Ich kann es nicht glauben. Ich bin tatsächlich hier mitten auf einer Holzbrücke. Unter mir braust ein breiter Bach eingeklemmt zwischen zwei imposanten Felswänden talwärts. Die Wassermengen klatschen immer wieder lautstark gegen die steinigen Wände, als wollen sie aus der Schlucht ausbrechen. Da will ich gleich runterspringen und auffangen soll mich bloss dieses elastische Band, welches vorhin ein Mann an meinen Füssen befestigt hat?! Ich muss verrückt sein. Wie hätte sich Mama wohl in dieser Situation gefühlt? Sie wäre bestimmt ganz hibbelig vor lauter Vorfreude gewesen. Diese Frau war der grösste Adrenalin-Junkie gewesen, den ich je gekannt hatte. Als ich sechs Jahre alt war, verbrachten wir mit meinen Freundinnen und deren Müttern einen Sonntag im Hallenbad.
Das Hallenbad war eines der wenigen, welches ein 10 Meter Sprungbrett besass. Meine Mutter zeigte uns ein paar waghalsige Sprünge zum Entsetzten der anderen Mütter. Einmal war sie sogar Klippenspringen in Italien. Dort hatte sie meinen Vater kennen gelernt. Eine Ferienromanze wie man sie nur aus den Filmen kennt. Doch die nahm abrupt ein Ende, als meine Mutter ihm eröffnete, dass sie schwanger war. Er machte sich Hals über Kopf aus dem Staub und liess sie mit gebrochenem Herz zurück. Viele würden sagen, dass dieser Mann der grösste Fehler ihres Lebens war. Einem fremden Mann einfach so zu vertrauen. Wie blöd müsse man sein? Mama sah das immer anders. Sie meinte immer, dass dies niemals der grösste Fehler ihres Lebens war. Sonst gäbe es mich nicht. Du bist ganz sicher kein Fehler, du bist mein grösstes Glück.
Ganz oben auf ihrer Bucket-List stand allerdings noch etwas anderes: das Bungee-Jumping. Sie war kurz davor einer ihren vielen Träume zu verwirklichen, als der Krebs ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Mama ist eine starke Frau. Sie hat versucht gegen ihn anzukämpfen, den Kampf aber verloren. Es hat mir den Boden unter den Füssen weggerissen. Mein Vorbild, meine Freundin, meine Mutter war plötzlich nicht mehr da. Seit diesem schlimmen Ereignis ist nun schon ein Jahr vergangen. Es war keine einfache Zeit. Ein halbes Jahr war ich in Betreuung eines Psychologen, habe viele Gespräche geführt und viel mit meinen engsten Freunden unternommen. Eines Morgens habe ich mich bereit gefühlt. Der letzte Wunsch meiner Mutter würde in Erfüllung gehen. Ich würde für sie Bungee-Jumpen gehen. Eine Windböe streift meinen Arm und holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich weiss, dass sie in diesem Moment bei mir ist. Der Mitarbeiter prüft noch ein letztes Mal alles durch. Dann tritt er ein paar Schritte zurück und nickt mir zu. Es ist so weit. Ich atme tief ein, nehme all meinen Mut zusammen und schreie so laut ich kann: „Ich liebe dich!“ Dann springe ich.
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