Es war der Abend des 24. Januars 1964. Der 15-jährige James West und seine kleine Schwester Anna waren in einer kleinen Wohnung und spielten miteinander vor einem brodelnden Kamin. Seine Schwester Anna war gerade neun Jahre alt geworden. Die beiden spielten zusammen ein altes Kartenspiel und warteten darauf, dass ihre Mutter wieder nachhause kam. Zur Winterzeit nahm sie einen Zweitjob als Kellnerin in einem alten Lokal an und arbeitete von Mittag bis spät in die Nacht. Sein älterer Bruder Luke, kochte an diesem Abend einen grossen Topf mit Nudeln und Tomatensauce, und hatte bereits den Tisch gedeckt. Sie warteten nun nur noch auf ihre Mutter. Doch sie kam nicht. James und seine Schwester assen während Luke nervös auf und ab lief und sich immer wieder zur Uhr umschaute «Was ist denn los?», fragte James ihn. Luke sah ihn traurig an und antwortete: «Ich weiss es nicht. Mutter hätte schon vor einer Stunde zuhause sein sollen und draussen kommt ein Schneesturm auf.» Luke schaute aus dem Fenster. «Am besten ich gehe und suche nach ihr», er schnappte sich seine Jacke. «Ihr zwei bleibt hier. Geht nicht raus!» Mit diesen Worten rannte er aus der Tür. James und Anna warteten etwa 10 Minuten lang, bevor James aufstand und sich seine Jacke schnappte. «Kommst du?», fragte er sie auffordernd. «Wo willst du denn hin?», fragte sie ihn schüchtern. «Nach Mutter suchen», antwortete er knapp. «Aber Luke hat doch gesagt wir sollen hierbleiben.» James drehte sich zu ihr um und drückte ihr, ihre Jacke in die Arme. «Und wenn schon. Luke weiss nicht, wo er nach ihr suchen muss!» James rannte aus der Wohnung in die Nacht.
Anna folgte ihm nicht sofort und als sie schliesslich doch nach draussen kam, war er bereits ausser Sichtweite. Sie lief in Richtung des Restaurants, in dem ihre Mutter arbeitete.
James hingegen ging in eine komplett andere Richtung. Er ahnte, dass seine Mutter an diesem Abend gar nicht zur Arbeit erschienen war. Schon seit Wochen war sie regelmässig nicht arbeiten gegangen. Er rannte durch die halbe Stadt, bis er eine alte heruntergekommene Bar erreichte, die in einer seitlichen Nebengasse lag. James ging durch eine alte Holztür rein und fand sich in einem kleinen Schankraum voller betrunkener Leute wieder. An einem kleinen Tisch entdeckte er sie. Mit einer halbleeren Schnapsflasche in ihrer Hand, war seine Mutter Katherine sichtlich angetrunken am Schlafen. Normalerweise hätte dieser Anblick ihn erschrocken, doch er hatte sie schon vor drei Wochen so vorgefunden, als er einem streunenden Hund in die Bar gefolgt war. Damals musste er ihr versprechen niemanden davon zu erzählen. Offenbar hatte sie schon seit einiger Zeit eine Alkoholsucht und ging jeden Tag in die Bar trinken. Nun da er sie schon wieder in diesem Zustand sah, lief es ihm kalt über den Rücken runter. Als er sie schüttelte, wachte sie ganz vor Schreck auf und liess die Schnapsflasche aus ihrer Hand fallen. «Wie? Was? Wo bin ich?», sie schaute sich um und entdeckte James. «James?! Was machst du denn hier?» James trat einen Schritt zurück. «Ich habe nach dir gesucht. Du hättest schon vor einer Stunde zuhause sein sollen. Luke sucht dich bereits!» Der Blick seiner Mutter wurde ernst. «Schnell komm mit!» Sie rannten zusammen nach Hause und fanden Luke vor der Wohnungstür auf und ab gehend. «Da seid ihr ja, wo warst du?» Er wandte sich an Katherine. «Und wo ist Anna?»
James war überrascht. «Wovon sprichst du? Sie ist doch hiergeblieben.» Luke schüttelte den Kopf. «Sie ist nicht im Haus.» Es fing an zu schneien und James begann zu frösteln. «Sie ist dir bestimmt nachgelaufen», schlussfolgerte James, «Und als sie dich nicht finden konnte, wusste sie nicht mehr wie nachhause.» Luke begriff nun: «Und wenn sie nicht weiss, wie sie nachhause kommt, geht sie zum See!» Die drei rannten los und nach kurzer Zeit kamen sie an einem eingefrorenen See an. Dort auf der Mitte des Sees sass Anna und weinte. «Anna!» Katherine rannte zu ihr und nahm sie in den Arm. Luke und James folgten ihr. Mittlerweile wuchs der Schneesturm stark und der nahegelegene Strommasten knirschte verdächtig. Und dann passierte es. Durch die Kälte waren die Stahlträger komplett durchgefroren und nun brach einer ab. Der Strommasten kippte zur Seite und krachte auf den See. Das Eis bekam Risse und begann zu brechen. Anna schrie auf und sie rannten in Richtung Ufer. Plötzlich brach das Eis unter Katherine und sie fiel ins eiskalte Wasser. Luke rannte zurück und sprang in das Wasser, um sie aufs Ufer zu ziehen. James rief ihm nach: «Luke! Pass auf den Strommasten auf!» Doch es war zu spät. Gerade als Luke Katherine aus dem Wasser stiess, zerbrach das Eis unter den Masten und ein gewaltiger Stromschlag schlug durch den See und traf Luke, der noch im Wasser war. «Luke!», schrien die drei, doch es war bereits zu spät. Lukes lebloser Körper sank auf den Grund hinunter.
Schnee fiel auf die Strassen. Die Fenster der Gebäude waren alle von der Kälte beschlagen und grosse Eiszapfen hingen von den Dächern hinunter. 60 Jahre waren seit dem Vorfall vergangen. James West war mittlerweile 75 Jahre alt. Er sass in einem alten Schaukelstuhl und schaute sich ein altes Foto seiner Familie an. Die Aufnahme wurde einen Monat vor Lukes Tod aufgenommen, an Heiligabend. Eine Träne lief ihm die Wange hinunter. Katherine hatte nach Lukes Tod mit dem Trinken aufgehört und ist einige Jahre danach an gebrochenem Herzen gestorben. Anna konnte ein glückliches Leben führen, starb allerdings letzten Frühling in Anwesenheit ihrer Familie an Altersschwäche. Seine eigenen Kinder sprachen schon lange nicht mehr mit ihm. James stand auf und ging hinaus zu demselben See in dem Luke verstarb. Er stand an einem kleinen Loch im Eis, genau bei der Stelle, an der es passierte. Hätte er Luke von Anfang an von der Alkoholsucht ihrer Mutter erzählt, wäre alles anders gekommen. James wollte nur in den See hinuntertauchen, um dort Luke zu sehen, wie er in der eisigen Kälte munter lachte. Doch Luke war nicht dort…
Ende
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