"Es geht mir gut" – Eine Geschichte von Seraina Gehrig - Young Circle

«Es geht mir gut» – Eine Geschichte von Seraina Gehrig

Member Stories 2024

«Es geht mir gut» – Eine Geschichte von Seraina Gehrig

Trotz des äusseren Scheins von Normalität und der wiederholten Behauptung, es gehe ihr gut, kämpft die Protagonistin mit tiefen inneren Schmerzen und der erdrückenden Leere, die sie bis an den Rand eines gefährlichen Abgrunds treiben. Doch im letzten Moment taucht jemand auf, dessen Anwesenheit alles verändern könnte.

Es geht mir gut.

Müde reibe ich mir die Augen. Ich liege in meinem Bett. Meine Beine und Arme sind zu schwer, um sie anzuheben, also bleibe ich noch einen Moment liegen. Ich greife nach meinem Handy, welches neben mir auf dem Nachttisch steht. Langsam richte ich mich auf meinem Bett auf und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Ich entsperre mein Smartphone. Keine neuen Nachrichten. Seufzend stehe ich auf und mache mich fertig für die Schule. So wie immer.

Ich steige aus dem Bus. Warme Luft schlägt mir entgegen als meine Sneaker auf dem trockenen Asphalt aufkommen. Der Wind löst eine dunkelbraune Haarsträhne aus meinem Zopf. Ich schaue mich um, sehe das vertraute Gebäude, das vor mir in die Höhe ragt.

Ich stehe in der Tür unseres Klassenzimmers. Der Unterricht startet in einer halben Minute und es fällt mir schwer mich zu bewegen. Es ist, als würde ich mich von aussen betrachten. Die braunen, leicht lockigen Haare, die eine Dusche vertragen könnten. Meine, von der Wiese, schmutzigen Sneaker. Klamotten, die ich einfach anziehe, ohne zu überlegen, ob sie zusammenpassen.

Ich überwinde mich, winke Ella zu die zu mir aufsieht als ich vorbeigehe und ich mich hinter sie setze. Als unsere Lehrerin beginnt, irgendetwas über die Aggregatszustände von Stoffen zu erzählen, schweife ich mit meinen Gedanken ab.

Es geht mir gut. ’  Wie oft muss man diese Lüge erzählen, bis jemand merkt, dass es eine Lüge ist? Ich weiss es nicht. So lange verstecke ich meine kaputte Seele vor meinen Freunden, denn ich weiss dass sie mir nicht helfen können. Anfangs, war ich mir sicher, dass es besser werden würde, doch es ging nur noch bergab. Und jetzt sitze ich hier, so wie jeden Tag. Meine Seele ist leer und gleichzeitig gefüllt mit Angst, Trauer, Unsicherheit und so viel mehr, dass ich glaube zu ertrinken. Ich ertrinke in meinen Gefühlen, die mich überwältigen und die Kontrolle übernehmen. Sie nehmen mir alles weg, machen mich taub und lassen mich im Regen stehen. Meine eigenen Gedanken bringen mich um. Sie stechen mit ihren Lügen in mein Herz und zerreissen es mit ihnen bis nur noch Fetzen übrig sind. Sie umarmen mich, klammern sich an mich und lassen nicht los. Ich spüre, wie ich innerlich anfange zu zittern. Mir wird kalt, obwohl es draussen warm ist. Gänsehaut lässt die Härchen auf meinen Armen zu Berge stehen.

“Es geht mir gut”, mein Bein zittert unkontrolliert und ich beginne meine Knöchel zu knacken. Ich versuche mich zu beruhigen, doch es will mir nicht gelingen. “Hast du was gesagt?” Ich zucke zusammen und mir wird bewusst, dass ich meinen Gedanken gerade laut ausgesprochen habe. Nevis schaut mich an. In seinen grünen Augen, die ich so liebe, spiegelt sich mein Gesicht. Meine leeren Augen, starren mir entgegen. “Hey”, Nevis’ Blick verändert sich, “ was ist los?” Ich erkenne die Sorge in seinem Blick. “Es geht mir gut, ich bin nur müde”, ich versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht. Er schaut mich an. Sein Blick ist seltsam, so als könnte er in mich hineinsehen.  Schnell beende ich unseren Blickkontakt. Ich weiss nicht, wohin ich jetzt schauen soll, also rast mein Blick über das Klassenzimmer, meine Hände die verschränkt in meinem Schoss liegen, Nevis’ Schuhe und- Ich blicke auf, Nevis schaut mich an. Schnell wende mich von ihm ab, denn ich ertrage es nicht. Ich ertrage das Mitleid in seinem Blick nicht und doch hoffe ich inständig, dass er mir sagt, ich solle mit ihm reden. Doch das tut er nicht. Niemand tut es, obwohl es das Einzige wäre, was ich brauche. Jemanden der mir zuhört und- Nein, das habe ich schon versucht. Meine Freundinnen konnten mir nicht helfen, denn sie verstehen mich nicht. Niemand kann mich verstehen, denn ich bin die Einzige, die weiss, wie es sich anfühlt, ich zu sein. Die weiss, wie es sich anfühlt, erdrückt zu werden, von Befürchtungen, die niemals zutreffen werden. Ich spüre wie ich mich verschliesse, aber ich kämpfe nicht dagegen an. Das tue ich schon lange nicht mehr, denn die Einsamkeit und Leere, die mich umgibt, kenne ich schon viel zu gut.

Nach der Schule gehe ich zu meinem Lieblingsort. Ich betrete die Brücke. Um mich herum ist es still, bis auf das Rauschen der Bäume, doch in meinem Kopf ist es laut, denn meine Gedanken rasen, niemals stehen sie still. Genauso wie der reissende Fluss unter meinen Füssen. Ich lehne mich an das Geländer. Das kalte Metall drückt gegen meinen Brustkorb. Tief atme ich ein. Ich löse meine Haare aus dem Zopf und binde mir den Haargummi um das Handgelenk. Der Wind strömt durch meine Haare und ich geniesse die kühle Abendluft. Es geht mir gut. Ich stütze die Arme auf das Geländer, stemme mich hoch, stelle die Füsse darauf ab und erhebe mich langsam. Wie von selbst breiten sich meine Arme aus. Endlich kehrt Ruhe in meinen Geist. Zufriedenheit mischt sich mit Todesangst und ich liebe das Gefühl genauso sehr wie ich es hasse. Gleich ist es vorbei, sage ich mir. Ich sehe nach unten. Unter mir ragt ein spitzer Felsen aus dem Fluss. Ein kleiner Schritt und alles ist vorbei. In meinem Kopf wird es wieder laut. Ein schlechtes Gefühl macht sich in mir breit, doch ich verdränge es mit dem letzten bisschen Kraft das ich noch aufbringe. Ich spüre die Träne, die über meine Wange kullert. Ein lauter Schluchzer bricht aus mir hervor und ich krümme mich. Mein Atem zittert als ich mich wieder aufrichte und meinen Körper langsam umdrehe, sodass ich nun den Wald vor mir erblicke. Ich erstarre. Da ist jemand. Ich sehe grüne Augen, in denen ein panischer Ausdruck liegt. Nevis rennt auf mich zu, doch er ist viel zu weit weg und dass weiss er auch, denn jetzt bleibt er stehen, sieht mich entsetzt an und sinkt auf die Knie. “Es geht mir gut”, flüstere ich, als ich mich fallen lasse.

Nevis schreit und ich spüre, wie der Wind an meinem Körper vorbeirauscht…

Ich habe gelogen.

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