"Metropolenstille" - eine Geschichte von Minna Eugster - Young Circle

«Metropolenstille» – eine Geschichte von Minna Eugster

Member Stories 2022

«Metropolenstille» – eine Geschichte von Minna Eugster

Ich weiß, dass sie mein Haus beobachten, seit ich diesen Artikel geschrieben habe, vielleicht sogar schon früher. Vielleicht seit ich angefangen habe, Fragen zu stellen, die ich nicht stellen sollte. 

Der fast weiße Rauch schlängelt sich in den Nachthimmel hinauf.

Die Sterne sind verschleiert, teils wegen der Wolken, teils wegen des Smogs, den die pulsierende Stadt um mich herum aus ihren vielen Poren absondert.

Die Fenster des gegenüberliegenden Blocks sind aneinandergereiht wie die weißen Perlen, die meine Mutter zu tragen pflegte, als sie noch lebte. Ich empfinde sie aber als zu verdorben und zu schade für ein solches Bild. Ich wünschte, ich hätte es nie getan. Wahrhaftig, ich bereue es.

Sie sitzt neben mir und reibt ihre nikotinvergilbten Fingerspitzen aneinander, um die Druckerschwärze, welche sich beim Arbeiten auf ihren Händen akkumuliert, wegzubekommen. Ihr Haar schimmert  in einem der aufdringlich hellen Neonlichter von den Straßen unten.

Das macht mich traurig.

«Komm, wir sollten gehen.»

sagt sie und löscht ihre Zigarette im Aschenbecher, den ich vor Jahren aufs Dach gebracht hatte. Sie steht auf und streckt sich, ich erhebe mich ebenfalls. Ich halte inne und beobachte sie, während sie in die Ferne starrt, wo die Skyline stark mit der Unschärfe und Dunkelheit der Nacht verschmilzt. Sie dreht sich um und geht mit großen aber vorsichtigen Schritten auf die Feuerleiter zu. Ich folge ihrem Beispiel, halte aber kurz inne und bewundere ihr Haar. Es ist viel dunkler als meines, aber es hat einen gewissen Glanz, den meines nicht besitzt. Wir steigen vorsichtig die Leiter hinunter, bis wir das offene Fenster meines Schlafzimmers erreichen. Das Mondlicht malt silberne Streifen auf den Boden und die weißen Laken, die mein Bett bedecken, welche aber wie immer unberührt, unbewegt, unbefleckt bleiben.

Ich schlafe hier nicht. 

Sie geht unbeeindruckt an meinem Bett vorbei und öffnet die Tür, so dass warmes Licht vom Flur hereinfällt. Ich greife nach der Tasche am Ende meines Bettes, bevor ich aus dem Zimmer trete und die Tür hinter mir schließe. Sie lächelt schwach bei meinem Anblick, und ich spiegele sie. Während ich sicherstelle, dass alle Fenster fest verschlossen sind, wartet sie an der Wohnungstür. Alle sind zu, sogar das in der Küche, welches ich so leicht vergesse, weil ich mich daran gewöhnt habe, dass es immer offen ist. Als ich in den Flur zurückkehre, schnappe ich mir einen Schal vom Kleiderständer und gehe an ihr vorbei, hinaus in das kühle Treppenhaus. Nachdem auch sie draußen ist, schließe ich die Tür ab. 

Mir ist schmerzlich bewusst, dass wir heute Abend nur ein paar wenige Worte gewechselt haben, aber ich kann mich nicht dazu zwingen, noch mehr über meine Lippen kommen zu lassen.

Sie weiß erst jetzt Bescheid, obwohl wir seit Jahren für die gleiche Zeitung arbeiten.     

Wir steigen die neun Stockwerke hinunter, bis wir das schwach beleuchtete Erdgeschoss erreichen. Es riecht wie immer nach billigem Desinfektionsmittel und irgendeiner Art von Pisse, und dieser schreckliche Geruch weicht keinem Putzmittel. 

Es fühlt sich an, als würde die kalte Luft mein Gesicht zerschneiden, so rau ist sie, als wir das Gebäude verlassen.

