"Ein Stuhl, welcher Menschen zusammen bringt" – eine Geschichte von Anna Schurig - Young Circle

«Ein Stuhl, welcher Menschen zusammen bringt» – eine Geschichte von Anna Schurig

Member Stories 2022

«Ein Stuhl, welcher Menschen zusammen bringt» – eine Geschichte von Anna Schurig

Neben mir schauen alle Leute diesen Stuhl an und unterhalten sich darüber. Ich schaue ebenfalls hoch zu dem Stuhl und höre mir das Stimmenwirrwar an.

Von weit her hörte ich ein lautes Stimmengewirr und plötzlich stand ich mitendrinnen vor einem alten schäbigen Block mit zig Anderen. Die Wände des Blockes waren einmal weiss gewesen, doch mittlerweile nahmen sie einen vergilbten Farbton an. Der Block hatte zehn Stockwerke und jedes Stockwerk hatte einen kleinen Balkon mit einer weissroten Markise, an den Rändern der Markise lösten sich einzelne Fäden aus dem Stoff. Im vierten Stockwerk sass ein älteres Ehepaar auf dem Balkon und tranken ein Gläschen Wein. In den anderen neun Stockwerken herrschte Stille. Doch die Blicke der einzelnen Menschen, welche um mich herumstanden, widmeten sich nicht den Stockwerken und deren Balkone, sondern dem Flachdach des Blockes. Auf dem Flachdach standen zwei Lüftungsschächte, welche auch nicht mehr die neuesten sind und mehrere Schornsteine und da neben dem letzten Schornstein stand ein Stuhl. Genauer gesagt ein gepolsterter Ledersessel. Der Sessel sieht sehr modern aus, er könnte aus der neuen IKEA Kollektion stammen. Er ist braun und hat zwei gepolsterte ebenfalls braune Armlehnen. Die Stuhlbeine sind aus Metall und glitzern im Licht der Abendsonne silbern. Der Ledersessel ist dem Sonnenuntergang ausgerichtet.

Neben mir schauen alle Leute diesen Stuhl an und unterhalten sich darüber. Ich schaue ebenfalls hoch zu dem Stuhl und höre mir das Stimmenwirrwar an. Ein kleiner Junge neben mir spielt mit einem Gartenschuh, welcher eine gute 43 sein könnte und damit definitiv zu gross für den kleinen Jungen ist.

«Der alte Fritz der hat mit seinem Enkel, weisste der, der von der Schule geflogen ist, diesen Stuhl da hochgetragen, weisste noch der Fritz hat doch immer so gerne den Sonnenuntergang angeschaut, wo der eigentlich jetzt ist? Beim Rentner Einkaufstag habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen.» «Gestern da war hier eine so laute Feier auf dem Dach, dass ich gar nicht schlafen konnte und diese furchtbare Musik, welche die heutige Jugend hört, das kann man ja nicht mehr als Musik bezeichnen. Fürchterlich. Ich bin so froh, dass sich hier ein alter Mann beschwert hat, ich habe den noch auf dem Dach rumtoben gesehen, recht hatte er, die heutige Jugend erlaubt sich auch wirklich alles. Die Polizei kam…»

«Weisste doch meine Tanti Lotta, die wohnt hier im zehnten. Ach, die Tanti Lotta, die erzählt mir immer von dem fürchterlichen Schornsteinfeger, der sei immer Stunden auf dem Dach herumgeturnt und immer, wenn sie geschaute hätte ob er noch da ist, da hat er eine geraucht, der hätte das letzte mal diesen Stuhl mit gebracht, damit er nicht immer im stehen eine rauchen müsse, hat er meiner Lotta erzählt, ganz ausser sich war die Arme. Der alte Fritz wollte den Stuhl eigentlich gestern wieder runterholen. Ach, Fritz, den habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.»

«…genau! Die habe ich gemeint, noch nie habe ich sie mit jemanden reden sehen. Immer dieselben Klamotten hat sie an, diesen knappen Jeansrock mit dem schwarzen ausgeleierten T-Shirt und den dicken goldenen Ketten, welche bei jedem Schritt klapperten, deswegen ist sie mir auch aufgefallen, die ist doch immer da hoch geflüchtet, wenn die Polizei kam und sie mal wieder suchte. Ach, ich erinnere mich gerade, das letzte Mal als sie runter lief, lief sie mir direkt in meine Arme, da hörte ich sie nuscheln mit einer rauchigen Stimme, dieser alte Knacker, das geschieht ihm recht.»

«Ich bin mir da ganz sicher, der Fritz ist doch so allein die letzten Jahre gewesen seit Lilian gestorben ist, doch seit sich Mona, aus meinem Strickclub, sich hier ihm Haus herumtreibt, sieht er immer so glücklich beschwingt aus. Das letzte Mal beim Stricken da hat mir Mona erzählt, dass sich Fritz was ganz Besonderes ausgedacht hätte für sie…» Langsam verschwindet die Sonne hinter dem Chasseral und es wird kühler, die Stimmen verklingen nach und nach. Auch ich mache mich mit kreisenden Gedanken und verschiedenen Theorien zu dem Stuhl auf den Weg nach Hause, wenn auch ohne Lösung gehe ich mit einem Lächeln und leichter Nackenstarre nach Hause. Braucht es immer eine Lösung?

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