Oder doch nur ein Traum?
Ich räkelte mich hin und her. In meinem Zimmer war es viel zu heiss, die Luft war dick. Durch die geschlossene Tür nahm ich aufgebrachte Stimmen wahr. Es waren meine Eltern, die sich wie so oft stritten und dabei kaum auf ihre Lautstärke achteten. Das ging nun schon seit Monaten so. Abends, wenn sie dachten, ich wäre schon eingeschlafen, warfen sie sich Beleidigungen an den Kopf und sahen nur die Fehler des Anderen. Ich hatte das alles so satt. Seufzend schlüpfte ich aus meinem Bett. Ich lief ans Fenster und tastete nach dem Vorhang, um ihn beiseitezuschieben. Der Schein des Mondes tauchte den Raum in schwaches Licht und gab mir eine seltsame innere Ruhe. Als ich das Fenster öffnete, wehte mir ein nächtlicher Wind die Haare aus der Stirn. Ich lehnte mich nach draussen und starrte auf die Dachziegel unter mir, während ich mich fragte, ob sie mein Gewicht aushalten würden. Die Wohnung, in der ich lebte, war die oberste eines mehrstöckigen Stadthauses, doch von meinem Zimmer aus sah man nicht viel. Auf einmal verspürte ich Neugier, die Grossstadt von oben zu sehen. Mit einem Kribbeln im Bauch lehnte ich mich noch weiter vor und sah nach links und nach rechts. Wenige Meter zu meiner Rechten thronte ein Kamin, an dem ich mich festhalten könnte. Doch dann zögerte ich. Ich war noch nie auf ein Hausdach geklettert. Und ich war auch kein Kind mehr, dessen Gewicht es wahrscheinlich noch ausgehalten hätte. Was, wenn mich jemand entdeckte? Doch es war lange nach Mitternacht, meine Nachbarn waren wohl kaum noch wach. Die Stimmen meiner Eltern wurden lauter. Was soll’s, dachte ich, und gab mir einen Ruck. Mit beiden Händen hielt ich mich am Fensterbrett fest, während ich auf meinen Bürostuhl stieg und nach draussen kletterte. Vorsichtig machte ich einen ersten Schritt nach vorne und stützte mich am Kamin ab. Von hier aus sah ich gerade einmal auf die gegenüberliegende Hauswand. Ich musste höher klettern, um die Stadt sehen zu können. Mein Herz klopfte, als ich bedächtig einen Fuss vor den anderen setzte. Es war kalt hier oben und der Mond spendete nur spärliches Licht. Was tat ich hier nur, dachte ich, während meine Hände den nächsten Kamin erreichten. Es waren noch etwa fünf Meter, bis zum höchsten Punkt des Daches. Etwas Verbotenes zu tun, fühlte sich erstaunlich gut an. Aufgeregt beschleunigte ich mein Tempo, ich konnte es nun kaum erwarten, die Lichter der nächtlichen Grossstadt zu betrachten. Als ich zum letzten Tritt ansetzte, hörte ich das Hupen eines Autos in der Ferne. Ich verlor die Kontrolle und rutschte aus. Ich spürte, wie meine Füsse keinen Halt auf den Ziegeln fanden. Mein Herz hörte auf zu schlagen, doch im letzten Augenblick packte mich jemand an den Oberarmen. Ich weiss nicht, was mich mehr erschreckte: Die Tatsache, dass ich vielleicht gerade von einem mehrstöckigen Haus heruntergefallen wäre, oder dass ich mich anscheinend nicht allein auf dem Hausdach befand. Zitternd hob ich meinen Blick und schaute einem Jugendlichen in meinem Alter ins Gesicht. Dunkle Haarsträhnen fielen ihm vor die Augen, mit denen er mich musterte. «Du solltest vorsichtig sein», sagte er nur. Fieberhaft überlegte ich, ob ich den Jungen schon einmal gesehen hatte. Doch ich kannte ihn nicht. Er musste wohl neu zugezogen sein. «Ist dir nicht kalt?», fragte er und hielt mich noch immer fest. Ich schüttelte den Kopf. Er selbst trug einen dunkelgrünen Wollschal und eine warme Jacke. «Wie heisst du?» Endlich fand ich meine Stimme wieder und antwortete: «Amelia.» Mit weichen Knien setzte ich mich. Staunend liess ich meinen Blick über die Stadt schweifen. Unzählige Lichter in den verschiedensten Farben blinkten auf und Geräusche von einer Party, die ein paar Blocks weiter stattfand, konnte ich gedämpft wahrnehmen. Der Junge tat es mir gleich und wir sahen schweigend in die Ferne, während ich mich von meinem Schock erholte. In meinem Kopf entstanden tausende Fragen, die ich dem mysteriösen Jungen neben mir stellen wollte, doch ich blieb still. «Sieh nur», sagte er auf einmal und deutete in den Nachthimmel. Unzählige Sterne sprenkelten den schwarzen Hintergrund. «Das ist Orion», sagte der Junge und betrachtete das Sternbild. «Danke», sagte ich auf einmal und warf ihm einen Seitenblick zu. «Wofür?», fragte er und schaute zurück. «Dass du mich vor dem Absturz gerettet hast. Wer bist du eigentlich?» Er lächelte, aber antwortete nicht. Stattdessen zeigte er auf eine Reihe Sternschnuppen, die sich über den Himmel zogen. «Schon komisch», sagte er, «Die Erde und unsere Probleme sind riesig. Doch vom Universum aus gesehen, sind wir ein kleiner Planet im Nichts.» Ich dachte darüber nach, doch ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Stattdessen begann ich, ihm von meinen Eltern zu erzählen. Davon, dass sie dachten, ich wüsste von nichts und dass sie sich eigentlich schon lange hätten trennen sollen. «Sie haben keine Zeit mehr für mich. Und tagsüber bin ich oft nicht mehr so gesprächig, wie früher. Mein Zuhause fühlt sich nicht mehr wie ein Zuhause an, wenn du weisst, was ich meine.» Der Junge neben mir nickte und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, fasste er nach meiner Hand und verflocht sie mit seiner. Schliesslich wusste ich nicht mehr, wie lange ich mit dem fremden Jungen auf dem Dach sass und redete. Doch es tat gut, dass mir endlich einmal jemand zuhörte und mich verstand. Als der erste rosa Streifen am Horizont den Morgen andeutete, merkte ich nicht, wie der seltsame Junge verschwand. Erst, als die Sonne vollständig aufgegangen war, sah ich, dass er etwas dagelassen hatte. Es war sein dunkelgrüner Wollschal.
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