Im Herzen einer alten Stadt, verborgen hinter hohen Mauern und vergessenen Gassen, lag ein Garten, von dem niemand wusste. Er war eingehüllt in eine unheimliche Stille, die das Lachen und die Stimmen der Welt draussen nicht durchdringen konnte. Die Mauern, bedeckt von moosigen Steinen und dichten Ranken, schienen seit Jahrhunderten unberührt.
Es gab viele Geschichten über diesen Garten, doch keine war jemals bestätigt worden. Einige behaupteten, er gehöre einem längst verstorbenen Adeligen, der in Einsamkeit lebte und seine Geheimnisse mit ins Grab nahm. Andere flüsterten, dass der Garten verflucht sei und jene, die versuchten, ihn zu betreten, nie wieder gesehen wurden.
Eines Tages stolperte die sechzehnjährige Elena, ein neugieriges und abenteuerlustiges Mädchen, zufällig über eine alte, zerbrochene Karte in der staubigen Ecke einer Bibliothek. Die Karte zeigte den Grundriss der Stadt, doch in einer Ecke war etwas verzeichnet, das sie noch nie gesehen hatte – ein kleiner, quadratischer Bereich, umgeben von einer Mauer. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich die Karte genauer ansah. «Der verschlossene Garten», stand in schwachen Buchstaben darunter.
Elena konnte nicht widerstehen. Ihre Neugier trieb sie an, und so machte sie sich an einem warmen Spätsommerabend auf den Weg, um den Garten zu finden. Sie folgte den verwinkelten Gassen der Stadt, bis sie schliesslich vor einer hohen Mauer stand, die der Beschreibung auf der Karte entsprach. Versteckt hinter einem dichten Vorhang aus Efeu fand sie eine alte, eiserne Tür, die halb verrostet war und trotzdem irgendwie intakt wirkte.
Mit zitternden Händen drückte sie die Klinke herunter. Zu ihrer Überraschung gab die Tür nach, als ob sie nur auf sie gewartet hätte. Ein kalter Luftzug strich über ihr Gesicht, als sie die Schwelle überschritt. Der Garten, den sie betrat, war anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Statt der erwarteten Wildnis und des Verfalls fand sie einen gepflegten, fast majestätischen Ort vor. Die Blumen blühten in allen Farben, die Bäume standen stolz und hoch, und ein kleiner Teich lag still in der Mitte.
Doch etwas fühlte sich seltsam an. Es war, als würde der Garten leben, als ob er sie beobachtete. Elena spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, aber sie konnte den Blick nicht abwenden. In der Mitte des Gartens entdeckte sie eine alte, steinerne Bank, auf der ein Buch lag. Vorsichtig näherte sie sich und hob es auf. Das Buch war alt, die Seiten vergilbt, doch die Schrift darin war klar und deutlich. Es waren keine Geschichten oder Gedichte, sondern Aufzeichnungen, Tagebucheinträge eines Mannes namens Sebastian von Falkenstein.
Sebastian beschrieb in seinem Tagebuch, wie er diesen Garten als Rückzugsort geschaffen hatte, um den Geist seiner verstorbenen Frau zu ehren. Er schrieb von den Stunden, die er in tiefer Trauer hier verbrachte, bis er schliesslich die seltsame Präsenz des Gartens spürte. Der Garten begann zu wachsen, zu blühen, als ob er von Sebastian Trauer genährt würde. Schliesslich schrieb er von der Entdeckung, dass der Garten eine Art Leben entwickelt hatte – ein Bewusstsein, das sich nach der Trauer und der Liebe sehnte, die ihm Sebastian gab.
Elena schauderte bei diesen Zeilen. Sie wollte das Buch schliessen und den Garten verlassen, doch etwas hielt sie zurück. Es war, als ob der Garten sie nicht gehen lassen wollte. Die Luft wurde schwerer, und die Blumen, die zuvor so lebendig ausgesehen hatten, begannen sich zu neigen, als ob sie unter einem unsichtbaren Gewicht litten.
Plötzlich verstand Elena. Der Garten hatte Sebastians Liebe und Trauer aufgenommen, aber seit seinem Tod war er verlassen und hungrig nach diesen Emotionen geblieben. Der Garten brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, jemanden, der ihm Liebe und Zuwendung schenkte – oder ihn für immer verlassen würde.
In diesem Moment hörte Elena eine Stimme, die sanft ihren Namen flüsterte. Es war aber nicht bedrohlich, sondern voller Sehnsucht und Einsamkeit. Sie wusste, dass sie den Garten verlassen musste, bevor er vollständig von ihr Besitz ergriff. Hastig legte sie das Buch zurück und wandte sich zur Tür. Doch bevor sie ging, versprach sie leise, wiederzukommen – nicht, um ihre Trauer zu nähren, sondern um den Garten von seinem Fluch zu befreien.
Mit diesem Versprechen verliess Elena de verschlossenen Garten. Die eiserne Tür schloss sich hinter ihr, und die Stille kehrte zurück. Doch in ihrem Herzen wusste sie, dass ihre Verbindung zu diesem geheimnisvollen Ort niemals enden würde.
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