"Dort, wo alles gefunden werden kann" – eine Geschichte von Mira Anand - Young Circle

«Dort, wo alles gefunden werden kann» – eine Geschichte von Mira Anand

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«Dort, wo alles gefunden werden kann» – eine Geschichte von Mira Anand

Als ich um die Ecke bog, sah ich augenblicklich eine Tür und über ihr ein flimmerndes Schild auf dem man noch knapp «undbür» lesen konnte. Das war es also. Das Fundbüro. Dort, wo alles gefunden werden konnte.

Währenddem ich mich auf den Weg zum Fundbüro machte, wusste ich nicht, was genau ich suchte. Den Sinn für das weitere Leben? Vielleicht. Gab es wirklich Chancen auf einen? Eher weniger.

Die Metro war so gut wie leer. Um diese Zeit war nicht viel los. Aber schon in genau einer Stunde würde die Metro voll sein mit Arbeitern und Arbeiterinnen. Es passte mir eigentlich ganz gut, dass praktisch niemand hier war. Ich konnte mir diese endlose Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Menschen nicht mehr antun, denn ich wusste genau, dass diese nur der Spiegel meines eigenen waren.

Vor drei Tagen war mein Bruder ermordet worden. Von wem? Vielleicht eine der Mächtigen. Aber die würden sich die Hände sicher nie selber schmutzig machen. Es war wahrscheinlich irgendeine namenlose Wächterin der Mächtigen gewesen. Aber ihr gab ich keine Schuld, sie war auch eine von uns. Von uns Menschen.

Die Mächtigen nannten sich nicht mehr Menschen. Menschen seien verletzlich und fehlerbehaftet, Sündige. Die Mächtigen, die Elite, sie stellten sich auf die gleiche Stufe wie Götter.

Warum sie meinen Bruder getötet hat? Ganz einfach: Damit die Mächtigen etwas zu lachen hatten. Damit sie uns Menschen einschüchtern konnten. Damit sie uns einen weiteren Schlag ins Gesicht verpassen konnten.

Und es wirkte. Seit die Mächtigen vor 100 Jahren (als der Olymp noch «Amerika» hiess) die Macht ergriffen und die Menschen unterworfen hatten, hatte sich niemand gewehrt. Und wenn sich mal jemand gegen sie gestellt hatte, war dieser ganz, ganz schnell gestorben.  

Mit einem lauten Quietschen hielt die Metro an und ich befand mich wieder in der Gegenwart. Ich nahm einen tiefen Atemzug und stieg aus. Die Station war düster, die Lichtröhren an der Decke hielten zum Teil nur noch an einer Schraube und flackerten. Es lief mir kalt den Rücken runter, als drei Ratten an mir vorbeischlichen. Aber irgendwie war ich auch froh darüber, dass es hier wenigstens noch irgendwelche Leben gab.

Das Fundbüro war das älteste, bis heute erhaltene Gebäude der Welt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich genau dorthin sollte, aber den Rat eines Sterbenden sollte man nie unberücksichtigt lassen. Unter schwachen, immer unregelmässiger werdenden Atemzügen versprach mein Bruder mir, dass beim Fundbüro alles gefunden werden könne. Absurder Satz, aber typisch für Alex. Nicht einmal kurz vor seinem Tod konnte er Klartext reden.

Als ich um die Ecke bog, sah ich augenblicklich eine Tür und über ihr ein flimmerndes Schild auf dem man noch knapp «undbür» lesen konnte. Das war es also. Das Fundbüro. Dort, wo alles gefunden werden konnte. Ich schüttelte leicht den Kopf – Schwachsinn, du bist nicht dort, Alex – , aber nicht ohne das leichte Bewegen der Tür zu bemerken. Wahrscheinlich nur nochmal eine Ratte. Hoffentlich.

