"Ein kleiner Flug" – eine Geschichte von Sasha Brändle - Young Circle

«Ein kleiner Flug» – eine Geschichte von Sasha Brändle

Member Stories 2023

«Ein kleiner Flug» – eine Geschichte von Sasha Brändle

In den schwindelerregenden Höhen der Stadt träumt der Rabenjunge Jeremiah vom Fliegen. Er und seine beste Freundin Brook hatten monatelang geübt, und heute würde er endlich den riskanten Flug wagen und sein Trauma aus der Vergangenheit überwinden. Mit Herzklopfen stellte er sich der Herausforderung, die Angst zu überwinden und die Freiheit der Lüfte zu erleben.

Jeremiah sass, wie er es so oft tat, auf dem Dach eines der vielen Hochhäuser, welche sich wie Unkraut in seiner Nachbarschaft zum Himmel reckten. Er starrte in die Richtung des Sonnenunterganges, seine Gedanken verloren in der Vorstellung des Fliegens. Gedankenverloren berührte der Junge die schwarzen Federspitzen seines linken Flügels, während er auf seine beste Freundin wartete. Manchmal überlegte er sich, wie es wäre, romantische Gefühle für sie zu haben, aber dann fiel ihm immer ein, dass er nicht der Typ für solche Gefühle war. 

Jeremiah lächelte, als er die bekannten Flügelschläge hörte, welchen ein Geräusch folgte, welches mit dem Fallen einer reifen Frucht von einem Baum verglichen werden konnte. 

«Hey Jer.», sagte Brook. Jeremiah lächelte. Sie war die Einzige, die ihn so nannte. Seine anderen Freunde und Familienmitglieder nannten ihn entweder bei seinem vollen Vornamen oder entschieden sich für Jay. 

Der Junge mit den Rabenflügeln drehte sich um, vorsichtig, damit sich seine Federn nirgends hängen blieben.«Abend.», sagte er, seine Stimme leicht zitternd vor Nervosität. Er wagte nicht daran zu denken, was Brook und er als Nächstes vorhatten. 

Seine Kameradin liess sich neben ihm auf der Mauer nieder, welche die Grenze zwischen Dach und Abgrund bildete. Brook strich sich durch ihre braunen Haare, welche in kurzen Strähnen um ihr Gesicht tanzten. «Bereit?» 

Jeremiah schluckte mit dem Versuch, den Kloss in seinem Hals loszuwerden. Er wollte seinen Kopf schütteln und die ganze Aktion abblasen, aber entschied sich dagegen. 

Er hatte keine Lust mehr, Angst vor dem Fliegen zu haben. Es war nicht einmal das Fliegen selbst, welches ihn zum Zittern brachte, noch war es die grossen Höhen, durch welche seine Freunde sich so gerne gleiten liessen. Nein, er hatte Angst in ein Gebäude zu prallen, wie damals vor bald zwei Jahren. Seitdem flog er nur noch kurze Strecken, tief am Boden, auf offenem Gelände. 

Je kleiner das Risiko war, in ein Hindernis hineinzufliegen, desto entspannter konnte er sein. Brook und Jeremiah hatten in den letzten Monaten viel zusammen geübt, zuerst auf den Feldern abseits der grossen Stadt, in welcher sie beide lebten. Später flogen sie gemeinsam über kleinere Bäume und Hütten, von welchen die meisten seit Jahren leer standen. Vor einem Monat hatte er endlich genug Mut und Selbstvertrauen gehabt, um nahe am Boden durch die Stadt zu flattern. 

Langsam hatte Jeremiah an Höhe gewonnen, langsam hatte er sich daran gewöhnt, etwas schneller zu fliegen. 

Jeremiah war jedes Mal froh gewesen, dass sich das Nest seiner Familie in nicht allzu grosser Höhe befand. Er bevorzugte es, grosse Höhen zu vermeiden.

