"Eine Rückbesinnung" – eine Geschichte von Pascal Bartholet - Young Circle

«Eine Rückbesinnung» – eine Geschichte von Pascal Bartholet

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«Eine Rückbesinnung» – eine Geschichte von Pascal Bartholet

Nun wusste ich was ich ändern muss, es bedarf nur einer Rückbesinnung, auf mein altes Ich, denn wenn die Poesie heilen und verstärken kann, ist sie auch im Stande Vergessenes wieder hervor zu bringen.

Beep… Der lange schrille Ton stellt ab, Stille hält Einzug. Das Gerufe und Gerenne stoppt und alle schauen auf den leblosen Körper in der Mitte des Raumes.

„Wir haben ihn verloren.“, teilte mir eine Assistentin mit.

„Danke.“, erwiederte ich.

„Das Herz schlug nach dem Abschalten der Herz-Lungen-Maschine nicht wieder an.“, erklärte sie mir, als ob ich es selbst nicht schon wusste.

Ich verlasse den OP-Saal und reisse mir meinen blutverschmierten Kittel vom Leib. Unverständlich finde ich es, wie so etwas passieren konnte. Wir führten eine offene Herz-OP durch, bei der man mit einer Kalium Lösung das Herz zum stillstehen bringt und zugleich kühlt. So kann man am eröffneten, blutentleerten, stillstehenden Herzen operieren und um den Herz-Stillstand zu überbrücken kommt eine Herz-Lungen-Maschine zum Einsatz. Natürlich ist dies eine sehr komplizierte Operation, aber dennoch habe ich sie schon etliche Male durchgeführt.

Ich wollte raus aus dem Glasgow Royal Hospital und lief deshalb um die Ecke zum Alexandra Park, auf der Suche nach… Ja nach was denn?

Die eine Parkbank beim Saracen Fountain, direkt am Ufer des kleinen Teiches, sah einladend aus und ich setzte mich. Den Kaffee stellte ich neben mir auf die Parkbank und ich grübelte nach meinen Zigaretten, welche ich auch fand, doch zu meinem Bedauern kein Feuerzeug.

So fragte ich einen älteren Herrn, der gerade auf der Parkbank neben der meinen sass, nach Feuer.

Er sah so aus als könnte er mir behilflich sein, denn er nahm gerade einen langen Zug aus seiner überdimensional grossen Pfeiffe.

„Entschuldigen Sie Sir, hätten Sie vielleicht ein Feuerzeug für meine Zigarette?“

Er drehte sich um und sah mir direkt in die Augen, sein Blick war voller Sorge und Trauer, als ob er gerade seinem Sohn erklären müsse, dass Opa nicht mehr unter ihnen weilt.

„Aber selbstverständlich, hier.“

„Danke, Sir.“

Das Feuer sprang auf meine Zigarette über, ich zog und der Rauch verteilte sich in meiner Lunge. Es prickelte leicht, dann atmete ich ihn wieder aus. Wie wohl dies tat.

„Aber geht es ihnen gut, junger Mann?“, fragte der Alte plötzlich.

„Jaja, alles gut.“

„Vielleicht zu gut? Sie sehen aus wie ein verlassenes Dorf, wie wenn nur noch ihr Körper hier anwesend wäre, als seien Sie innerlich leer.“

„Nein, um mich müssen Sie sich wirrklich keine Gedanken machen, alles gut.“

„Na schön, ich möchte nur sagen, egal was es ist, es werden wieder bessere Zeiten folgen. Gefühle sind nur eine Momentaufnahme.“

Danach stand er auf, verabschiedete sich mit einem Griff an die Mütze und verschwand.