Es scheint meine stille Begleiterin aber nicht zu stören, obwohl die Kälte ihr Gesicht aggressiv rot gefärbt hat. 

Wir gehen auf dem Bürgersteig unter nackten Bäumen und neben leblosen Gebäuden, die ihre unansehnlichen Betonglieder zu weit in den Himmel strecken, um schön zu sein. Die Stille ist beängstigend, eine Stille, wie sie nur gescheiterte Städte/Metropolen hervorbringen können – wenn die Geräusche der Maschinen ineinander übergehen und kein Tier oder Mensch zu hören ist.

Es dauert nur Sekunden, dann beginnt das Bellen, das Schreien und das Johlen wieder, und Flaschen werden auf dem Asphalt zerschlagen. Erleichterung. Ich muss meine Gedanken nicht mehr ertragen. Wir gehen am grünen Zaun entlang, der den Park mit seinen heruntergekommenen Bänken umschließt, aber wir wagen es nicht, durch das Tor zu gehen, nicht einmal für eine Abkürzung. Ohne ein Wort zu sagen, bietet sie mir eine Zigarette an, und ich nicke nur, bevor ich meine Hand nach der Packung ausstrecke. Ich hole mein Feuerzeug heraus. Sie bleibt stehen und ich zünde ihre Zigarette an – eine gut eingeübte, makellose Routine. Das Feuer beleuchtet ihr Gesicht auf eine unheimliche, fast beängstigende Weise. Aber dieses Bild verschwindet, sobald der erste Funke im Tabak glimmt. Ich zünde meine auch an, bevor ich weitergehe. Das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Boden kehrt zurück, und im Augenwinkel kann ich schwache Rauchfäden erkennen, die in der Nacht verschwinden. Das flackernde Neonschild der U-Bahn leuchtet schwach und rot, und wir überqueren die Straße, um die Treppe zu erreichen. 

Es war dumm von mir, heute meine Wohnung aufzusuchen, und noch dümmer, dies in der Nacht zu tun, wo es leichter ist, mich ohne Zeugen zu töten. 

Ich weiß, dass sie mein Haus beobachten, seit ich diesen Artikel geschrieben habe, vielleicht sogar schon früher. Vielleicht seit ich angefangen habe, Fragen zu stellen, die ich nicht stellen sollte. 

Sie weiß es jetzt.

Sie weiß, warum ich mein Handy in den trüben, braunen Fluss geworfen habe, sie weiß, warum ich jede Nacht woanders schlafe, warum mein Gesicht überall in den Nachrichten zu sehen ist, warum man mich beschuldigt, diese Menschen ermordet zu haben, wieso ich die Stadt unbedingt verlassen muss. 

Wir bleiben kurz unter dem flackernden Neonschild stehen, um fertig zu rauchen, dann lassen wir unsere Stummel fallen und treten das letzte Glimmen aus.

Zerbrochenes Glas knirscht unter unseren Füßen, als wir die U-Bahn Station betreten, wo uns eine überraschend leere Station erwartet. Wieder diese nervtötende Stille, wieder dieses Unbehagen.

Ich glaube, ich weiß was folgt, sobald wir die schmutzige Treppe hinuntersteigen.

Ich drehe mich zu ihr um, um sie zu warnen, aber es ist zu spät. Mehrere Kugeln fetzen durch sie hindurch, sie sackt zu Boden und bleibt in einem seltsamen Winkel auf der Treppe liegen.

Ich weiss nun, warum dieser Bahnhof scheinbar verlassen ist, ich weiss es, sobald ich ihre Uniformen und ihre Waffen sehe. Es war geplant, sie haben gewartet.

Ich atme einmal tief durch, aber mein Atem wird unterbrochen, als sich ein Schuss löst, Schmerz mich durchflutet und der Bahnhof verblasst.

Wieder einmal haben sie gesiegt. Wieder einmal lebt die Öffentlichkeit ahnungslos und weiß nichts von den schmutzigen Geheimnissen, die sie umgeben.

Und ich sehe meine Mutter wieder.

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