Vorwort:
Du bist kein «vielleicht». Kein «eventuell». Kein «mal sehen». Du bist ein «ja». Du bist «100%».
Kapitel 1
Wilton High School, Connecticut, 2022
Ich schaffte es pünktlich zur Schule, wenn auch gerade so. Ich quetschte mich zwischen schwitzenden Körpern durch und bereute es in dem Moment zur Schule gekommen zu sein, als ich mein Schliessfach eingekleistert mit bereits konsumierten Kaugummis vorfand. Angewidert und beschämt wendete ich den Blick vor dem sich mir abspielende pinke Spektakel aus klebriger, halbeingetrockneten Zuckermasse ab. Es hat nichts damit zu tun, dass ich mich für etwas Besseres halte. Es gibt nur einfach Orte, wo es nicht reicht, ich selbst zu sein. Wo keine Version von mir reicht. Ich war gerade dabei, meinen Schliessfachschlüssel aus meinem Rucksack zu ziehen, als ich ins Rektorat gerufen wurde. Dabei sollten Mädchen wie ich unsichtbar sein. Wir wurden nicht zu Gesprächen mit der Schulleitung zitiert. Wir machten genau so viel Ärger, wie wir uns leisten konnten, was in meinem Fall bedeutet: gar keinen.
«Alexis.» Direktor Diggels verzog die Lippen zu einem abschätzigen Lächeln.
«Nimm Platz.»
Ich nahm Platz.
Er verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch zwischen uns. «Ich nehme an, du weisst, warum du hier bist.» Falls es hier gerade nicht um die wöchentliche Schachpartien ging, die ich auf dem Schülerparkplatz veranstaltete, um Rons Frühstücksmahlzeiten zu finanzieren – und manchmal auch meine – , hatte ich keine Ahnung, was ich wohl getan haben könnte, um die Aufmerksamkeit der Schulleitung auf mich zu ziehen. Ich hatte noch nie das Bedürfnis verspürt, Ron danach zu fragen, warum er obdachlos ist. Ich schätze Ron als Menschen. Bei ihm weiss ich, woran ich bin, weil er mir seine Meinung immer ins Gesicht sagt. Ungeschönt, direkt und ehrlich. Bei ihm muss ich mich nicht verstellen, um akzeptiert oder gar geliebt zu werden. Als Mom damals gestorben war, hielt Ron mich tröstend in den Armen; nicht mein Vater, der irgendwo da draussen mit seiner Abwesenheit glänzte. «Verzeihung», sagte ich, wobei ich mir Mühe gab, hinreichend unterwürfig zu klingen, «aber nein, ich weiss es nicht.»
Direktor Diggels liess mich eine Weile so mit meiner Antwort sitzen, bevor er mir einen Stapel Blätter vorlegte. «Das ist der Mathematiktest, den du gestern geschrieben hast.»
«Okay», sagte ich. Das war nicht die Antwort, auf die er aus war, aber mehr hatte ich nicht zu bieten. Zur Abwechslung hatte ich tatsächlich für den Test gelernt.
«Mr Laynes hat die Klausuren benotet, Alexis. Deine hat als einzige die volle Punktzahl erreicht.»
«Super», sagte ich, wobei ich es bewusst vermied, ein weiteres Okay von mir zu geben.
«Eben nicht super, junge Dame. Mr Laynes konzipiert absichtlich Prüfungsaufgaben, welche die Fähigkeit seiner Schüler herausfordern. In zwanzig Jahren hat er nie die volle Punktzahl vergeben. Siehst du das Problem?»
Ich konnte mir meine instinktive Antwort nicht verkneifen. «Ein Lehrer, der Prüfungen so anlegt, dass die meisten seiner Schüler nicht bestehen können?»
Mr Diggels verengte die Augen zu Schlitzen. «Du bist eine gute Schülerin, Alexis. Ziemlich gut sogar, wenn man die Umstände bedenkt. Aber du bist nicht unbedingt dafür bekannt, Spitzenleistungen abzuliefern.»
