"Einmal lächeln, bitte" – eine Geschichte von Lilianne Herren - Young Circle

«Einmal lächeln, bitte» – eine Geschichte von Lilianne Herren

Member Stories 2023

«Einmal lächeln, bitte» – eine Geschichte von Lilianne Herren

In einem grauen Studio, umgeben von Anforderungen und Erwartungen, fühlt sich die Protagonistin verloren. Als sie sich im Spiegel betrachtet, erkennt sie sich kaum mehr. Doch dann taucht ein ungeschminkter Junge auf, der ihre Selbstzweifel durchbricht. Gemeinsam beschließen sie, aus diesem Wettbewerb auszusteigen und die wahre Bedeutung von Schönheit und Individualität zu entdecken.

Grau. 
Grau. 
Grau. 

Grau, die Farbe der Wände, die scheinbar einzige Farbe die ich heutzutage noch zu sehen bekomme. 
Ich verbringe zu viel Zeit im Studio, sagt meine Schwester. 
Ich solle mich mal anstrengen, hingegen meine Managerin.
Ich weiss nicht mehr was tun ist, wem ich vertrauen und wem ich glauben sollte. 
‹Du bist in dieser Welt auf dich alleine gestellt›, sagte meine Mutter immer. 
Obwohl es hart ist, dies zu akzeptieren, stimmt es in gewisser Hinsicht,denn du kannst dich auf niemanden verlassen. Zumindest nicht in meiner Welt. In der Modelwelt bist du alleine. Aber keine Sorge, mir geht es doch genauso. Mit meinen fünfzehn Jahren bin ich daran schon mehrmals unschön erinnert worden. 

In Gedanken verloren starre ich den Spiegel. Doch egal wie lange ich suche, ich finde mich selbst nicht darin. Rote Flecken breiten dich auf meinen Wangen auf, zwei schwarze Linien am Rande meiner Augenlider. Meine Wimpern sind sorgfältig getuscht, meine Lippen pink und plump. Auf meiner Nase eine goldene Linie, welche im Licht schimmert. Ich nehme ein Geräusch vor meiner Tür wahr, eine Stimme. Ein Mädchen im Spiegel starrt mich an. Ja, da starrt mich jemand an, aber wo bin ich? Wo ist mein Gesicht, mein Körper? Die lange Narbe an meinem Kinn? Der bleiche Teint meiner Haut? Die nervigen Sommersprossen auf meinen Wangen? 
Wo 
Bin 
Ich?
Die Stimme wird lauter. Ich versuche sie auszublenden, doch jemand trommelt jetzt auf meine Tür. 
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich meinen Namen höre. 
„Eloïse?»
Hektisch drehe ich mich um. Wie lange wird schon nach mir gerufen? 
«J-ja?», ist alles das aus meinem Mund kommt, ein jämmerliches Krächzen, meine Stimme rau und heiser. 
„Eloïse! Du sollst die Tür nicht abschliessen, das haben wir doch besprochen!» Ich kneife die Augen für einen Moment zu, atme tief aus. 
Jetzt geht es wieder los. Jetzt kann ich mich nicht mehr verstecken. Ich will aufgeben. Ich will aufhören. Ich will nach Hause.
Nein.
Nicht hier.
Nicht jetzt.
Ich erinnere mich an die Worte meiner Managerin. ‚Wenn du jetzt aufgibst, dann wird nie was aus dir!› 
Sie hat doch Recht. Nicht aufgeben. 

„ELOÏSE!!» 
Okay, jetzt schreit sie. Das ist neu.
Ich zwinge meine Hand dazu, den Schlüssel, welcher im Zündschloss steckt, umzudrehen und den Hebel runterzudrücken. Gestresst und vor allem wütend stürmt meine Managerin herein, ein kleines, schwarzes Gerät in ihrem Ohr und einen Stapel Blätter in der Hand.
Einen Moment lang sagt sie nichts, dann atmet sie langsam aus. 
„Zehn Minuten. Du bist Nummer vier, zumindest steht das hier, oder… warte…. Ist das eine eins?», verwirrt kneift sie die Augen zusammen. „eine vier», sagt sie schliesslich, „hab ich’s doch gewusst» 
Erwartungsvoll starrt sie mich an, ich starre zurück. „Was?», sage ich schliesslich, nachdem ich verstehe, dass sie auf meine Zustimmung wartet. „Der Schönheitswettbewerb? In zehn Minuten bist du dran.» 
Jetzt kommt es langsam wieder zurück. Den Wettbewerb, meine Teilnahme, die Jury. Zehn Minuten. Noch zehn Minuten lang Freiheit. 

