"Der Spiegel" – Eine Geschichte von Alexandra Hälg - Young Circle

«Der Spiegel» – Eine Geschichte von Alexandra Hälg

Member Stories 2024

«Der Spiegel» – Eine Geschichte von Alexandra Hälg

Auf einem Flohmarkt in New York entdeckt die Protagonistin einen geheimnisvollen Spiegel, der sie in die Zukunft versetzt, wo sie ihr älteres Ich trifft und erfährt, wie wichtig es ist, Träume zu verfolgen und mutige Entscheidungen zu treffen. Diese unerwartete Begegnung lässt sie erkennen, dass sie nicht in Bedauern über verpasste Chancen leben möchte und inspiriert sie dazu, ihr Leben aktiv zu gestalten.

Ich quetsche mich durch die vielen Leute auf dem Flohmarkt im Central Park. Man kommt kaum voran. Ständig trete ich jemandem auf die Füsse. »Entschuldigung», murmle ich zum wiederholten Male. Überall stehen Tische die sich fast biegen unter all den Sachen. Man könnte meinen, die Leute hätten ihren halben Haushalt mitgebracht. Unter all dem Krempel springt mir  ein mittelgrosser, ovaler Spiegel ins Auge. Auf dem etwas abgewetzten Rahmen sind kleine Muscheln und Süsswasserperlen aufgeklebt. Gleich auf den ersten Blick weiss ich, dass ich ihn kaufen werde. Irgendetwas daran hat es mir angetan, auch wenn ich nicht sagen könnte, was es ist. «20 Dollar und er gehört dir», sagt die Verkäuferin lächelnd. Ich nicke zustimmend und reiche ihr den Schein. «Wissen Sie zufällig, wo dieser Spiegel herkommt?» «So genau kann ich dir das nicht sagen. Ich habe ihn als Jugendliche von meiner Grossmutter geschenkt bekommen. Wo sie ihn herhat, kann ich dir beim besten Willen nicht beantworten. Tut mir leid. Aber eins weiss ich. Ein gewöhnlicher Spiegel ist dies ganz und gar nicht. Du wirst noch früh genug herausfinden, was es damit auf sich hat», sagt sie geheimnisvoll und zwinkert mir zu. Mit einer klaren Geste gibt sie mir zu verstehen, dass unser Gespräch hiermit beendet ist und wendet sich ihrer weiteren Kundschaft zu. Leicht irritiert bedanke ich mich und gehe weiter. «Was war das denn?», frage ich mich selbst. Warum macht diese Frau solche merkwürdigen Andeutungen, aber möchte mir nichts Genaueres dazu sagen? Ich nehme mir vor, den Spiegel zu Hause nochmals genauer zu begutachten. Jetzt muss ich ersteinmal nach Hause. Mit meiner  17 jährigen Zwillingschwester und meiner Mutter lebe ich in der Stadt, die niemals schläft. New York City ist ziemlich beeindruckend, auch für mich, die schon ihr ganzes Leben hier verbracht hat.

In meinem Zimmer packe ich den Spiegel aus dem eingewickelten braunen Papier aus und stelle ihn auf meinen grossen Schreibtisch. Von dort aus habe ich eine atemberaubende Sicht auf das Empire State Buildung. Oft sitze ich mit meinem Fernglas dort und beobachte Menschen.

Die bunten Muscheln sind sorgfältig auf dem Holz aufgeklebt worden. Auf der Rückseite befindet sich ein kleiner Haken, um ihn an der Wand zu befestigen. Ansonsten ist weder eine Gravierung  noch irgendeine andere Auffälligkeit zu sehen. Schade, jetzt werde ich wohl nie erfahren, was die Frau mit ihren Andeutungen meinte. Ich beschliesse, den Spiegel über meinem Schreibtisch aufzuhängen. Kaum habe ich meine neue Errungenschaft an der Wand befestigt und einen Blick hineingeworfen, passiert etwas Seltsames. Plötzlich zersplittert das Glas aus dem Nichts in tausend Teile. Doch die Teile fallen nicht hinunter, sondern bleiben an Ort und Stelle. Mir wird schwarz vor Augen und ich sinke zu Boden, ehe ich einen weiteren klaren Gedanken fassen kann.

