"Die Suche nach einer Geschichte" – Eine Geschichte von Nora Wenger - Young Circle

«Die Suche nach einer Geschichte» – Eine Geschichte von Nora Wenger

Member Stories 2024

«Die Suche nach einer Geschichte» – Eine Geschichte von Nora Wenger

Ein Erzähler begibt sich auf eine Reise voller unentdeckter Geschichten, die in der Stille vergangen sind, während er sich langsam von der Passivität des Wartens löst und den mutigen Schritt wagt, seinen eigenen Weg zu suchen – ohne zu wissen, wohin dieser ihn führen wird.

Ich warte. Stehe da und warte. Wie so viele andere es tun. Worauf nur. Niemand wusste worauf. Nicht einmal ich selbst. Oder vielleicht wusste ich es, doch will es nicht wahr haben, weil es vergeben ist darauf zu warten. Doch nichts passiert. Niemand kommt und gibt meinem Leben eine Bedeutung. Eine Geschichte. Doch wäre das Warten die Geschichte wert? Würde diese Geschichte erzählt werden oder ihr Dasein in Vergessenheit fristen? Ist es wirklich relevant, was aus dieser Geschichte werden würde? Würde ich jemals eine Geschichte bekommen, wenn ich meine ganze Zeit damit verbringe, darauf zu warten? Ich habe genug von der Warterei, von all den unbeantworteten Fragen. Langsam wage ich den ersten Schritt. Der weisse Kies knirscht unter meinen Schuhen. Ich setze langsam, aber immer wieder einen Fuss vor den anderen. Langsam folge ich einem unsichtbaren Pfad, dessen Ende ich nicht sehen kann.

Mein Blick wandert über die Wiese, deren Grün von roten, gelben und lila Punkten übersäht ist, zu einem alten Schuppen aus dunklem Holz auf der anderen Seite des Weges. Doch besonders lange wird dieser Ort nicht mehr so aussehen. Schon bald wird die Wiese von grauen Häusern verdrängt und der Schuppen durch ein verglastes Gebäude, in dem eine Bibliothek eingerichtet wird, ersetzt. Im Innern wird ein Mädchen durch die Regale irren, bis ein Gesicht aus dem Regal sie ansehen und zum Anhalten bringen wird. Die kleine Hand wird nach dem verstaubten Buch greifen, auf dessen Cover eine Frau mit einem ernsten Lächeln abgebildet sein wird. Das Buch wird, erstmals seit es dort stehen wird, zu einem Tisch getragen und aufgeschlagen. Sie wird begeistert von der Geschichte sein. Es wird eine Geschichte sein die mit viel Enthusiasmus und Tatendrang begann, doch mit Frust und Enttäuschung über die Ungerechtigkeit dieser Welt endet. Ihre Ideen hätten viel Gutes in der Welt bewirken können, doch niemand wird die Ideen in die Tat um gesetzt haben und so werden sie in Vergessenheit geraten sein.

Ich wende meinen Blick ab und setze meinen Weg fort. Vor mir taucht eine Wegbiegung auf und ich entscheide mich für einen der Wege, welcher mich in Richtung des Waldrands und zu weiteren Geschichten führt.