Nun sassen Brook und er auf dem Dach, welches Jeremiah oft in letzter Zeit aufgesucht hatte. An der Aussenseite gab es, wie bei den meisten Gebäuden, eine Treppe und einen Lift, welche von verletzten oder alten Leuten genutzt werden konnte, falls sie nicht selbst zu ihrem Nest hinauffliegen konnten. Eine andere Sache, für welche Jeremiah dankbar war.

„Was ist, wenn ich dieses Mal wieder in eine Wand fliege?“ Fragte er. Er hatte keine Lust, ein weiteres Mal mit einem gebrochenen Arm und einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus zu landen. Eine Sekunde, in welcher er mit seinen Gedanken woanders gewesen war, abgelenkt von seinen Freunden, und schon war es passiert. 

Brook legte eine ihrer schlanken, kräftigen Hände auf seine Schulter. „Ich bin dabei und wir haben geübt, ich bin davon überzeugt, dass du es schaffen wirst. Aber du musst es natürlich nicht machen, wenn du ein schlechtes Gefühl dabei hast.“ Jeremiah lächelte seine Freundin an, dankbar, dass sie ihn nicht zum Fliegen überreden versuchte. Viele hatten dies schon probiert, aber es hatte seiner Flugangst nicht geholfen, im Gegenteil. Jedes Mal, wenn jemand ihn zum Fliegen gedrängt hatte, war ihm übel geworden und sein Körper hatte so stark gezittert, dass er seine Flügel nicht einmal richtig entfalten konnte. 

Jeremiah fühlte die Nervosität, wie sie in seinen Schultern kribbelte. Er drehte seinen Kopf und sah, dass die Sonne bald hinter dem Horizont verschwinden würde. Er nickte. „Okay, ich werde es versuchen.“ Brook lächelte ihn an und Jeremiah sah, dass die Sonne ihre dunklen Haare in eine rötliche Farbe tauchte. 

Jeremiah erhob sich und begann, seine Flügel zu strecken. Er schüttelte seine Flügelfedern und rollte seine Schultern nach hinten. Schliesslich blickte er Brook an. Seine Kehle fühlte sich sehr trocken an, daher nickte er nur.

Das Mädchen lächelte. Ihre braunen, mit blauen und grünen Federn gespickten Entenflügel waren bereits flugbereit. 

Jeremiah trat an den Rand des Hochhauses, kniff seine Augen für einen kurzen Moment zusammen, holte tief Luft und breitete seine Flügel vollständig aus. Nachdem er seine Augen wieder geöffnet hatte, machte er einen Sprung nach vorne und begann mit seinen Flügeln so stark er konnte zu flattern. Brook folgte ihm, einen wachsamen Blick auf ihn gerichtet. 

Zuerst fühlte sich Jeremiah beängstigt, so als ob die Häuserwände ihm mit jeder Sekunde näherkommen würden, aber als nichts passierte und schliesslich Brook neben ihm auftauchte, realisierte Jeremiah, dass das Ganze wohl doch nicht so schwer wie gedacht war. Er begann höher zu fliegen, bis er den Rand der Stadt sehen konnte. Brook folgte ihm, als er schneller wurde und über die Dächer glitt. 

Der Rabenjunge erinnerte sich genau an den Weg zu dem Nest, in welchem Brook mit ihrer Familie lebte, und erreichte das Gebäude nach wenigen Minuten. Er schaffte es sogar, eine einigermassen sichere Landung hinzulegen, ohne dass er mit einem seiner Flügel irgendwo hängen blieb. 

Er drehte sich um und sah Brook, als sie nach ihm auf ihren Füssen landete. Jeremiah faltete seine Flügel zusammen und sprang auf sie zu. Er schlang seine Arme um ihre Schultern und grinste so sehr, wie er es nur selten tat. „Ich hab’s geschafft!“

Seine Stimme war immernoch etwas zittrig von der Aufregung. Brook nickte und drückte ihn fest an sich. Jeremiah wusste, wie stolz sie auf ihn war und er realisierte, dass er den Stolz ebenfalls fühlte.

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