meiner Stadt. Leise nehme ich laute Rufe wahr, die aus der Polizeistation dringen. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, aber ich vermute, dass sie nach mir suchen. Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, renne ich los.

Der Wind streicht über meine Haut und brennt in meinen müden Augen. Trotz meiner Erschöpfung fühle ich mich leicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, was los ist. Warum ich auf der Polizeistation war oder wieso ich mich an nichts erinnere. Es ist mir jedoch in diesem Moment vollkommen egal.

Nach einigen Minuten verlangsame ich meinen Schritt. Ich bleib schwer atmend stehen. Langsam lasse ich mich auf den Boden fallen. Ich befinde mich auf einer betonierten Strasse mitten in einem finsteren Wald. Die Baumwipfel bewegen sich sanft im Wind, während ich mich auf meinen Rücken lege. Alles ist still, als ob die Welt ihren Atem anhalten würde. Nicht mal das leise Zwitschern der Vögel ist zu hören, es ist beinahe gespenstisch.

Etwas Feuchtes fällt auf meine Stirn. Ein Regentropfen. Noch einer, bis es in Strömen regnet. Es interessiert mich jedoch nicht besonders. Ich fühle den Regen kaum. Genau in diesem Moment trifft es mich wie ein Schlag. In flackernden Bildern kommen die Ereignisse der Nacht zurück.

Meine Mutter hat wieder einmal bis spät in die Nacht an einem ihrer Kunstwerke gearbeitet. Luke ist nichts ahnend in unser Haus spaziert, meine Mutter hielt ihn für einen Einbrecher. Sie mochte Luke nie besonders und ich vermute, es kam ihr gerade recht, dass sie an ihm ihren neuen Schlagstock ausprobieren konnte. Mehr weiss ich selbst nicht.

Ich schrecke aus meinen Gedanken. Der Regen hat aufgehört und ich liege auf dem kalten, feuchten Asphalt. Jetzt weiß ich, wieso ich hier bin. Mit letzter Kraft ziehe ich mein Handy aus der hinter die Hosentasche meiner Jeans. «Polizeistation, wie kann ich ihnen helfen?» «Mein Name ist Jamie und ich befinde mich auf einer Landstrasse im Wald, kann mich bitte jemand abholen!»

Ende.

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