„NUMMER DREI? WO IST NUMMER DREI?»
Es herrscht Chaos in der Halle, überall sind Menschen, kleine, grosse, elegante, harte, so verschieden, doch sie alle haben etwas gemeinsam. 
Sie sind hier um zu gewinnen. 
Und sie werden alles dafür tun. 
Ich bin umzingelt von Menschen, doch ich fühle mich so allein. Klar, ich sehe aus wie sie, doch können sie meine zitternden Hände sehen? Meinen verschwitzten Nacken? Meine tiefen Augenringe? 

Sehen sie mich in diesem Mädchen mehr als ich mich selbst sehe? 
„Hier», eine tiefe, ruhige Stimme antwortet dem gestressten Angestellten. 
Ich sehe nur seinen Rücken und schwarze Haare, weich und chaotisch, nicht sorgfältig zurückgekämmt wie bei den restlichen Kandidaten. Der Angestellte schaut hoch, doch ist kein bisschen erleichtert. „Ich weiss was sie denken. Und sie haben recht. Ich bin unvorbereitet. Wissen sie warum? Ich steige aus. Für immer.» Ich starre noch immer, als sich der Junge umdreht, höre ich nicht auf, denn: Er ist ungeschminkt. 

Dunkle Augenringe sind unter seinen Augen sichtbar. Er hat einen grossen roten Fleck unter seinem Kinn und einige grosse Poren. Seine Nase ist symmetrisch und elegant, dafür hat er dünne Lippen und bleiche Haut wie meine. Seine braunen Augen schauen selbstbewusst im Raum herum, als ob er wüsste, wie beeindruckt die Kandidaten und Kandidatinnen sind. Als seine Augen meine finden, er mich angrinst, wobei einer seiner schiefen und spitzen Eckzähne in Sicht kommen, fange ich an zu weinen. Ich kann es nicht mehr unterdrücken, die Tränen strömen meine Wangen hinunter und meine Sicht wird unklar. Ich weine, immer weiter, bis ich einen Umriss auf mich zulaufen sehe. Meine Managerin? Habe ich mein Make-up verschmiert? 

Was für eine dumme Frage. Natürlich hab ich mein Make-up verschmiert. Ich weine ja immer noch. Ich schliesse meine Augen und atme ganz ruhig ein und aus. Ich höre auf einmal eine Stimme, und ich nehme sie gar nicht war, bis ich checke, das sie mich anspricht und zum zweiten mal sagt: „Alles in Ordnung?» Ich blicke auf, blinzle die Tränen weg. Vor mir steht niemand anderes als der Junge von vorhin. Er lächelt mich an. Wieder betrachte ich seine Eckzähne. Ich mag sie. Sie verleihen ihm Charakter. „J-ja», stammle ich. Er bringt seine Lippen zu meinem Ohr. „Willst du hier raus?», fragt er mich. Ich schaue ihn an. Lächle. Nicke. Sage: „Eine Sekunde“ und eile zu meinem Zimmer, da ich noch eine Sache tun muss. Ich nehme einen Make-up Entferner von meinem Tisch und reinige damit mein Gesicht. Ich schaue in den Spiegel. 
Ja. 
Da bin ich wieder. 
Ich habe mich endlich gefunden. 
Ich renne zurück. Finde den Jungen verwirrt in der Mitte der Halle stehen. Sobald wir weg von hier sind, erkläre ich ihm alles. 
Alles. 
Ich nehme seine Hand, schaue ihm in die Augen. „Ich bin bereit.», sage ich ihm. Lächle. Er lächelt zurück. Drückt meine Hand sanft. Ich murmle ihm ein „danke» zu. Er sieht mich an. Fragt, „für was?» 
„ich habe keine Ahnung», lache ich. Er lacht mit. 
Und wir rennen los.

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