Du und ich. Zwei komplett verschiedene Personen, aber dennoch so gleich. Dunkelbraune Augen, die mich anstarren, und meine hellblauen Augen, die zurückstarren. Du und ich befinden uns in einem prachtvollen Haus, in dem Prinzessinnen leben könnten, und es würde niemanden überraschen. Das Haus ist mit atemberaubenden Gemälden verziert, und es ist genau das, was wir uns als Kinder immer vorgestellt haben und hofften, eines Tages zu besitzen. Seit Jahren habe ich meine Hoffnungen auf ein solches Haus aufgegeben. Und doch bin ich für die heutige Nacht hier, weil du es irgendwie als nachträgliches Geschenk für meinen 19. Geburtstag einrichten konntest.
Seit wir ganz klein waren, sind wir befreundet. Als wir vier Jahre alt waren, spielten wir draußen, und wenn mir am Abend, als die Sonne unterging, kalt geworden war, liehst du mir deine Jacke und lächeltest mich an, wodurch deine Zahnlücke zum Vorschein kam, die du so verabscheut hast, dass du jedes Mal den Blick von Spiegeln abgewandt hast. Eines Tages, als wir älter wurden – vielleicht waren wir da neun oder zehn –, fragte ich dich, wieso du deine Zahnlücke denn hasst, weil ich sie hübsch fand. Daraufhin hattest du mich angesehen, als hätte ich dich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass eine große Spinne auf deinem Kopf sitzt. Du schütteltest den Kopf, blicktest nach unten, und deine dunkelbraunen Augen wirkten noch dunkler als sonst. „Ich sehe lächerlich aus“, hattest du gesagt, oder vielleicht auch: „Das geht dich nichts an“, denn ich hatte kein Wort verstanden, weil du so leise gesprochen hattest. Ich sprach das Thema leider nie wieder an. Als wir 13 wurden, starb mein Großvater, und ich habe den ganzen Tag geheult. Ich hatte auf keine deiner Nachrichten reagiert, und als es an der Haustür klingelte, erwartete ich nicht, dass du es wärst. Doch du warst es. Als ich die Tür öffnete und dir in die Augen sah, wusste ich sofort, dass du den Schmerz in mir erkannt hattest, ohne dass ich ein Wort sagen musste. Du nahmst mich in den Arm, und ich zitterte, heulte mir die Seele aus dem Leib, bis ich mich fühlte, als würde ich selbst aus Tränen bestehen. Obwohl du nicht wusstest, was los war, hast du mir immer wieder über den Rücken gestreichelt und meinen Namen gesagt, als wäre es ein Zauberwort, das man immer wieder sagen muss, damit wieder alles in Ordnung ist. Ich verstehe nicht, wieso ich nichts mitbekam, als dein Großvater ein paar Monate später starb. Als ich 15 wurde und meinen ersten Kuss hatte, eilte ich zu dir nach Hause, obwohl ich eigentlich schon längst hätte zu Hause sein müssen. Das angenehme Gefühl, das sich rund um mein Herz ausbreitete, war noch so frisch, und ich wollte dir darüber unbedingt alles erzählen und mein Glück mit dir teilen. Das tat ich, und als ich mehrere Stunden zu spät nach Hause kam, bekam ich zwei Wochen Hausarrest, was mir jedoch egal war, weil sich die zwei Stunden mit dir gelohnt hatten. Und letztes Jahr, als ich 18 wurde, klopfte es um Mitternacht an meinem Fenster. Ängstlich, weil das noch nie geschehen war, machte ich es auf, und dann sah ich dich, wie du auf dem Feld vor meinem Haus standest und wie eine Bekloppte von einem Ohr zum anderen lächeltest. Während ich lachte, klettertest du in mein Zimmer, schautest mich mit einem liebevollen Blick an und küsstest mich auf die Stirn, wie du es jedes Mal tatest, wenn die Gefühle, die du empfandest, zu groß und zu verstrickt waren, um sie in Worte zu fassen. „Alles Gute zum Geburtstag.“
Hier im Haus, deine dunkelbraunen Augen, die mich anstarren, und meine hellblauen Augen, die zurückstarren. Ich fühle mich, als würde mein in zwei Stücke gebrochenes Herz gleich aufhören zu schlagen, als würden meine Beine gleich nachgeben, als würde ich in jedem Moment erbrechen. Meine hellblauen Augen füllen sich mit Tränen, weil ich nicht verarbeiten kann, was ich sehe. Deine dunkelbraunen, friedvollen Augen füllen sich ebenfalls mit Tränen, jedoch, weil du weißt, dass gleich alles vorbei sein wird und weil es dir leidtut, nehme ich an. Es war bestimmt nicht dein Plan, dass ich dich im Badezimmer finde, zum ersten Mal Narben auf deinen beiden Armen sehe und die frischen, tiefen Schnitte entdecke, die von deiner Unterarmbeuge bis zu deinem Handgelenk reichen, aus denen literweise Blut herausströmt und den kostbaren Boden bedeckt. Vielleicht hätte ich dich morgen im Badezimmer vorfinden sollen – oder vielleicht die Putzfrau. Jedenfalls nicht jetzt. Hätte ich nicht so viel Apfelsaft beim Abendessen getrunken, bei dem wir so viel Spaß hatten wie schon lange nicht mehr, und ich im Bett geblieben wäre, anstatt ins Badezimmer zu gehen, würdest du jetzt nicht vor mir liegen, während deine Augen plötzlich leblos werden, und ich deine letzten Worte „Ich liebe dich“ sagen höre und nach Luft ringe. Ich und du sind komplett verschiedene Personen, aber dennoch so gleich. Aber wenn ich es mir recht überlege, ist das Einzige, das wir gemein haben, dass wir beide Menschen sind. Was habe ich übersehen?
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