"Der Weg und das Ziel" - eine Geschichte von Leandra Böbel - Young Circle

«Der Weg und das Ziel» – eine Geschichte von Leandra Böbel

Member Stories 2020

«Der Weg und das Ziel» – eine Geschichte von Leandra Böbel

Schon lange hatte ich es mir vorgenommen die Reise endlich auf mich zu nehmen
Doch Tag für Tag schob ich sie auf
Hielt es nicht für nötig mich jetzt schon auf diesen Weg zu begeben
Traute dem Zufall, denn der nimmt ja schliesslich immer seinen richtigen Lauf.

Und wenn das stimmte – und daran hielt ich mich fest –
musste ja wohl auch nicht ich entscheiden, wann genau ich losgehen werde,
welcher Zug mich an den richtigen Ort bringen wird, wie lange diese Reise dauert
oder welche exakten Worte ich im richtigen Augenblick an ihn richten werde.
Oder doch?


Ich redete mir ein, ich sei nicht verantwortlich für diese «Mission».
Verdrängte den Gedanken, dass ich mich eigentlich schon lange hätte vorbereiten müssen
Denn schliesslich befindet man sich nicht alle Tage in genau dieser Situation,
Die mir noch bevor stand und der Gedanke nicht wirklich gewappnet zu sein,
Machte mich fast wahnsinnig.
Und in solchen Momenten kam dann diese eine Frage auf;
Die Frage, ob sich der Weg überhaupt lohnen würde
Ob das Ziel überhaupt so vielversprechend war, wie es schien,
Ob ich mich nicht einfach zufriedengeben sollte.


So vergingen Tage, ja, Wochen, ohne dass ich ging
Meine Freunde hielten mich inzwischen schon für etwas labil,
weil ich mir so viele Gedanken, um, was sie als «Nichts» bezeichneten, machte
Und anstatt, dass ich mich einfach einmal auf den Weg machte,
lieber zuerst alle 100’000 Versionen der bevorstehenden Situation durchdachte.


Ich verlor mich in meinen Gedanken, die sich innerlich zankten,
welche nun die bessere Theorie war, welche Worte ich wohl eher verwenden sollte und
welche Details ich wohl noch nicht ganz so oft überdacht hatte, wie nötig.
Ich verlor mich in meinen Gedanken und je länger ich nachdachte,
desto dringender schien es mir, dass ich endlich ging.


Und so wurde das Bedürfnis von Tag zu Tag grösser.
Nacht für Nacht beschlich mich das Gefühl, mich endlich auf den Weg zu machen, mehr.
Stunde für Stunde hielt ich es Zuhause weniger aus.


Und so kam der Tag.
Der Tag, an dem ich mich endlich zusammenriss, meine Sachen packte und das Haus verliess.
Der Tag, an dem ich hastig, ja, Hals über Kopf mein Board schnappte und aus der Haustür fiel
Der Tag, an dem ich so schnell wie möglich zum Bahnhof fuhr,
den Knopf der Waggontür ungeduldig zehn Mal drückte,
in den Zug schritt und mich leise keuchend in einen Sitz fallen liess.


Der Sitz neben mir war mit einigen Krümeln überzogen
und während den ersten sieben Minuten meiner Fahrt fragte ich mich
welche Kekssorte es wohl war, die hier verspeist wurde.
Ich kam zum Schluss, dass es Butterkekse gewesen sein mussten.


Der Zug lehnte sich in die Kurve und ich mich mit ihm.
Mein Blick suchte sich seinen Weg durch die verschmierte Scheibe
und blieb an dem wolkenverhangenen Himmel hängen.
Die Watte hing dunkel und schwer in dem unendlichen Blau
Und die Sonne fand nur selten ein Guckloch durch das viele Grau


Ein Augenblick später fielen die ersten Tropfen
Und während ich noch darüber nachdachte, wie schnell sich das Leben, genau wie das
Wetter, ändern konnte, prasselte der Regen bereits laut gegen die Fenster.
Wie gefangen folgte mein Blick den einzelnen Tropfen, die dem Fenster entlangliefen,
ineinanderflossen und so kleine Bäche bildeten.


Und manchmal da kam ein Windstoss und fegte dicke Tropfen von der Scheibe
In diesen Momenten erkannte man, dass das Glas durch den Regen von dem angesammelten
Schmutz befreit wurde.
Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen
So hatte doch alles Negative im Leben seine positive Seite


Meine Augen fielen zu

Als ich sie wieder öffnete, brach die Sonne durch die Wolken
Sie trocknete die restlichen Regentropfen auf den Fenstern
Und das erinnerte mich mit einer schmerzlichen Schönheit an meine Kindheit
Wie meine Mutter mich an sich gedrückt hatte und mit ihrer warmen Hand
über meine tränenüberströmten Wangen gefahren war, um sie abzuwischen.


Der Zug hielt an und ich stieg aus,
liess das Board zu Boden fallen und fuhr raus.
Raus aus der Menschenmenge,
Raus aus den erstickend engen Strassen,
Raus aus dem Netz von Häusern und Leuten,
Raus aus allem, was mich noch zurückhielt.
Ich fuhr raus aus dem Gefängnis der Verantwortung.
Raus aus dem Haufen überwältigender Anforderungen.
Raus.