Ich wache mit einem pochenden Schädel wieder auf, befinde mich aber nicht zu Hause, sondern in einem mir unbekannten Zimmer. Vor mir sitzt eine schätzungsweise 80-jährige Frau, mit einem Brief in der Hand in einem Schaukelstuhl. Auf einmal habe ich einen Kloss im Hals, denn diese alte Frau sieht aus wie eine gealterte Version von mir selbst. Sie ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten, nur eben viel älter. Spinne ich etwa? Wie ist das denn möglich? «Hallo», sage ich ihr. Doch sie scheint mich weder zu hören noch zu sehen. Ich gehe zu ihr hin und berühre ihre Hand, doch ich scheine wie eine Art Geist zu sein, der durch Dinge durchdringen kann, ohne einen Abdruck zu hinterlassen. Was tue ich denn hier verdammt nochmal fluche ich, während mir dämmert, das ich gerade mein zukünftiges Ich sehe. Mein Leben in sechzig Jahren.

Plötzlich fängt sie oder besser gesagt, fange ich an, aus dem Brief vorzulesen. Wie ich erfahre, ist der Brief von meiner Enkelin, die momentan mit ihrem ausgebauten Camper eine Reise durch Europa macht. Sie schreibt von all ihren abenteuerlichen Erlebnissen. Dabei merke ich, wie ihr Tränen in die Augen treten und sie den Brief weglegt. Schon von Anfang an, wirkte sie einsam und irgendwie traurig. Schliesslich fängt sie auch noch an, mit sich selbst zu reden. « Sie kann ihre Träume leben. Wie schön. Hätte ich mich doch damals nicht von anderen beeinflussen lassen. Die Welt mit einem Camper zu entdecken war auch immer mein grosser Traum. Aber alle haben es mir ausgeredet. Es wäre zu gefährlich und so weiter. Jetzt bin ich zu alt. So viele Dinge habe ich nicht getan, die ich so gerne hätte machen wollen. Ach, seufzte sie und wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. Wäre ich noch einmal jung, würde ich vieles anders machen und mich niemals mehr durch andere von meinen Träumen abbringen lassen.

In dem Moment wird mir schlagartig bewusst, wie wahr diese Worte doch sind. «Sie haben recht», rufe ich, obwohl sie mich nach wie vor nicht hören kann. «Ich meine natürlich, ich habe vollkommen recht, denn die alte Frau bin ja ich. Ich möchte später nicht traurig sein, dass ich im Leben nicht mutig genug war!

Auf einmal wird mir erneut schwarz vor Augen. Als ich zu mir komme, befinde ich mich zu Hause vor dem Spiegel, der wie durch Zauberhand wieder ganz ist. Es ist alles so, als wäre nichts gewesen. Bis auf ein paar Dinge, die mir dadurch klar geworden sind.

Mir ist bewusst geworden, was es bedeutet, nur ein Leben zu haben. Irgendwann ist dieses zu Ende und man blickt entweder auf ein glückliches und erfülltes Leben zurück oder auf eines mit ungenutzten Chancen und Möglichkeiten. Niemand sollte irgendwann aufwachen wie aus einem Traum und realisieren, was man hätte erleben können und wie das Leben hätte sein können, wenn man sich doch nur getraut hätte, dieses und jenes zu tun. Die Welt ist dazu da, Erfahrungen und schöne Erlebnisse zu sammeln und etwas zu riskieren.

Ist es nicht grossartig, auf alte Zeiten zurückblicken zu können und auf jede mutige Entscheidung stolz zu sein und sich zu freuen?

Ich möchte mich jedenfalls nicht in achtzig Jahren über Dinge ärgern, die ich nicht getan habe.

Und Du?

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