Ich begann nach zu denken über die Worte des alten Mannes. Er sah aus, als hätte er schon vieles gesehen und weiss aus eigener Erfahrung wie Menschen ticken. Mir wurde klar, dass er nicht unrecht hat, dieser mysteriöse, liebenswürdige, alte Mann. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag und mir wurde bewusst, was mein Problem war. Ich bin abgestumpft, lasse nichts und niemanden an mich ran, ich bin gefühlslos. Denn wo sind sie, meine Gefühle, nach dem ein Mann direkt vor meinen Augen gestorben ist? Wo sind sie, als meine Frau mir gesagt hatte, dass sie mich verlässt?

Es fühlt sich an, als würde ich in einer Blase leben, durch welche nichts dringen kann. In dieser Blase herrscht ein Vakuum, nein, nicht die Luft wurde heraus gesogen, sondern die Gefühle. Und was sind wir ohne Gefühle, sicherlich keine Menschen. Ich verfiel der Tagträumerei.

Ich sehe es genau vor mir, als wäre es gestern passiert, wie ich, zusammen mit meiner ersten Freundin, vor ihrer Haustüre standen bevor sie mich ihren Eltern vorstellte.

„Bist du bereit?“, fragte Sie.

„Natürlich nicht, ich könnte mich übergeben und weiss nicht einmal ob ich lachen oder weinen sollte. Können wir doch wieder umdrehen und sie ein Andermal kennenlernen?“

„Du bist manchmal solch ein kleines Kind, jetzt stell dich nicht so an!“

In diesem Moment hörte ich Schritte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, denn ich war schwer verliebt in dieses Mädchen neben mir. Genau deshalb hatte ich auch solche Angst, denn was wenn ihre Eltern mich nicht ausstehen können? Ich möchte Sie nicht verlieren. Mein Herz schlug immer schneller, aus Liebe und Angst. Mein Hände wurden schwitzig und ich begann zu zittern. Da hörte ich das Schloss drehen und sah, dass die Türfalle behutsam runter gedrückt wurde. Ich ging einen Schritt zurück und nahm die Hand meiner Freundin. So stand ich vor ihren Eltern, zitternd, versteckt hinter ihren langen Haaren und voll von Gefühlen.

Solche gefühlvollen Momente hatte ich früher sehr oft. Bei meinem ersten Kuss kamen so ziemlich alle Gefühle zusammen, die es gibt. Dann der Stolz nach meinem bestandenen Eignungstest und die Vorfreude auf das bevorstehende Medizinstudium. Die Glücksgefühle, als mein kleiner Bruder zur Welt kam und noch so viele mehr. Ich war wirrklich ein Mensch der mit dem Herz fühlte und auch dachte, nicht mit dem Kopf.

Plötzlich viel mir ein, dass ich, in meiner Jugend, meine intensivsten Gefühle in Gedichten aufgeschrieben habe und Sie dabei noch mehr spürte. Ich schrieb auch oft Liebesgedichte für meine damalige „grosse Liebe“. Manche Menschen mögen es als sinnlos empfinden, aber die Poesie ist ein wahrliches Wundermittel, sie heilt jede noch so tiefe Wunde und verstärkt jedes noch so intensive Gefühl. Ich liebe die Poesie, nur geriet sie, bei mir, in den letzten Jahren in Vergessenheit.

Nun wusste ich was ich ändern muss, es bedarf nur einer Rückbesinnung, auf mein altes Ich, denn wenn die Poesie heilen und verstärken kann, ist sie auch im Stande Vergessenes wieder hervor zu bringen. Ich kramte in meiner Jackentasche, fand einen Stift und schliesslich auch mein kleines Notizbüchlein. „Ich habe seit Jahren nichts mehr geschrieben, ich weiss nicht ob ich es überhaupt noch kann!“, dachte ich mir. Trotzdem nahm ich den Deckel meines Stiftes ab und begann zu schreiben.

Hier und heute zu dieser Stunde,
verkünde ich die Heilung meiner Wunde.
Adieu ihr grauen Tage,
ich sehe wieder Farbe, keine Frage.
Er mag wieder kommen der Regen,
doch dies ist weder Fluch noch Segen,
das Einzige was ich will ist leben.

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