Das schwache, gelbliche Licht der Strassenlaterne beleuchtet mein Gesicht. Ich weiss nicht mehr, wann ich losgelaufen bin. Schien die Sonne noch? Verwehte der Wind mir dann schon meine Haare? Ich setze mich auf eine Bank, die unter der Laterne steht. Mein Kopf in meine Hand gestützt, wiederholt sich ein Gedanke immer und immer wieder. Es tut mir so leid, Khalid. Es war Samstagmorgen, acht Uhr. Wie jeden Morgen folgte ich strikt meiner Morgenroutine. Jeder Tag beginnt mit einem Kaffee, erst dann ziehe ich mich um, frisiere mich und packe meine Handtasche. Darin verstaut: Mein Notizbuch und ein schwarzer Kugelschreiber, eine Wasserflasche, Portemonnaie und Schlüssel, sowie meine Kopfhörer. Nur fand ich mich an diesem Morgen nicht in meiner Einzimmerwohnung am Stadtrand wieder. Ich war zu Besuch bei meinen Eltern. Mein altes Zuhause steht am Ende der Strasse, die unser kleines Quartier durchquert. Meine Eltern ziehen um, in eine Alterswohnung. Ich bin ihr einziges Kind, weshalb ich angereist war, um ihnen beim Umzug zu helfen.
Ich blickte aus dem Wohnzimmerfenster, als mir die Katze der Familie Rolli ins Auge fiel. Jahrelang folgte ich der gleichen Routine, um zur Schule zu gehen. Zuerst meine Morgenroutine, dann aus dem Haus, vorbei an den Häusern meiner Nachbarn, um zur Bushaltestelle zu gelangen. Die Katze der Rollis wartete jeden Morgen an der Station auf mich. Wie gut erinnere ich mich auch an Frau Müller, eine ältere Dame, die jeden Tag auf ihrer Terrasse sass und mir zuwinkte. Auch an die Zwillinge Jana und Hannah und ihre grellen Leuchtwesten, die sie auf dem Weg zum Kindergarten tragen mussten. Und natürlich an Khalid. Eine Welle der Nostalgie überwältigte mich. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht.
Wir sind zusammen aufgewachsen, Khalid und ich. Sein Haus war mein Rückzugsort. Seine Mutter, eine wunderschöne Frau marokkanischer Herkunft, hiess mich jederzeit willkommen. Wie lange schon habe ich nicht mehr an unsere Filmabende gedacht, an den Geruch des immer frisch zubereiteten Abendmahls. Jeden Nachmittag verbrachte ich bei ihm. Ich fühlte mich dort wohler als zuhause. Es war keine einfache Zeit, aber er war immer für mich da, und ich für ihn. Jeden Tag nach der Schule erklärte ich ihm, was wir gelernt hatten. Wir hatten unsere eigene Sprache. Khalid ging nie zur Schule, er war nicht wie die anderen Schüler. Unser Dorf ist klein, und so hatte Khalid keine Gelegenheit, eine Sonderschule zu besuchen. Seine Mutter hatte die Ressourcen nicht, umzuziehen.
Khalid kann nicht sprechen. Er hört nichts. Seine Mutter hatte ihm alles beigebracht, was sie ihm beibringen konnte. Den Rest hat er von mir gelernt. Ich weiss nicht, wieso ich das Bedürfnis hatte, ihm zu helfen, damals. Es war kein Mitleid. Ich mochte ihn einfach. Khalid war die Art Mensch, die sich daran erinnerte, dass ich die roten Gummibärchen am liebsten mochte, und sie deshalb in einem Einmachglas sammelte. Das Einmachglas mit den roten Gummibärchen. Auch diese Erinnerung ist mir mit den Jahren entfallen.
Ich hätte nie gedacht, dass mich dieser Umzug so nostalgisch stimmen würde. Ich war überglücklich, als ich von zuhause wegziehen konnte. Meine Eltern stritten damals fast täglich. Heute scheint es ihnen besser zu gehen. Meine Mutter hat mir bei meiner Ankunft erzählt, dass die beiden nun schon seit längerem in die Paartherapie gehen. Ich wünschte nur, sie hätten dies schon früher gemacht. Aber ich bin nicht wütend auf sie, ich erinnere mich einfach nur ungern an diese Zeit. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb all diese Erinnerungen jetzt wieder hervorkommen, nachdem ich sie jahrelang unterdrückt hatte.
Ich wollte Khalid wiedersehen. Diese Entscheidung traf ich 10 Minuten bevor ich vor seiner Haustüre stand. Ich klopfte, doch niemand öffnete die Tür. Beim zweiten Mal entriegelte seine Mutter die Tür. Sie sah verweint aus. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte mir, dass sie auf dem Weg zum Spital sei, da Khalid eingeliefert worden war. Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass ich ihr helfen wollte. Also bot ich ihr an, sie zum Spital zu begleiten.
Beim Spital angekommen, erkundigten wir uns, in welchem Zimmer Khalid untergekommen sei: Zimmer 305, Intensivstation.
Da lag er also. Ich konnte ihn fast nicht wiedererkennen. Seine Haare waren mittlerweile lang genug, um sie zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammenzubinden. Ausserdem war ihm ein Vollbart gewachsen. An seiner Stirn klebte ein grosses Pflaster. Sein Bein lag in einer Konstruktion, die dabei half, es zu stabilisieren. Er blickte schockiert zu uns, als seine Mutter und ich hereinkamen, aber er sagte nichts.
Die Oberärztin berichtete uns, dass sich Khalid glücklich schätzen müsste, dass er noch am Leben sei. Als das Auto mit dreissig Stundenkilometern in ihn hineinfuhr, dachten die Zeugen, dass er den Aufprall nicht überleben würde. Khalid hatte nicht geantwortet, als sie ihn fragten, wie es ihm gehe.
Da sass er also vor mir und sah mich wieder mit diesen Augen an. Derselbe Blick wie an jenen Nachmittagen, als wir noch Kinder waren. Ein Blick, der mir mehr sagen konnte als tausend Worte das je könnten. Es tut mir leid, Khalid.
So sitze ich nun auf der Bank vor dem Spital und warte darauf, dass mein Kindheitsfreund operiert wird, nachdem ich ihn zehn Jahre lang nicht gesehen habe. Wie schnell ich ihn fast verloren hätte. Wie schnell ich ihn vergessen habe. Khalid, es tut mir leid.
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