"Eine Brise neues Leben" – eine Geschichte von Noa Füglister - Young Circle

«Eine Brise neues Leben» – eine Geschichte von Noa Füglister

Member Stories 2022

«Eine Brise neues Leben» – eine Geschichte von Noa Füglister

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, kuschle ich mich in meine Jacke. Während ich dem Wellenrauschen zuhöre, gleite ich in einen tiefen, entspannten Schlaf…

Ich schliesse meine Augen und atme die Meeresluft ein. Ich konzentriere mich auf den noch warmen Sand unter meinen nackten Füssen. Der leichte Wind weht mir meine langen hennafarbenen Haare aus dem Gesicht. Die Ostsee. Ich öffne meine Augen wieder, gehe ein paar Meter dem Strand entlang und setze mich in einen blau-weissen Strandkorb unweit vom Wasser. Zurückgelehnt beobachte ich die untergehende Sonne, die den Himmel knallrot erleuchten lässt, bis sie langsam am Horizont verschwindet.

Ich habe lange auf diesen Moment gewartet, sehr lange! Endlich mal raus aus der Schweiz, weg von der Familie, der Schule, den Mitschülern, dem ganzen Stress und allen Problemen.

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, kuschle ich mich in meine Jacke. Während ich dem Wellenrauschen zuhöre, gleite ich in einen tiefen, entspannten Schlaf…

Ich schrecke hoch. Wo bin ich? Verdutzt sehe ich mich um. Ich befinde mich nicht mehr im Strandkorb, sondern in einem Wohnzimmer!

 «Hallo?», rufe ich in die Stille. Keine Antwort. Vorsichtig gehe ich durch die kleine, schöne Wohnung. Keiner da. In dem Moment als ich zur Wohnungstür gehen will, geht sie auf. Ich erschrecke. Ein etwa gleichaltriger, dunkelblonder Junge in einem weissen Hoodie und dunklen Jeans betritt die Wohnung. «Hey, bist´schon wach?!», stellt er mit freundlicher Stimme fest. «Ja», antworte ich etwas verwundert. «Wer bist du? Wo bin ich?» Der Junge lächelt: «Ich bin Emilio. Aber alle nennen mich Emil. Und das ist meine Wohnung.» Er deutet im Raum umher. «Hab dich gestern Abend frierend in meinem Strandkorb gefunden.» «Spinnst du? Du kannst mich doch nicht einfach zu dir in die Wohnung schleppen! Hättest mich ja wecken können!», kontere ich. «Ich wollte dich nicht wecken. Du hast so friedlich und fest geschlafen. Aber es war wahnsinnig kalt… Deine Jacke hätte dir nicht gereicht. Da dachte ich, eine Wohnung…», er bricht ab und muss schmunzeln, als er meinen wütenden Blick bemerkt. Na toll, jetzt nimmt er mich nicht mal ernst. «Du spinnst doch! Du hast definitiv die komischsten Argumente, ein wildfremdes Mädchen einfach so in deine Wohnung zu entführen. Aber wirklich warm war es in deinem Strandkorb schon nicht», sage ich schliesslich und versuche sein Lächeln nicht zu erwidern. Was mir nicht gelingt. Ich war noch nie in einer so komischen Situation. Irgendwie kommt mir alles sehr surreal und gespenstig vor. Gleichzeitig glaube ich auch, dass er wirklich keine bösen Absichten hat.

«Also dann», sage ich, um die Stille zu brechen. Ich drücke mich an ihm vorbei zur Tür. Ich habe die Hand schon auf der Türklinke. «Warte doch mal!» Ich drehe mich zu ihm um. «Willst´ schon gehen?», fragt er mich. Ich nicke. «Wenn du mal wieder etwas Wärmeres als meinen Strandkorb brauchst, komm einfach vorbei.» Sagt er lächelnd. «Wie heisst du eigentlich?», fällt es ihm noch ein. Ich lächle zurück und antworte: «Mia», bevor ich die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.

