Im Halbdunkeln stehe ich hinter dem Vorhang. Die flackernde Deckenlampe spendet nur spärliches Licht, doch wenn ich nach unten blicke, sehe ich trotzdem meine eiskalten Finger, die sich an den Hals meiner Geige klammern.
Plötzlich stiegen Erinnerungen in mir hoch. Genauso sahen meine Finger vor wenigen Monaten aus. Doch damals rankten sie sich um die Stuhlbeine eines grauen Plastikstuhls im Krankenhaus.
Spätabends hatte meine Mutter einen Anruf erhalten. Ich brauchte die Worte, die gesagt wurden, nicht zu hören, um zu wissen, dass etwas passiert war.
Kaum eine halbe Stunde später sass ich allein im scheinbar endlosen Flur des Krankenhauses. Im Auto hatte sie mir erzählt, was sie am Telefon erfahren hatte. Mein Vater hatte einen Autounfall und lag in der Notaufnahme.
Bevor meine Mutter mit einem Arzt in einem Nebenzimmer verschwunden war, flüsterte sie mir leise zu: „Warte hier. Ich bin gleich zurück. Alles wird gut.“
Also wartete ich.
Einmal liefen Ärzte in weissen Kitteln an mir vorbei. Ich hörte keine ganzen Sätze, nur einzelne Wörter, doch es war genug, um mir ein Bild davon machen zu können, was passiert war.
„…Autounfall…Musiker…“ Ich horchte auf. Mein Vater war ein bekannter Violinist.
Doch ehe ich noch mehr hören konnte, waren sie am Ende des Ganges verschwunden. Also wartete ich weiter. Minute um Minute verging.
Schliesslich kam meine Mutter mit dem Arzt zurück. Ihre Miene war todernst, sie sah aus, als könnte sie nur mühsam ihre Tränen zurückhalten.
„Sie konnten ihn nicht retten.“, sagte sie mit erstickter Stimme.
Mit diesem Satz, mit nur einem Satz, brachte sie meine Welt zum Einsturz.
Wie in Trance lief ich zum Auto und liess mich nach Hause fahren.
Die nächsten Tage verliess ich mein Zimmer nur, um zu Essen, und auch dass nur wenn mein Hunger unerträglich wurde. Einige Male war ich in Versuchung, Geige zu spielen, doch jedes Mal, wenn ich es versuchte, fiel ich erneut in das Loch des Kummers, das mich nach und nach aufzufressen drohte.
Irgendwann trat meine Mutter in mein Zimmer. Still sah sie mir eine Weile zu, wie ich auf dem Bett lag und ins Nichts starrte.
„Ich weiss, es ist hart. Doch du kannst dich nicht in deinem Zimmer vor der Realität verstecken.“
Ich antwortete nicht.
„Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du seinetwegen alles aufgibst.“
Dann liess sie mich allein.
Eine warme Hand auf der Schulter reisst mich zurück in die Wirklichkeit.
„Ich weiss, es ist hart. Aber du schaffst das. Ich glaube an dich.“
Noch während ich ins Rampenlicht trete, blicke ich noch einmal zurück. Das stolze Lächeln meiner Mutter ist noch eine Sekunde hinter dem Vorhang zu sehen, bevor es endgültig in den Schatten verschwindet.
Mit einem Lächeln auf den Lippen beginne ich zu spielen.
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