Am Waldrand ragt eine Linde in die Höhe, deren Wurzeln die Knochen eines  jungen Mannes beschützen. Als die Linde noch in einem Samenkorn schlummerte, war die Landschaft von schrecklichen Kämpfen verwüstet worden. Die Landschaft schien ausgestorben, die Kämpfe waren vorüber und alles was noch in der Lage dazu war, setzte seinen Weg der Zerstörung fort. Einzig zwei Gestalten in blassgrauer zerfetzter Kleidung kauerten in der Nähe des Waldrandes. Einer der zwei versucht vergeblich die starken Blutungen des anderen zu stillen. Der Himmel ist, hellgrau und von weissen Wolken verhangen zu dieser Zeit, während der kleinere Jungeverzweifelt und doch vergeblich versucht die Blutungen seines Freundes zu stillen. «Es ist sinnlos.» spricht der Verletzte. «Sag sowas nicht.» entgegnet der andere energisch und den Tränen nahe. «Bitte mach dir nichts vor, diese Welt ist nun mal grausam.» Der Kleine nickt kaum merklich und senkt resigniert den Blick. Er gibt die Hoffnung auf. «Es tut mir leid, dass ich dir kein besserer Freund sein konnte.» murmelt er leise. «Du bist wie ich auch nur eine Spielfigur in dieser Welt, dich trifft keine Schuld.» meint der Verletzte und hustet. «Versprich mir nur nie aufzugeben, egal wie grausam diese Welt scheint.» haucht er. «Ich.. ich verspreche es.» erwidert der andere und umklammert die kalten Hände seines Freundes. Über dessen Lippen huscht ein leichtes Lächeln, bevor er aufhört zu atmen und seine Augen ins Leere starrten. Seine Geschichte endet. Der Kleine hat keine Hoffnung mehr, es war als wäre alle Farbe aus der Welt gewichen. Er will allerdings sein Versprechen erfüllen und so brach er wieder auf.  Doch er brachte es nicht übers Herz ihn so schutzlos zurückzulassen und so schuf er ihm ein Grab und eben diese Linde wuchs auf diesem Grab. Auch seine Geschichte endete, ohne erzählt zu werden und damit geriet sowohl seine als auch die seines Freundes in Vergessenheit.

Ich folge weiterhin meinem Weg, der mich immer tiefer in den grünen Wald hinein führt. Immer mehr saftig grünes Gewächs wuchert über den Pfad und erschwert mein Vorankommen. Als ich mich schon tief im Wald befinde, stolpere ich beinahe über etwas metallenes, was aus dem Boden ragt. Bei genauerem Hinsehen ist ein Eisenbahngleis zu erkennen, welches einmal queer durch den Wald führte. Mittlerweile hatte der Wald die Gleise wieder verschlungen, doch die Schneise ist noch zu erkennen. Durch diese Schneise fuhren Lokomotiven mit ihren Wagons, die grosse Mengen an Ladung transportierten. Darunter auch viele Briefe, sowie ein kleiner unauffälliger Brief, der in einem mit einer unregelmässigen Handschrift beschrifteten Umschlag steckte.

Liebe Tante
Vielen Dank für das tolle Buch, dass du mir geschickt hast. Ich habe sehr viel neues dadurch gelernt, doch es gibt noch so vieles, was es zu entdecken gibt. Das Abenteuer wird einfach nie enden und ich freue mich zu sehen, wo es mich hinführen wird.
Liebe Grüsse
Deine Nichte

Auch ein flauschiger Teddybär reiste einmal auf dieser Eisenbahnstrecke. Er war unterwegs zu einem kleinen Kind, geschickt von den Grosseltern dieses Kindes die sehr weit entfernt wohnten. Der Bär würde seinem Kind ein treuer Begleiter auf all seinen Abenteuern sein und war für es da, auch wenn sonst niemand es war. Niemand interessierte sich jemals für alle diese kleinen Geschichten. Doch sie waren da und wurden gelebt.

Ich war den Gleisen bis zu ihrem Ende gefolgt und finde mich vor einem dunklen Tunnel wieder. Mein Blick wandert weiter nach oben, doch ich kann die Spitzen des Gebirges nicht erkennen, die Gipfel versteckten sich hinter weissen Wolken. Der Tunnel wäre der um einiges einfachere Weg gewesen, doch ich war nicht hier her gekommen um diesen Weg zu nehmen und nichts dabei zu erleben. Zuversichtlich sehe ich nach oben und mache mich an den Aufstieg. Ich weis nicht ob ich jemals ankommen werde, ob diese Geschichte jemals erzählt werden würde doch ich weis, dass ich nun meine Geschichte finden werde.   

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