„Bleib stehen Diebin!“ Diese Stimme, die mich schon seit Jahren verfolgt, wird immer leiser, während ich mich in Nyko’s Nackenfell festklammere und der eisige Wind mir ins Gesicht peitscht. Mein Raubgut liegt gut verstaut in meiner Manteltasche. Sie ist gefüllt mit Lebensmittel aller Art. Die Landschaft ist vom Winter geprägt, es gibt keinen einzigen Fleck mehr, der nicht von Schnee und Eis bedeckt ist. Die Temperaturen sind nie höher als minus 10 Grad. Eigendlich ist ein Leben in dieser Eishölle recht leicht, wenn man in einer Stadt wohnt, in der man ein warmes Haus und genügend zu Essen hat. Nur besitze ich so etwas nicht mehr seit meinem 9 Lebensjahr. Mühsam verdränge ich die schmerzenden Erinnerungen, die in mir aufsteigen wollen. Stattdessen versuche ich herauszufinden, wohin mich mein Schneewolf Nyko bringt. Er hält auf unsere Hütte zu, in der wir zurzeit leben.
Dort angekommen suchen wir Zuflucht vor der eisigen Kälte. Nyko legt sich vors Kaminfeuer und ich mache mich daran, uns ein Abendessen zuzubereiten. Für mich gibt es frisches Brot und für Nyko einen Brocken Fleisch. Zufrieden verschlingen wir unser Essen, dann kuschle ich mich in Nyko’s schneeweisses Brustfell. Von seinem vertrauten Geruch umgeben schlafe ich ein.
„… sie flogen immer in jener Zeit, in der die Tage am längsten waren, mit ihren Gefährten über unseren Kontinent und brachten den Sommer über unser verfluchtes Land.
„Was ist Sommer?“, fragte ich meine Eltern. „Sommer ist eine Zeit, in der wir keine Decke brauchen, um zu schlafen, die Landschaft grün und voller Leben und der Himmel blau statt grau ist. „Warum fliegen die Drachen nicht mehr über unseren Kontinent?“ „Weil wir Menschen zu gierig geworden sind“ antwortete mein Vater…
Nyko’s Winseln reisst mich aus meinem Traum. Schnell sehe ich mich um. Vor der Hütte stehen düstere Gestalten, die dabei sind, das Türschloss zu knacken. Wie damals… geht es mir durch den Kopf, als ich aufspringe, meinen Mantel schnappe und zu Nyko renne, der bereits vor der Hintertür wartet. Vorsichtig öffne ich sie, sehe das niemand dahinter lauert und klettere sofort auf Nyko’s Rücken. „Los Nyko, nichts wie weg hier“, flüstere ich ihm zu und er beginnt zu rennen. Auch das ist wie damals, als die Mörder in der Nacht kamen, in unser Haus einbrachen und meine Eltern mich mit dem damals noch jungen Nyko in die Nacht hinausschickten, mit dem Versprechen nachzukommen, doch sie hielten das Versprechen nicht. Eines der Pferde wiehert angstvoll, als es Nyko riecht. Mist. Und so begann das Wettrennen gegen den Tod von neuem. Nyko rast so schnell, dass man ihn nur noch als weisser Schemen in der Dunkelheit wahrnimmt, doch das Pferd des Mörders war ähnlich schnell, es würde der gewinnen, der am längsten durchhält. Der Wind zerrt an meinen schwarzen Haaren, lässt meine eisblauen Augen tränen. Hinter mir höre ich den Knall der Peitsche, die auf das arme Pferd niederschlägt. Wir rennen so lange durch die Düsternis, bis sich diese lichtet, die Sonne durch die dichten Wolken drückt und Nyko als auch das Pferd vor Anstrengung schwer atmen. Vor mir erhebt sich das Eisgebirge, von dem es zahlreiche Legenden gibt, in der es heisst, das noch nie ein Mensch lebendig rein und wieder herausgekommen ist. Nyko wird langsamer und ich halte verzweifelt nach einem Ausweg Ausschau, denn es nicht gibt. Es gibt nur den Mörder in meinem Rücken und das Eisgebirge vor mir. Der Mörder kommt mir so nah, dass ich seinen heissen Atem im Nacken spüren kann. Angst lähmt mich. Ich werde hier sterben, niedergestreckt vom gleichen Mann wie meine Eltern. Hoffentlich werde ich meine Eltern wiedersehen. Als würde Nyko meine Gedanken lesen können, knurrt er und beginnt wieder zu rasen. Wir sind fast beim Eingang des Gebirges angekommen, der von 2 riesigen Eiszapfen bebildet wird, als der Mörder wütend aufschreit. Ich drehe meinen Kopf, sehe, wie er mühsam auf die Beine kommt und mir mit hassverzerrtem Gesicht hinterherblickt. Sein Pferd galoppiert in die entgegengesetzte Richtung davon. Sofort wird Nyko langsamer, um auf dem Eis nicht umzufallen. Es wurde kalt, finster und still. Abgesehen von meinem keuchenden Atem und das dumpfe Geräusch von Nyko’s Pfoten auf dem Eis ist es mucksmäuschenstill. Voller Ehrfurcht betrachte ich die Wände aus Eis, in denen wir uns spiegeln. Das Eisgebirge heisst nicht ohne Grund so, die Berge selbst bestehen aus Eis. Während ich die Umbegung bestaune, läuft Nyko immer weiter. Einmal machen wir Halt, um aus einem Bächlein zu trinken, das erstaunlicherweise warm und nicht die Temperatur hat, die es in dieser Umgebung eigentlich haben sollte. Verwirrt laufe ich neben Nyko her, da es zu kalt war, um nur zu sitzen. Nachdem wir noch eine Weile gelaufen sind, beginnt die Umgebung sich zu verändern. Das Eis weicht Stein, Grass, die Luft wird wärmer und die Finsternis weicht Licht. Meine Verwirrung wächst, doch ich schaue mich begeistert um. Auch Nyko beginnt herumzuspringen, als wäre er noch ein Welpe. Ich muss lachen, als ich ihm dabei zusehe, wie er seinen eigenen Schwanz nachjagt. Dieser Ort fühlt sich nach einem Zuhause an, das ich nie hatte. Immer noch lachend renne ich los. Nyko folgt mir bellend. Unser kleines Wettrennen endet bei einer Schlucht. Ich suche nach einem Weg hinüber, als Nyko plözlich anfängt zu knurren. „Was ist denn los?“, frage ich ihn leise. Ich spüre einen Luftstoss neben mir und in mir explodierte Wärme, so gleissend wie die Sonne. Erstaunt drehe ich mich um und sehe in ein wunderschönes, goldenes Auge umgeben von rötlichen Schuppen. „Hallo Kaia“, begrüsst mich eine warme Stimme. Ich starre sie an. Es gibt sie wirklich. Drachen. Und vor mir steht mein Drache. Noari.
… „was wollten die Menschen so sehr, dass sich die Drachen vor ihnen verstecken mussten?“ „Macht.“
Nun verstehe ich, was meine Mutter meinte. Ich spüre die Macht, die mir meine Gefährtin Noari geschenkt hat. Die Macht, einen jahrtausend alten Fluch zu brechen, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Endlich kann ich mir den Sommer selbst ansehen.
Hier geht es zu den weiteren Member Stories: