"Der Sinn im Tod" – eine Geschichte von Erlisa Kastrati - Young Circle

«Der Sinn im Tod» – eine Geschichte von Erlisa Kastrati

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«Der Sinn im Tod» – eine Geschichte von Erlisa Kastrati

Morgen war meine Beerdigung. Was hatte ich in dieser Zeit gemacht? Ich war umhergewandert, immer meiner Familie nach. Jetzt erst nistete sich ein massives Gewicht auf meine Brust, welches es mir erschwerte zu atmen, doch… wie konnte ich überhaupt atmen?

Ohne Sinn ist alles bedeutungslos.

Das war schon mein ganzes Leben lang so. Wenn ich keinen Sinn in einer Sache sah, tat ich sie nicht. Das erschien logisch, nicht? Sinn war, was uns vorantrieb, uns anspornte und noch wichtiger, echte Bedeutung in Dinge brachte.

Schon immer hatte ich nach dem Sinn in Allem gesucht. Mit der Zeit erkannte ich, dass sich dieser oft später offenbarte; nur, weil es jetzt noch nicht logisch erschien, hiess das noch lange nichts.

Wie der Sinn des Lebens.

Ich war überzeugt gewesen, dass dieser sich von selbst irgendwann zeigen würde. Ich hatte dem Moment sogar sehnlichst entgegengefiebert.

Bis zu meinem Tod. Bis ich über meiner eigenen Leiche schwebte, ohne bemerkbar zu sein. Das hatte keinen Sinn ergeben.

Ich wandelte schon eine ganze Weile nicht mehr unter den Lebenden. Ich hatte gesehen, wie mein lebloser Körper gefunden worden war (Gelinde gesagt traumatisierend), wie die Ambulanz auftauchte und wie dann meiner Mutter im Gang der Intensivstation mitgeteilt wurde, dass ihre Tochter es nicht überstanden hatte. Das war sechs Tage her. Morgen war meine Beerdigung. Was hatte ich in dieser Zeit gemacht? Ich war umhergewandert, immer meiner Familie nach. Jetzt erst nistete sich ein massives Gewicht auf meine Brust, welches es mir erschwerte zu atmen, doch… wie konnte ich überhaupt atmen? Ich war doch tot?Mit achtzehn. Das war so jung! Ich hatte nichts erlebt, nichts Bedeutsames in die Welt gesetzt. Nichts Sinnvolles. Und jetzt steckte ich fest. Keine Ahnung wieso, denn weder konnte mich jemand sehen oder hören, noch konnte ich etwas berühren. Wie ein Geist.

Verdammt. Wieso das alles? Es ergab keinen Sinn!

In meinem Zimmer stehend raufte ich mir die Haare. Ich zog mich zum ersten Mal wieder hierhin zurück, weil meine Familie sich gerade mental auf meine Beerdigung morgen vorzubereiten schien; das musste ich nicht mitansehen.

Meine unerledigten Hausaufgaben lagen aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch, die ungelesenen Romane stapelten sich neben meinem Nachttisch und die Einkaufstüte voller neuer Klamotten stand noch unberührt auf meinem Bett. Genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Hier war nichts angefasst worden; als hätten meine Schwester und meine Mutter Angst, das Zimmer zu betreten. Als würde es meine Abwesenheit verwirklichen…

Mein Zimmer schien in der Zeit festgeblieben. Keine Veränderung. Komplett eingefroren.

So wie ich.

Gott, ich musste hier raus. Irgendwohin, wo ich vergessen konnte, was gerade passierte. Ich verliess unser Haus, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, doch bevor ich es realisierte, fand ich mich auf der Waldbrücke wieder, dessen unglaubliche Aussicht mich immer beruhigt hatte. Was früher einmal mein Lieblingsort gewesen war, liess mich nun frösteln.

Der Ort, an dem ich meinen letzten Atemzug gehaucht hatte.

Ein abendlicher Spaziergang war wohl nicht die weiseste Entscheidung gewesen, besonders nicht allein. Doch ich hatte in Ruhe meinen Kopf klären wollen.

