"Die kleinen Momente im Leben" – eine Geschichte von Anna Magni - Young Circle

«Die kleinen Momente im Leben» – eine Geschichte von Anna Magni

Member Stories 2022

«Die kleinen Momente im Leben» – eine Geschichte von Anna Magni

Ich mag es, Bücher zu analysieren, den Schreibstil der Autoren zu studieren und mir zu überlegen, was anders sein müsste, um das Buch perfekt zu machen. Es gibt keinen Standard, dem das Buch entsprechen kann. Jedes Buch ist anders, es passen nicht alle genau in dasselbe Bild.

Tom

Das Glöckchen über der Tür bimmelt. Ich blicke auf. Es ist sie. Sie kommt auf mich zu und will gerade den Mund aufmachen. «Einen Kaffee mit Milch und einem extra grossen Keks dazu, nehme ich an», sage ich, bevor auch nur ein Ton ihre Lippen verlassen hat. Lächelnd nickt sie. Jeden Morgen, zwischen halb acht und acht, kommt sie ins Café und bestellt immer genau dasselbe: einen Kaffee mit Milch und einem extra grossen Keks. Jeden Tag sehen wir uns, und doch kennen wir uns nicht richtig. Wir kennen nur den Namen des jeweils anderen. Sie heisst Marie, das stand als Unterschrift auf einem Brief, den sie mal geschrieben hat und der ihr runtergefallen ist. Ich heisse Tom, das steht auf einem Namensschild an meiner Brust. Als sie vor zwei Jahren das erste Mal das Café betrat, hatte ich meinen zweiten Arbeitstag hier. Ich war nervös und leerte ihren Kaffee auf dem Tisch aus. Vermutlich landete auch ein Grossteil auf ihrem Schoss, doch ich war zu scheu, dorthin zu blicken.

Ich bin sehr zurückhaltend, so wie meine Mutter mich erzogen hat. «Als ich jung war, gab es keine anständigen Männer mehr. Das dachte ich zumindest, bis ich deinen Vater traf», pflegte sie immer zu sagen. Darum erzog sie mich so, wie sie dachte, gehört es sich für einen Mann. Und ich beklage mich nicht. Wer weiss, wo ich sonst gelandet wäre. Jetzt jedenfalls bin ich hier und mag meine Arbeit. Sicher, sie ist nicht wirklich gut bezahlt, aber es reicht. Ich brauche nicht mehr. In meiner Freizeit verbringe ich die meiste Zeit zu Hause und lese. Ich habe mich auch schon selbst am Schreiben versucht, aber nie hatte ich das Gefühl, das Richtige zu tun. Ich mag es, Bücher zu analysieren, den Schreibstil der Autoren zu studieren und mir zu überlegen, was anders sein müsste, um das Buch perfekt zu machen. Es gibt keinen Standard, dem das Buch entsprechen kann. Jedes Buch ist anders, es passen nicht alle genau in dasselbe Bild. Meine Leidenschaft ist es, das Potenzial des Buches zu ergründen und aufzuzeigen, was es alles bewirken kann. Denn in jedem Buch steckt eine Moral, etwas, das man lernen kann. Überall. In der ganzen Welt. Aus allem kann man lernen. Man muss nur wissen, wie.

Zum Beispiel jetzt gerade: ich halte die Milchkanne in einem bestimmten Winkel und einer Bestimmten Höhe über der Kaffeetasse, und es fühlt sich besser an, als wenn ich die Kanne anders positioniere. Mit der Zeit habe ich die praktischste Haltung zum Kaffeemachen gelernt. Ich habe auch gelernt, dass man bestimmte Kunden besser nicht warten lassen sollte, während andere sich gerne Zeit nehmen und geduldig sind. Wie Marie. Sie ist die Geduldigste von allen. Trotzdem beeile ich mich immer, sie so schnell wie möglich zu bedienen. Denn dann schaut sie immer zu mir auf und lächelt dieses strahlende Lächeln, das sie mir schon am ersten Tag geschenkt hat. Und mein Herz hüpft in meiner Brust, jedes Mal, wenn ich es zu Gesicht bekomme. Es erfüllt mich mit Zufriedenheit, ein so schönes Wesen  glücklich gemacht zu haben. Denn das habe ich, das weiss ich. Marie liebt Kaffee und Kekse, vor allem die Sorte mit den grossen Schokoladenstückchen. Bei jedem Bissen davon schliesst sie geniesserisch die Augen, um sich den süssen und den bitteren Geschmack, den der Keks und der Kaffee innehaben, auf der Zunge zergehen zu lassen. Jeden Tag hat sie die gleiche Reaktion, jeden Tag fasziniert mich diese Frau aufs Neue. Jeden Tag möchte ich mich zu ihr setzen und mit ihr reden, das Thema ist mir egal. Solange ich ihre wundervolle Stimme hören kann. Ich möchte alles über sie wissen und sie trösten, wenn sie traurig ist. Ich möchte, dass sie mir vertraut und mich um Rat fragt, ich möchte ein Teil ihres Lebens sein. Und doch stehe ich jeden Tag einfach nur hinter der Theke und beobachte sie verstohlen. Meine Mitarbeiter lachen über mich, dass ich diese Frau seit zwei Jahren anhimmle und sie doch noch nie angesprochen habe. Aber das ist mir egal. Denn ich will sie nicht verschrecken, und solange ich nur jeden Tag ihr Lächeln sehen kann, bin ich zufrieden.

