"Die Wanderung" - Eine Geschichte von Léanne Schümperli - Young Circle

«Die Wanderung» – Eine Geschichte von Léanne Schümperli

Member Stories 2024

«Die Wanderung» – Eine Geschichte von Léanne Schümperli

Die Geschichte handelt von einer Person, die in Erinnerung an ihren verstorbenen Großvater eine Hütte im Wald aufsucht. Dort verspürt sie eine tiefe Verbundenheit mit ihm, besonders als sie seine persönlichen Gegenstände entdeckt. Inmitten dieser stillen Erinnerungen wird die Atmosphäre plötzlich unheimlich, als ein Wolf auftaucht und die Hauptfigur eine Erscheinung ihres Großvaters auf dem See sieht. In einem emotionalen Moment versucht sie, ihn zu erreichen.

Ring, ring, ring. Ich stand auf und ging zum Fenster. Das Fenster, ein altes mit einfach Verglasung und sechs kleinen Fensterscheiben quietschte, als ich es öffnete. Sofort schlug mir die kalte Nachtluft entgegen. Das einzige Licht, was zu sehen war, war der schmale leuchtende Streifen am Horizont, der das Aufgehen der Sonne ankündigte. Ich drehte mich vom Fenster weg und ging zu meinem Rucksack. Es war ein alter Armeerucksack meines Grossvaters.

Ich vermisste meinen Grossvater sehr.  Mein Ziel war der Lieblingsort meines Grossvaters. Eine kleine Hütte mitten im Wald von Graubünden. Mit dem Rucksack in der Hand verliess ich das Chalet und folgte dem Weg, der über die Kuhweide führte. Es war kühl und die Wiese noch nass vom Tau.

Motiviert nahm ich den Weg, der hinter einer Kurve im Wald verschwand. Im Wald warf die Sonne lange Schatten in den Wald und verlieh dem Wald etwas Mystisches. Hier und da raschelte etwas im Gebüsch, ansonsten war es ruhig. Dies sollte sich aber zu einem späteren Zeitpunkt noch ändern. Als ich an eine kleine Lichtung kam und die Sonne sich im Zenit befand, beschloss ich eine Pause zu machen und etwas zu essen.  Was zu Beginn noch so schön und friedlich aussah, wurde zunehmend dunkler und bedrohlicher. Die Sonne beleuchtete den Wald nur noch spärlich. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch. Die Zweige der Tannen hingen immer tiefer über den Weg und erschwerten das Durchkommen. Äste knackten hier und da und Wind kam auf. «Bitte, bitte, alles aber keinen Sturm!», dachte ich und schritt etwas zügiger voran. Dann lichtete sich der Wald ein wenig und gab den Blick auf eine kleine bescheidene Hütte frei. Die Hütte befand sich am Rande eines kleinen Sees, der von einem Bach gespiesen wurde. Das Wasser des Sees hatte eine tiefblaue Farbe und rund um den See ragten hohe Tannen empor. Am Ufer des Sees, dort wo auch die Hütte stand, gab es einen Steg aus altem dunkelbraunem Holz, das an einigen Stellen von Moos überzogen war.

Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren, als ich die Hütte betrat. Es war dunkel. Es graute mir davor gleich in das Schlafzimmer zu gehen und dort das Bett anzutreffen, in dem Grossvater nach seinem letzten Atemzug gelegen hatte. Zum anderen hatte ich das Gefühl ihm nur hier nahe zu sein. Ich atmete also einmal tief ein und aus und zündete die alte Petroleumlampe an, die neben der Tür hing. Im Schein der Lampe schaute ich mich um. Vor mir lag das Wohnzimmer. Ein alter grüner Sessel, ein kleiner Tisch und ein alter abgenutzter roter Teppich. Mehr gab es im Wohnzimmer nicht. Nebenan war eine mickrige Küche, wo man sich kaum drehen konnte, mit einem Herd und einem Platz für einen Eimer Wasser. Fliessend Strom und Wasser gab es in der Hütte nicht. Vom Wohnzimmer aus ging eine Tür ins angrenzende Schlafzimmer. Die Tür war geschlossen. Ich nahm den Knauf der Tür in die Hand und fühlte das kalte Metall an meiner Hand. «Tief ein und ausatmen. Es ist nur das Schlafzimmer», versuchte ich mir einzureden und drehte den Knauf. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt hatten und ich die Umrisse eines Schrankes und einem Bett ausmachen konnte. Ich holte die Petroleumlampe, die ich vorhin im Wohnzimmer stehen gelassen hatte, und stellte sie ins Schlafzimmer.

Das, was ich da sah, liess mein Herz zuerst aussetzten und dann in doppelter Geschwindigkeit davongaloppieren. Das Bett war nicht gemacht und man sah noch, wo er gelegen hatte. Neben dem Bett stand eine weisse Emaille Tasse und alles sah so aus, als würde er jeden Moment wieder zurückkommen. Als würde er gleich von seinen geliebten Kajaktouren zurückkommen, durch die Tür treten mit seinen olivfarbenen Hut mit der Krempe und dem lächerlichen Band unter dem Kinn und uns allen erzählen, wie toll doch das Kajakfahren ist. Ein Kloss bildete sich in meinem Hals. Wie sehr ich mir das wünschen würde. Ich ging zum Schrank und öffnete ihn. Sofort stieg mir sein vertrauter Geruch in die Nase. Eine Mischung aus Wald, Zimt und Zigaretten. Ich nahm mir eines seiner Holzfällerhemden und zog es mir über. Draussen befand sich direkt an der Wand der Hütte eine Aufmachung für sein Kajak. Das rote Kajak, das schon etwas ausgeblichen war von der Sonne und das schwarze Paddel waren dort feinsäuberlich verstaut worden.  Es war bereits dunkel geworden, als ich mich in den Sessel setzte. Plötzlich ertönte ein Heulen. Ich erstarrte. Das Heulen klang definitiv nicht nach dem Heulen des Windes. Nein, es hörte sich eher an wie… «Ein Wolf», schoss es mir durch den Kopf. Mittlerweile schien der Mond in seiner vollen Pracht und liess das dunkle Wasser schimmern.

Und dort! Am anderen Ufer des Sees zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Leise ging ich näher zum Wasser. Nochmals ertönte das Heulen. Und wieder bewegte sich am anderen Ufer etwas. Und diesmal konnte man ganz klar erkennen, was es war. Ein Wolf. Gross und anmutig stand er dort und schien direkt zu mir zu schauen. Er hob den Kopf Richtung Mond und heulte, als würde er jemanden zu sich rufen. Plötzlich kam ein rauschender Wind auf und das Heulen des Wolfes wurde lauter. Und auf einmal glaubte ich Stimmen zu hören. «Du bist gekommen!» Wie in Trance ging ich auf den Steg. In der Mitte des Sees hatte sich ein Strudel gebildet und es entstand eine Wasserhose. Der Wind beruhigte sich wieder und ich sah in.  Mitten auf dem See in seinem roten Kajak und seinem olivfarbenen Hut, leicht blass wie ein Geist. «Grossvater!», schrie ich, doch es schien, als wäre ich nicht laut genug, dass er mich hören könnte. «Grossvater!», schrie ich schluchzend. Noch nie hatte ich mich jemandem so nah und doch so fern gefühlt. Er kam auf mich zu gepaddelt, doch schien nicht näherzukommen. Ich streckte meine Hand aus, wollte ihn erreichen, ihn ein letztes Mal umarmen. Ich streckte mich noch etwas mehr, doch ich rutschte aus und fiel.

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