Emily sass schluchzend auf dem Bettrand. Sie schaute in das wunderschöne Gesicht ihres Sohnes. Maruks Lippen waren ein bisschen zu dunkel, wie die Rinde eines jungen Baumes. Er lag in seinem Holzbett, das sein Vater vor Jahren eigenhändig für ihn wachsen lassen hatte. Es stellte den unendlichen Wald dar, mit vielen detailreichen Tierchen; Rehe, Füchse, Eichhörnchen, Vögel, Mäuse … Jedes Mal, wenn man es anschaute, entdeckte man etwas Neues. Es war das Letzte, was sein Vater gemacht hatte, bevor er starb.
Maruks Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern und sein Gesicht schien immer dunkler und rauer zu werden. Emily konnte es nicht ertragen. Erst ihr Mann und jetzt … Nein, beschloss sie. Ihr Sohn wird nicht auch sterben. Er wird wieder gesund und glücklich werden. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verliess das Zimmer.
Maruk hatte schon als kleines Kind sehr ausgeprägte Wachser-Eigenschaften. Die anderen Kinder waren eifersüchtig und er war schon immer gutgläubig. Doch dass so etwas passieren würde, hätte Emily nicht im Traum gedacht. Niemand sollte auch nur mit dem Gedanken spielen, auf der heiligen Lichtung etwas zum Wachsen zu bringen, das wurde den Kindern von klein auf eingebläut. Nicht mal einen kleinen Grashalm. Jeder wusste, dass diese runde, nur von Gras bewachsene Lichtung das Zuhause des Baumgottes ist – dicht an den Bäumen, aber doch mit ehrfürchtigem Abstand. Jedes Mal, wenn jemand die Lichtung betrat, betete er zu ihm und dankte ihm für seine Güte.
Auch Maruk kannte die Geschichten über den Baumgott genau. So liebevoll und lebensspendend er auch war, wenn man ihn erzürnte, war er erbarmungslos. Was ihn wohl dazu getrieben hat, es trotzdem zu tun? Aber das war jetzt nicht wichtig. Was jetzt zählte, war, dass Maruk wieder gesund wurde. Die Heiler konnten nichts für ihn tun, aber irgendein Heilmittel musste es geben. Oder einen Weg, wie sie den Baumgott besänftigen konnte. Am besten sprach sie mit Alara. Sie war die älteste des Volkes und konnte den Bäumen jedes Geheimnis entlocken.
Alara legte ihre Arme um den grössten Baum an der Lichtung, auf dem die Ältesten lebten. Sie murmelte unverständliche Worte vor sich hin und drückte die Ohrmuschel kräftig gegen den Stamm. So verweilte sie für eine quälend lange Zeit. Schliesslich löste sie sich von dem Baum, sah Emily an und sprach: «Wer den Gott des Baumes erzürnt, den erwartet ein Fluch schlimmer als den Tod. Langsam aber stetig dringt der Zorn des Baumgottes in den Körper vor, wie Wurzeln in den Boden. Der Körper wird zum Baum und er wird leben, länger als ihm lieb ist und zusehen, wie seine Engsten langsam dem Ende entgegenblicken. Dazu verdammt, nichts zu unternehmen, so sehr er sich’s wünschte. Doch – einen Ausweg aus dem Verderben gibt es. Wer der verstorbenen Frau des Baumgotts genügend Respekt zollt, der stimmt den Baumgott gnädig.»
Emily begann sofort damit, alte Bücher nach Abbildungen der Frau des Baumgotts zu durchsuchen. Der Baumgott hatte gewusst, dass er sich nicht in einen Menschen verlieben sollte. Er würde für immer leben und seine Liebe sterben sehen. Aber wie auch die Menschen konnte der Baumgott seine Gefühle nicht kontrollieren. Er verliebte sich in eine Menschenfrau und heiratete sie. Als das unausweichliche passierte und sie starb, war er voller Schmerzen und zog sich aus dem Leben der Menschen zurück. Wenn Emilys Vorhaben scheiterte, dann würde Maruk ebenfalls ewiges Leben und ewige Qualen erwarten. Das konnte sie nicht zulassen.
Als Emily einige Abbildungen der Frau beisammen hatte, machte sie sich an die Arbeit. Sie war längst nicht so eine begnadete Wachserin, wie ihr Mann es gewesen war, aber schlecht war sie lange nicht. Sie suchte sich einen dicken Ast des Baums der Ältesten aus, der dicht über dem Boden wuchs, um daraus ihr Geschenk für den Baumgott zu schaffen. Dieser Baum durfte eigentlich nur von den Ältesten genutzt werden, aber niemand hielt sie davon ab, als sie Tag und Nacht an einer Statue der Frau des Baumgottes arbeitete. Die ganze Zeit über hatte sie das Bild der fertigen Statue genau vor Augen und liess keinen anderen Gedanken zu sich heran. Sie erlaubt es sich nicht einmal, über Maruk nachzudenken. Sie konnte einfach keinen Fehler machen. Wenn sie ihre Konzentration verlor und die Statue einen hässlichen Strich bekam, würde das den Baumgott nur noch mehr verärgern. Dann konnte sie nichts mehr für Maruk tun.
Als sie die Statue endlich fertig hatte, atmete Emily erleichtert und zufrieden auf. Die Statue war nahezu perfekt. Sie sah genau so aus, wie die Frau auf den Abbildungen. Emily liess den Ast unter den Füssen der Statue dünner werden, bis sich die Statue vom Ast löste und dumpf auf den Waldboden plumpste. Anschliessend liess sie die Statue auf die heilige Lichtung tragen und ging nach Hause zu Maruk. Seine Haut war inzwischen dunkelbraun geworden und von Rissen durchzogen. An den Füssen spriessten Wurzeln, die einen Weg in den Boden suchten. Als Emily ihren ersten Schock überwunden hatte, nahm sie ihn in die Arme. «Gleich wird alles gut», sagte sie sanft. Sie trug Maruk ebenfalls auf die Lichtung und legte ihn neben die Statue in das Gras. Dann begann sie zu beten. Sie betete bis spät in die Nacht und schlief irgendwann ein.
«Mama?», Emily öffnete müde ihre Augen, geblendet vom Sonnenlicht. «Maruk!» Sie konnte es fast nicht glauben. Ihr Sohn lag vor ihr, von der gestrigen Bräune, den Rissen und den Wurzeln keine Spur mehr. Emily schloss ihren Sohn vor Freude weinend in die Arme. Er war wieder gesund! Zwar war er blass und sah müde aus, doch das war wenig verwunderlich nach dem, was er durchgemacht hatte.
«Mama», sagte Maruk nach einer Weile. «Die anderen Kinder hatten recht. Ich habe etwas auf der heiligen Lichtung wachsen lassen und dann habe ich Papa wiedergesehen. Ihm geht es gut. Er wartet auf uns im ewigen weissen Wald.»
«Oh, Maruk», erwiderte Emily. «Wir werden ihn noch früh genug wiedersehen. Im Moment bin ich einfach froh darüber, dass es dir wieder gut geht.»
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