Die Ziffern der Wanduhr verraten mir, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Schnell werfe ich mir meinen türkisfarbenen Kaschmirschal um den Hals und streife einen knielangen Mantel über. Bevor ich in meine gefütterten Stiefel steige und meine kleine Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses am Rande einer Grossstadt verlasse, vergewissere ich mich mit einem raschen Blick in den Spiegel, dass meine Frisur sitzt. Es wäre schliesslich möglich, dass er sich heute aus dem Schutz der Bäume und der Dunkelheit traut und wir uns endlich sehen.
Der Mond wirft schummriges, kühles Licht auf die Strassen und spiegelt sich in den Pfützen, die auf ihnen liegen. Die kühle Novemberluft lässt meine Nackenhaare trotz des kuscheligen Schals zu Berge stehen. Mit schnellen Schritten nähere ich mich dem abgelegenen Spielplatz, welchen ich seit einigen Wochen häufig aufsuche. Dort angelangt setze ich mich auf die rote Schaukel und klammere mich an die Seile. Die rauen Fasern an meinen Händen spürend lasse ich meinen Blick über den verlassenen, in Dunkelheit getauchten Platz schweifen. Wo bleibt er? Hat er mich vergessen? Fröstelnd warte ich einige lange Minuten auf die bekannte Stimme, bis sie endlich erklingt.
„Hey. Tut mir leid, dass du warten musstest. Wie geht es dir?“ Die Nuancen seiner weichen, melodiösen Stimme lassen mich innerlich auftauen und verleihen mir eine Spur von Sicherheit. „Ist schon okay. Jetzt bist du ja hier. Eigentlich geht es mir momentan nicht besonders gut, ich schwelge etwas in meiner Vergangenheit. Aber es tut gut, deine Stimme zu hören.“, hauche ich als Antwort. Und damit beginnt eine weitere schier endlose Unterhaltung mit dem Mann meiner Träume. Ich schliesse meine Augen und schmiege mich in seine Worte, während ich unserer Unterhaltung lausche. Wie sehr ich mir wünsche, er würde aus dem Dickicht zu mir vor die Schaukel treten und sich mir zeigen. Ich sehne mich nach seinen Berührungen, seiner Umarmung. Plötzlich werde ich hellhörig. „Hör zu. Was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Du musst mir absolut vertrauen, denn ich will dir nur helfen. Ich will nur das Beste für dich. Aber du bist in Gefahr.“ „Ich vertraue dir. Was ist los?“, keuche ich, während sich ein ungutes Gefühl in mir breitmacht. Mit aller Kraft klammere ich mich an seine spürbare Nähe. Doch es bringt nichts. Die Kälte gewinnt langsam Oberhand und schleicht sich in meine Poren. „Die Vögel. Die unzähligen Vögel am Himmel. Sie sind hinter dir her. In der Nacht kann ich dich beschützen, aber am Tag sind es zu viele. Ich schaffe das nicht mehr.“ Mein von der Dunkelheit ohnehin schon geschwächtes Sichtfeld wird nun von auch noch von schwammigen Rändern eingeschränkt. Das Sausen in meinem Kopf wird lauter, scheint zu schreien. Ich schreie zurück. „Was muss ich tun? Ich verstehe das alles nicht. Bitte hilf mir!“ „Hey, alles gut. Beruhige dich. Jetzt bin ich noch da. Die Nacht ist noch nicht zu Ende. Und dir passiert auch morgen nichts, wenn du meinen Anweisungen folgst. Schaffst du das?“ Mehr als ein Wimmern bringe ich nicht zustande. „Morgen in der Früh gehst du zu einem Gewässer. Es spielt keine Rolle, ob es ein grösserer Tümpel oder ein See ist. Du musst darin abtauchen können. Komplett. Die Vögel dürfen nicht in der Lage sein, dich zu erreichen. Ich verspreche dir, danach geht es dir besser.“
Selbst als ich bereits im Bett liege, hallen die Worte noch in mir nach. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Einerseits stammen sie von einem Typen, der sich nicht wagt, sich mir zu zeigen. Auf der Strasse würde ich ihn nicht erkennen. Er wäre einer von vielen. Doch andererseits nagen diese Ängste nun schon eine Weile an mir. Es ist kein neuer Gedanke. Ausserdem vertraue ich ihm. Mit jeder Faser meines Körpers.
Kaum ragen die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont, bin ich bereits auf dem Weg in den örtlichen Park. Zu dieser frühen Uhrzeit bin ich fast allein zwischen den kargen Bäumen und den zahlreichen warmtönigen Blättern am Boden. Fast. Mir sind die vielen Krähen nicht entgangen, welche mich zu verfolgen scheinen. Dieselben warteten doch bereits vor dem Fenster meines Appartements, oder? Vor dem stillen Teich bleibe ich schliesslich stehen. Eine dünne Nebelschicht liegt auf der ruhigen Wasseroberfläche. Bevor ich es mir anders überlegen kann, schliesse ich meine Augen und stelle ihn mir vor. Ich male mit den Farben seiner Stimme ein Bild einer Person, die mir gleichzeitig fremd und doch mein engster Vertrauter ist. Mit kleinen Schritten taste ich mich vorwärts. Das eiskalte Wasser raubt mir beinahe die Luft zum Atmen, trotzdem gehe ich weiter. Nur keinen Rückzieher jetzt. Über mir lachen die Krähen. Wir werden sehen, wer zuletzt lacht, denke ich, bevor ich abtauche.
Vor einem Monat bin ich aus dem Koma aufgewacht. Nun stehe an der Seite meiner Psychotherapeutin auf dem Spielplatz. Es ist einen Monat her, seit ich zuletzt hier war und in den Genuss unserer Gepsräche kommen durfte. Man hat mir eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, als ich den Ärzten erzählt habe, was vorgefallen war. Seither bin ich in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Doch ich kann nicht glauben, dass er nicht existiert. Das widerspricht all meinen Vorstellungen. Ich konnte meine Therapeutin dazu bewegen, mir einen Ausflug – mit ihrer Begleitung – zu gestatten. Die sternenklare Nacht gepaart mit dem Anblick der roten Schaukel erinnert mich an den Klang seiner Stimme. Und auch heute dauert es nicht lange, bis er zu sprechen beginnt. Wir führen innige Gespräche und ich blende aus, dass neben mir eine Frau mit tiefer Sorgenfalte auf der Stirn steht, die sich Notizen zu mir macht.
Ein Jahr nach dem einschneidenden Vorfall bin ich immer noch unter ärztlicher Obhut, aber mittlerweile habe ich realisiert, was mit mir los ist. Ich setze mich zwar noch oft auf die rostrote Schaukel, aber er ist weg. Dafür habe ich eine Freundin mit einer ähnlicher Vergangenheit gefunden. Wenn ich in diesen vergangenen Monaten etwas gelernt habe, dann, dass man nicht alleine ist. Nie. Ich weiss, manchmal fühlt es sich so an, doch der Schein trügt.
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