Das war nur fair – warum also fühlte es sich an, als hätte er mir in die Magengrube getreten?
«Es ist nicht so, dass ich kein Mitgefühl für deine Situation hätte», fuhr Direktor Diggels fort, «aber du musst diesbezüglich aufrichtig zu mir sein.» Er bohrte seinen Blick in meinen. «Hattest du Kenntnis davon, dass Mr Laynes digitale Kopien seiner Prüfungen in der Cloud speichert?»
Er glaubt, ich hätte geschummelt. Da sass er, starrte mich in Grund und Boden, und doch hatte ich das Gefühl, nie weniger gesehen worden zu sein.
«Ich würde dir gerne helfen, Alexis. Du hast dich ausserordentlich gut geschlagen angesichts des Blatts, das das Leben dir ausgeteilt hat. Ich möchte daher nur ungern etwaige Pläne, die du womöglich für die Zukunft hast, scheitern sehen.»
«Etwaige Pläne, die ich womöglich habe», wiederholte ich. Wenn ich eine andere Hautfarbe gehabt hätte, eine familiär stabilere Lage, dann hätte er sich nicht so benommen, als ob die Zukunft etwas wäre, worüber ich womöglich nachgedacht hatte. «Ich mache nächstes Jahr meinen Abschluss», stiess ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Mein Notenschnitt sollte mir eine Chance auf ein Stipendium an der University of Connecticut eröffnen, die landesweit eines der Spitzenprogramme im Bereich Versicherungsmathematik anbietet.»
Mr Diggels runzelte die Stirn. «Versicherungsmathematik?»
«Statistische Risikobewertung.» Es war das Fach, mit dem ich einem Doppelstudium in Schach und Mathe am nächsten kam. Und abgesehen davon war es jobtechnisch einer der profitabelsten Studiengänge auf dem Planeten.
«Bist du denn Fan kalkulierter Risiken, Alexis?»
So wie Schummeln? Ich konnte mir nicht erlauben, noch wütender zu werden. Also imaginierte ich mich stattdessen beim Schachspielen. Ich legte mir die Züge in meinem Kopf zurecht. Mädchen wie mir war es nicht gestattet, in die Luft zu gehen. «Ich habe nicht geschummelt», sagte ich ruhig. «Ich habe gelernt.»
Ich hatte mir die Zeit dafür zusammengeklaubt – in anderen Unterrichtsstunden, zwischen meinen Jobschichten, spätabends. Da ich wusste, dass Mr Laynes dafür berüchtigt war, unmögliche Klausuren zu machen, hatte es in mir den Wunsch geweckt, möglich neu zu definieren. Zur Abwechslung hatte ich, statt auszuloten, wie knapp ich kalkulieren sollte, sehen wollen, wie weit ich gehen konnte.
Und das bekam ich nun für all die Anstrengung – denn Mädchen wie ich schnitten in unmöglichen Klausuren nicht spitzenmässig ab.
«Ich werde den Test noch mal schreiben.» Ich gab mir grosse Mühe, nicht wütend oder, schlimmer noch, gekränkt zu klingen. «Ich werde dieselbe Note bekommen.»
«Und das würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass Mr Laynes eine neue Klausur vorbereitet hat? Sämtliche Aufgaben neu und jede einzelne so schwierig wie die ersten.»
Ich zögerte nicht mal. «Ich mach’s.»
«Das lässt sich einrichten, morgen in der dritten Stunde also. Aber ich muss dich warnen, dass diese Sache für dich bedeutend besser ausfallen würde, wenn…»
«Jetzt.»
Mr Diggels starrte mich verdutzt an. «Entschuldigung, wie bitte?»
Pfeif auf unterwürfig klingen. Pfeif auf unsichtbar sein. «Ich möchte die Prüfung hier machen, in Ihrem Büro, genau jetzt.»