Wie erwartet war der Ausblick so schön wie immer gewesen. Unerwartet war der Mann, der auch dort stand. Normalerweise war hier um diese Uhrzeit niemand. Ich hatte umkehren wollen, doch er war nähergetreten. Was als nächstes geschehen war, verschwamm glücklicherweise in meinen Gedanken zu einem Nebel. Ein Schlag ins Gesicht erlöste mich komplett von den Erinnerungen der Schrecken dieser Nacht. Doch es nahm mir nicht nur mein Bewusstsein, sondern im gleichen Moment auch mein Leben.

Einen Schauer unterdrückend schlang ich meine Arme um mich. Ich wünschte, ich könnte diese Nacht vergessen. Am liebsten alles.

Die Sonne schien strahlend vom Himmel und badete alles in einen sanften, goldenen Schimmer.

Ich hasste es. Heute war mein Begräbnis. Es sollte in Strömen regnen; nichts sollte wunderschönschimmern. Besonders nicht der Friedhof.

Beerdigungen erschienen mir schon immer sinnvoll. Man konnte sich gründlich von den Toten verabschieden, trauern und dann das Leben weiterleben. Die eigene Beerdigung war da etwas anderes. Als sich langsam die trauernde Gruppe von Menschen um den glänzenden Sarg versammelten – meinem Sarg –, fiel mir auf, dass ich viele der Gäste nicht erkannte. Vielleicht waren es Freunde meiner Mutter, da es alles Frauen waren. Ich zählte acht von ihnen. Es waren mehr Leute hier, als ich gedacht hätte.

Dann begann die Bestattung. Zuerst sprach meine Schwester. Ihre ergreifende Rede über die Liebe zwischen ihr, meiner Mutter und mir rührte alle zu Tränen und liess mich als komplettes Wrack zurück. Sie selbst blieb stark, wie sie es schon immer gewesen war.

Danach folgte meine Mutter, welche wenig sagte, doch es traf mich genauso schlimm. Als sie mit erstickter Stimme ,,ich vermisse dich’’ hauchte, brach ich ein zweites Mal zusammen. Warum musste ich nur sterben? Ich wollte bei ihnen sein, lachend und lebendig. Was war der Sinn des Ganzen, wenn wir doch nur litten?

Mein Körper wurde von Schluchzern überwältigt. Ich bezweifelte, dass ich dies überstehen würde.

,,Danke, dass ihr mich Heute sprechen lasst.’’

Verwirrt runzelte ich die Stirn; Diese Stimme erkannte ich nicht. Als ich zum Podium blickte, stand da eine unbekannte Frau. Weshalb sprach sie an meiner Beerdigung?

,,Mein Beileid an die Familie, die ihre Tochter verloren hat. Besonders auf diese schreckliche Art. Was ihr geschehen ist, ist unvorstellbar – und bedauerlicherweise war sie nicht die Einzige. Jedoch war sie die Einzige, welche weiteres Leiden verhindern konnte.’’

Warte. Was?

,,Darren Stein wurde vorgestern gefasst und vor Gericht zitiert, wegen Vergewaltigungen an acht Frauen. Und der Ermordung dieser Frau, welche vor einer Woche von uns ging. Aufgrund des Kampfs um ihr Leben fand man Spuren des Täters an ihrem Körper. Diese Beweisstücke wären nicht gefunden worden, hätte sie sich nicht mutig gewehrt. Ihr Tod ist eine Tragödie, doch ihre Aufopferung ein Geschenk. Für uns – die ebenfalls Leidtragenden an seinen Taten – ist sie eine Heldin. Wir verdanken ihr unseren Frieden.’’

Die Welt schien für einen Moment still zu stehen. Den rieselnden Applaus nahm ich unbewusst wahr, denn ich starrte immer noch die Frau an.

Ein Kribbeln erfasste mich. Ich begann, meinen Körper langsam nicht mehr zu spüren und es fühlte sich an, als löste ich mich stückchenweise auf. Doch ich konnte nur starren, als mein Sarg langsam hinabgelassen wurde.

Hm. Eine Heldin. Vielleicht… hatte der Tod doch seinen Sinn.

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