"Ein Unfall" – Eine Geschichte von Alexa Fregonese - Young Circle

«Ein Unfall» – Eine Geschichte von Alexa Fregonese

Member Stories 2024

«Ein Unfall» – Eine Geschichte von Alexa Fregonese

Theo steht am Grab seiner verstorbenen Schwester Ellie und kämpft mit der Trauer und den Erinnerungen an einen unvergesslichen Verlust. Während seine Eltern ihn drängen, den Friedhof zu verlassen, wird ihm klar, dass die offizielle Version eines Unfalls nicht das ist, was in seinem Herzen brennt – und die Suche nach der Wahrheit über Ellies Tod beginnt erst jetzt.

Geliebt und unvergessen.

Ich starre auf die Inschrift, mit Schnörkeln auf den grauen Stein graviert. Die Worte klingen platt. Trivial. Man hätte sie auf jedes Grab schreiben können. Sie waren nicht auf Ellie angepasst. Für sie spezifisch geschrieben.
Hätte ich entschieden, was darauf stehen sollte, wäre es etwas Persönlicheres gewesen. Vielleicht. Um ehrlich zu sein, war es schwierig, einen Spruch über ihre Liebe für Pflanzen oder ihre Sammelleidenschaft für seltsame Käfer auf den Grabstein zu schreiben. Trotzdem fand ich es zu unpersönlich. Sie hatte mehr verdient.
Der Stein sieht so sauber aus, so glatt, als hätte die Zeit noch keine Spuren hinterlassen. Ein Jahr ist vergangen, aber es fühlt sich an, als sei es erst gestern gewesen. Der Schmerz in meiner Brust ist der gleiche geblieben. Es drückt, tief und schwer, wie ein Felsen, der nicht weichen will.
Der Friedhof ist still, bis auf das Rascheln der Blätter im Wind. Ich sitze da, die Knie an die Brust gezogen, und versuche, den Moment festzuhalten. Den letzten Moment, in dem ich ganz allein bei ihr bin, bevor ich gehen muss.
„Hey, Ellie“, flüstere ich, und meine Stimme bricht fast. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es mir besser geht. Aber das tut es nicht.“
Ich schließe die Augen, sehe ihr Lächeln vor mir, diese leuchtenden Augen, die sie immer hatte, wenn sie einen neuen Käfer entdeckte oder in den Garten rannte, um die Blumen zu gießen. Sie war immer so… lebendig. Und jetzt, jetzt ist sie einfach weg. Ihre Energie, ihre Wärme, alles, was sie ausgemacht hat – in einem Augenblick verschwunden.
Mein Atem geht schwerer. Ich versuche, die Erinnerungen wegzuschieben, aber sie kommen immer wieder. Der Tag, an dem alles passiert ist, spult sich wie ein Film in meinem Kopf ab. Das Lachen, ihren friedlichen Gesichtsausdruck, als sie am oberen Ende der Treppe stand. Und dann…
„Theo?“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um und sehe sie neben meinem Vater stehen, beide in dunklen Mänteln, ihre Gesichter müde und von Trauer gezeichnet.
„Es ist Zeit“, sagt sie leise und tritt näher. Ihr Blick fällt auf den Grabstein, und ich sehe, wie ihre Augen feucht werden.
Mein Vater bleibt stumm, seine Schultern leicht gebeugt, als würde das Gewicht der Welt auf ihm lasten. Ich weiß, dass er genauso leidet, aber er redet nicht darüber. Nie. Seit Ellies Tod ist er noch verschlossener geworden. Wir alle sind es.
Ich wende den Blick wieder ab und streiche über den kalten Stein. Ich will noch nicht gehen. Es fühlt sich falsch an, so, als würde ich sie erneut zurücklassen. Als hätte ich sie schon einmal verloren, und jetzt verliere ich sie wieder. Jedes Mal, wenn wir gehen, wird sie ein wenig weiter von mir entfernt.
„Wir sollten nicht so lange bleiben, es wird dunkel“, sagt mein Vater schließlich. Seine Stimme klingt rau und brüchig, als hätte er lange nicht gesprochen.
Ich nicke, auch wenn ich es hasse, ihm zuzustimmen. Sie haben recht, das weiß ich. Aber tief in mir drin… tief in mir schreit etwas, dass ich nicht bereit bin zu gehen.
Langsam stehe ich auf, und mein Körper fühlt sich schwer an. Die Kälte des Bodens hat meine Beine taub gemacht, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in meinem Inneren fühle.
„Ben, es ist Zeit“, sagt meine Mutter sanft, während sie ihren Arm um meine Schultern legt. Ihre Hand zittert leicht, so wie immer, wenn sie über Ellie spricht. „Es ist schwer, ich weiß, aber wir müssen gehen.“
Ihre Stimme ist weich, aber das Gewicht ihrer Worte drückt auf meine Brust. Wieder dieser Satz. Wie oft habe ich ihn gehört? Von der Polizei, den Ärzten, meinen Eltern. Immer wieder: Es war ein Unfall. Die Worte schwirren in meinem Kopf, sie hallen wider, aber sie erreichen nichts. Sie sind leer.
Ich nicke nur. Was sollte ich auch sagen? Sie hat ja recht. Ein Unfall. Das sagen alle. Aber da ist diese andere Stimme in mir, tief und laut, die nicht aufhören will. Sie flüstert nicht. Nein, sie schreit. Sie brüllt, dass es nicht so war. Dass es niemals ein Unfall war.
Ich atme tief ein, mein Blick wandert zurück zu dem kalten Stein. Ellie hätte das alles gehasst, wie distanziert und unpersönlich es wirkt. Nichts an diesem Ort passt zu ihr, zu dem, was sie war. Aber wie hätte ich das ändern können? Was hätte ich anders tun sollen?
„Es war ein Unfall“, sage ich schließlich, mehr zu mir selbst als zu meinen Eltern. Die Worte rollen von meiner Zunge, schmecken bitter. Ich versuche, daran zu glauben, aber es gelingt mir nicht.
Ich drehe mich langsam zu meinen Eltern um. Sie stehen da, erwarten etwas von mir, irgendetwas, das sie trösten könnte. Aber ich habe nichts mehr zu geben. Es fühlt sich an, als wäre alles in mir leer.
„Ich hatte ja schließlich nicht vorgehabt, sie zu schubsen.“

Hier geht es zu den weiteren Member Stories:

Bewertung