Der Wind fuhr mir durchs Haar
und seit langem fühlte ich mich wieder einmal frei.
Die Stadt zog langsam an mir vorbei
Und Freiheit, Frieden und das Glück der Welt machten sich in mir breit.
In meinem Bauch, in meinem Kopf, in meinem Herzen fühlte ich mich leicht


Ich war nicht allzu lange gefahren,
Da kam ich auch schon an
Öffnete die Tür, um endlich zu erfahren
Worauf ich schon so lange gespannt


Eine lange Holztreppe führte hoch zu meinem Ziel
Das Geländer mit geschwungenen Schnörkeln verziert,
Die Stufen abgenutzt und gleichzeitig blank poliert.
Die Tür am oberen Ende der Treppe erhob sich gross und mächtig über mir.


Ehrfürchtig stieg ich die Stufen hoch, bis ich vor der Tür stand
So nahe davor wirkte sie noch schwerer wie zuvor.
Ein Schild an der Tür bestätigte mir, dass ich am richtigen Ort war
und so holte ich noch einmal tief Luft

bevor ich die Klinke herunterdrückte
und den grossen Raum betrat.


Buch um Buch
Buch über Buch
Buch vor Buch
Buch neben Buch
Bücher.


Ein grosser, hoher Raum mit Wänden voller Bücher tat sich vor mir auf.
Und mit ihm mein Herz.
Überwältigt blieb ich stehen.


Die Stille, die in der antiken Bibliothek herrschte, brachte gemischte Gefühle in mir hervor.
Beklemmung und Harmonie vermischten sich in der Ruhe, die mich umgab
Es war ein paradoxes Gefühl und ich hatte den Eindruck, dass ich mich verlor,
würde es noch lange so still sein.


Bedächtigen Schrittes setzte ich Fuss vor Fuss
In das Herz dieser wundervollen Bücherwelt.
Mein Blick wurde an Bücher gefesselt und ich riss mich nach einigen Minuten widerwillig
wieder los,
Versuchte mich zu sammeln nur um mich erneut in der Stille zu verlieren.
Sie wirkte nun nicht mehr drückend, ganz im Gegenteil, ich hatte das Gefühl Frieden in dieser
Stille zu finden.
Seit langem konnte ich wieder atmen und erst jetzt merkte ich,
dass ich es zuvor nicht mehr gekonnt hatte.


Mit meinem Finger fuhr ich einer Reihe in Leder gebundener Bücher nach
Und ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.
Mein Kopf war wie leergefegt;
Keine störenden Gedanken;
Nur noch Bücher


Ich griff nach einem verkommenen Roman,
Liess die Seiten durch meine Finger gleiten,
Liess den Geruch dieser in meine Nase steigen,
Liess die Buchstaben sanfte Worte in mein Ohr flüstern
Liess mich von den Worten umgeben, gefangen nehmen


Plötzlich stand er da
Etwas in die Jahre gekommen, doch nicht alt
Weisses, doch nicht schütteres Haar
Seine Augen funkelten warm, doch sein Gesichtsausdruck wirkte kalt


Der Bibliothekar
Kurz zuckte ich zusammen,
es schien als ginge alles von dannen,
was ich mir je vorgenommen hatte zu sagen
Für eine kurze Weile schien es mir als konnte ich es nicht wagen auch nur ein Wort zu sagen.


Der Bibliothekar sah mich fragend an
Und ich starrte zurück
Nicht im Stande ihn zu fragen, was mir schon lange auf der Zunge lag
Der Mann, der vor mir stand, war mehr als jemand, der Bücher in Regale einsortierte
Der Mann, der vor mir stand, war ein Künstler


Er war kein Mann der vielen Worte
Die hatte er nicht nötig.
Denn die Bücher, die er schrieb, brachten dich an Orte,
die hast du noch nie gesehen.


Nein, er war kein Mann, der viele Worte sprach,
Doch die Worte, die er zu Papier brachte
übertrumpfen jeden Laut, der jemals gehört wurde.
Die Worte, die er zu Papier brachte, malen Farben in deinen Kopf,
die hast du noch nie gesehen!


Und was für eine Kunst es doch ist,
mit schwarzen Buchstaben auf weissem Papier
solch kräftige Farben entstehen zu lassen.


Ich sammelte mich
Meine Gedanken, meinen Mut, die Buchstaben, die mir soeben entfallen waren
Und atmete tief ein


«Ich», setzte ich an und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, «Ich habe ihr Buch gelesen.»


Der Bibliothekar lächelte und die Kälte verschwand aus seinem Gesicht
Und in diesem Moment schien es, als wäre ein Siegel in mir gebrochen.
Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus.
Ich holte weit aus und liess keinen Teil von dem, was ich mir vorgenommen hatte zu sagen aus.


Er war kein Mann der vielen Worte, doch er hörte zu.
Und als ich zu Ende kam und ihn ansah,
erkannte ich das Leuchten in seinen wachen Augen.
Er sah mir an, wie viele Fragen ich hatte, wie wenig ich noch verstand
und forderte mich auf, sie zu fragen.


Und so begann ich.
Ich stellte Frage um Frage
Und er stand mir mit Antworten zur Seite
Seine Antworten waren manchmal Worte,
manchmal war es ein Blick zu mir oder in die Ferne,
manchmal auch nur ein Schweigen
Doch es waren Antworten
Und das war vorerst genug


Und als wir dasassen und ich ihm zuhörte,
wurde mir bewusst, dass das Ziel es wert ist, den Weg auf sich zu nehmen.

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