Marie

Das Glöckchen über der Eingangstür bimmelt und kündigt mein Eintreten an. Tom steht an der Theke und trocknet gerade eine Tasse ab. Ich gehe auf ihn zu, um meine Bestellung aufzugeben, doch er kommt mir zuvor: «Einen Kaffee mit Milch und einem extra grossen Keks dazu, nehme ich an.» Ich kann nicht anders, als ihn anzulächeln. Er errötet leicht, was ich süss finde. Das hat er bereits getan, als ich dieses Café zum ersten Mal betrat. Das Schild auf seiner Brust hatte damals noch: Neuangestellter, Tom geheissen. Er war furchtbar nervös gewesen und seine Hände hatten so stark gezittert, dass er die Tasse mit meinem Kaffee umkippte und mir einen grossen Teil über den Schoss leerte. Das fand ich aber nicht schlimm, denn erstens war es draussen bitterkalt und ich hatte nur zufällig das Café betreten, um mich aufzuwärmen. Wenn der Kaffee heiss gewesen wäre, dann wäre es wohl nicht so gut gewesen, aber da Tom noch nicht lange dort arbeitete, hatte er den Kaffee nicht stark genug erhitzt. Es tat ihm furchtbar leid, aber anstatt sich die Sauerei auf meiner Hose anzusehen, hielt er mir nur ganz viele Servietten hin und murmelte immer wieder Entschuldigungen. Jeder andere Mann hätte die Gelegenheit genutzt, um meinen Körper anzusehen, doch Tom nicht. Das beeindruckte mich. Seither ging ich jeden Morgen ins Café, es gehörte mittlerweile zu meiner Routine, den Tag zu starten. Ausserdem sind die Kekse in diesem Café die besten, die ich je gegessen habe. Die mit den grossen Schokoladenstückchen mag ich am liebsten. Und Tom bringt mir meistens diese Sorte, was ich sehr schätze. Ich würde mich gerne mal mit ihm unterhalten, denn schon diverse Male hatte er ein Buch in der Hand, das er schnell weglegte, um mich zu bedienen. Ich arbeite in einer Bibliothek und schreibe selber Geschichten in meiner Freizeit, habe aber nicht viele Freunde, mit denen ich über diese Leidenschaft sprechen kann, die meisten nennen mich eine Streberin. Sie meinen es nicht böse, und wir lachen immer darüber, aber manchmal würde ich wirklich gerne jemanden um Rat fragen, der mich versteht. Tom würde mich verstehen, da bin ich mir sicher. Er scheint mir der perfekte Mann zu sein. Wohlerzogen, freundlich, zuvorkommend, gut aussehend, dabei aber nicht arrogant und trotzdem nicht unsicher. Genau das, was ich mir wünsche. Ich hatte viele Dates, doch seit zwei Jahren, entspricht keiner der Männer meinen Wünschen, denn der einzige, den ich mir vorstellen kann, ist Tom. Ich möchte mit ihm lachen und Filme ansehen, ich möchte mit ihm über Bücher diskutieren und mich bei ihm ausweinen, wenn ich eine Schreibblockade habe. Jeden Morgen, wenn er mich mit seinen wunderschönen brauen Augen ansieht, würde ich mich am liebsten in seine Arme werfen. Doch ich bin zu schüchtern. Ich denke, dass er mich auch mag, aber was, wenn nicht? Vielleicht hat er eine Freundin, was mir bei so einem perfekten Typen nur angemessen erscheint.

Ich trinke den letzten Schluck Kaffee und stehe auf. Das Geschirr bringe ich an den Tresen und zahle. Als ich Tom das Geld reiche, berühren sich unsere Hände für eine Millisekunde und mir stockt der Atem. Ich schaue auf, und blicke in seine weit aufgerissenen Augen, während sich seine Wangen rot färben. Ich fühle, wie auch mir das Blut im Gesicht prickelt und habe das Gefühl, als würde ich mich in diesen braunen, tiefen Augen verlieren. Ich will diesen Moment festhalten und präge mir jedes Detail ins Gedächtnis ein. Tom sieht mich weiterhin an, doch sein Ausdruck ist nun nicht mehr geschockt über das Prickeln, das sich von der Stelle ausgebreitet hat, an der sich unsere Haut berührte, sondern irgendwie verträumt und verloren zugleich. Ich möchte ihn in den Arm nehmen und ganz fest halten, doch die Kasse ist zwischen uns. Also lächle ich ihn nur an.

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