Aber etwas anderes fiel mir fast noch mehr auf: Nirgends befanden sich Überwachungskameras. Die sonst überall vorhandenen «dritten Augen» der Mächtigen, wie sie es gern ausdrückten, waren nicht da. Das beruhigte mich und machte mir gleichzeitig fast noch ein bisschen mehr Angst.

Ich lief weiter bis ich nur noch einen Meter von der Tür entfernt war. Ich drückte die Klinke langsam nach unten und öffnete sie einen Spalt breit. Innendrin war es stockdunkel.

Ich stiess die Tür ganz auf und ging gleich einen Schritt zurück. Jedoch bewegte sich nichts.

Ich betrat zögernd den Raum. Er kam mir nicht sehr gross vor, eher wie ein kleiner Abstellraum. Also, Bruder, was befand sich nun in diesem Fundbüro?

In dem Augenblick fiel die Tür hinter mir mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich rannte zur Tür und rüttelte an ihr. Abgeschlossen. Mein Herz begann wie wild zu schlagen und ich spürte wie sich meine Kehle verengte. Was war hier los? Ich war nicht alleine, irgendjemand hatte mich in diesem Raum eingesperrt.

Langsam drehte ich mich um und rief mit heiserer Stimme: «Wer ist da?» Waren die Mächtigen trotzdem überall? «Ich will dir nichts tun. Bitte lass mich einfach wieder gehen»

Etwas regte sich dort hinten links. Ich kniff meine Augen zusammen, um etwas zu erkennen.

Plötzlich sah ich eine brennende Kerze in der Luft und dahinter eine starke Hand, die sie festhielt. Die Hand hob die Kerze und ich konnte das Gesicht eines jungen Mannes erkennen. An seinen Schläfen liefen Schweisstropfen hinunter und seine Stirn war zusammengezogen. Ein sehr bedrohliches Bild.

Als ich einen Schritt nach hinten gehen wollte, spürte ich die kalte, eiserne Tür in meinem Rücken. Kein Entkommen.

Er starrte mich einfach an.

Misstrauisch fragte er irgendwann: «Laryse? Bist du das?» Ich erstarrte und sagte nichts. Dann ging das Licht an und etwa 10 junge Männer und Frauen schauten mich erschrocken an.  

Der schwarzhaarige Typ, mit der Kerze in der Hand, trat näher zu mir und begann leicht zu lächeln, während er sagte: «Laryse, du bist es wirklich. Du brauchst keine Angst zu haben. Dein Bruder war einer von uns.» Ich starrte ihn weiterhin ratlos an.

Eine Frau, etwa in meinem Alter, trat hervor und begann zu lächeln: «Wir tun dir nichts.» Ich, alles andere als überzeugt, fragte: «Wer seid ihr?» Eine weitere Frau erhob sich hinter einem Stapel aus Holzbrettern und sagte ernst: «Wir sind Rebellen.» Zuerst verstand ich nicht einmal, was sie da gerade gesagt hatte. Rebellen? Es gab keine Rebellen. Die waren alle ausgerottet worden.

«Euch gibt es trotzdem?», fragte ich sprachlos. Der Mann vor mir, hatte mich keine Sekunde aus dem Blick gelassen und schaute mich nun leicht belustigt, leicht besorgt an. «Ja, Superhelden sterben halt nie aus.», meinte er mit schiefem Lächeln. Irgendwie beruhigte es mich. Das schiefe Lächeln dieses Jungen, den ich noch gar nicht kannte. Ich erschrak mich vor mir selber.

Der Junge mit dem schiefen Lächeln versuchte mich nun ernsthaft zu beruhigen: «Dein Bruder hat uns gesagt, dass wenn jemals etwas mit ihm passieren sollte, würde er dich hierhin schicken. Den Satz ‘im Fundbüro kann alles gefunden werden’ kennst du bestimmt.»

Ich nickte und bemerkte wie sich in mir langsam eine Wärme ausbreitete, die ich länger nicht verspürt hatte.

Es war die Wärme der Hoffnung. Der Sinn für das weitere Leben.

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