Nach einem schönen Tag in Sassnitz finde ich mich am Abend tatsächlich wieder im Strandkorb. Von Emil. Als mir das bewusst wird, muss ich schmunzeln. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, warum er das gemacht haben könnte. Kam aber irgendwie nie auf eine ernsthafte Idee. Nachdem die Sonne untergegangen ist, stehe ich auf und gehe zu Emils Wohnungstür. Ich klingle. Er öffnet. «Hey» begrüsst er mich erfreut.

Fünf Minuten später sitzen wir zusammen auf dem grauen Stoffsofa im Wohnzimmer und erzählen einander Geschichten. «Warum bist du eigentlich auf Rügen?», fragt er mich nach einer Weile. Ohne zu zweifeln ob ich ihm das anvertrauen kann, beginne ich ihm zu erzählen. Von der Schule, meinem Umfeld und schliesslich auch von meiner Familie… «Vor ein paar Tagen hielt ich es zu Hause nicht mehr aus. Ich kramte all mein Gespartes zusammen, liess einen Zettel auf dem Küchentisch zurück…» «Was hast du da geschrieben?», unterbricht er mich. Ich hole die Kopie des Briefes aus meiner Hosentasche und gebe sie ihm. Darauf habe ich geschrieben, dass ich etwas Abstand brauche von allem und mir mein Wunsch der Ostsee erfüllen möchte. Bitte sorgt euch nicht! Ich komm wieder, wann weiss ich noch nicht, aber ich komm zurück, versprochen! Zuletzt unterschrieb ich mit «Eure Mia». «Dann kaufte ich ein Ticket und ging einfach los, wohin genau wusste ich nicht. Mein Herz führte mich bis nach Rügen.» Ich muss lächeln. «Meine Rügenreise begann auf Bergen, führte mich nach Binz und Lietzow bis hier hin, nach Sassnitz.»

Nachdem ich fertig erzählt habe, atme ich tief durch. Ich habe noch nie jemandem meine Geschichte erzählt. «Danke!», flüstert er. «Danke, dass du mir das alles erzählt hast! Ich kann dich so gut verstehen. Ich hatte mal ne ganz ähnliche Phase.» Das löst irgendetwas in mir aus. Irgendeine Wärme, die mir zeigt, dass ich nicht allein bin, auch wenn sich das in den letzten Monaten so angefühlt hat. Es gibt Menschen, die mich verstehen! Das Gefühl ist unbeschreiblich. Plötzlich laufen mir Tränen die Wangen runter. Warum weiss ich nicht wirklich. Es passiert einfach. Ohne zu zögern, rutscht Emil zu mir rüber und nimmt mich in die Arme. Ich erwidere die Umarmung. Plötzlich liege ich weinend in seinen Armen und vergrabe mein Gesicht in seinem Hoodie. Er fragt nichts, ist einfach für mich da.

Es fühlt sich vertraut an, wie ein langjähriger bester Freund, obwohl wir uns nicht einmal 24h kennen.

Nachdem ich mich etwas beruhigt habe, beginnt er mir seine Geschichte zu erzählen, wie es ihm damals erging und was er dagegen gemacht hatte: «Irgendwann entdeckte ich das Theaterspielen, was mir sehr gut gefällt. Es hat mir auch geholfen aus meiner depressiven Zeit zu kommen. Sobald ich merkte, dass ich es nicht mehr aushielt, bin ich in eine andere Rolle geschlüpft. Das hat mir sehr geholfen. Theater spiele ich bis heute.»

Die Zeit verging wie im Flug. Mehrere Tage wohnte ich quasi bei Emil.

Vor ein paar Tagen habe ich ihn an eine Theateraufführung in Berlin begleitet. Nach zwei gemeinsamen Tagen dort, bin ich mit neuem Mut zurück nach Hause gefahren.

Vier Wochen später erhalte ich eine SMS: «Bin im Zug. Bis bald, Emil.»

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