«In meinem Kopf gibt es mindestens zwei Welten, aber mit grosser Gewissheit, sind es noch viel mehr, sodass ich sie weder benennen noch zählen könnte.
Und in jeder Einzelnen werde ich bei einem anderen Namen gerufen.
In einer davon, die alle um mich herum die «reale» Welt nennen, heisse ich Hiraeth – Heimweh.
Es gibt eine Geschichte: Am grossen Abgrund, dort wo die lange Brücke beginnt, steht der Baum, den wir hier im Norden, den «Baum am Rande der Welt» nennen. Sein Traumname lautet Faolán.
Sie sagen, er singe leise, verborgen zwischen tausend grünen Blättern, das magische Lied der Sehnsucht. Nur wenige haben je seinen Ruf vernommen und Noch weniger sind ihm jemals gefolgt.
Ich weiss nicht, wer mir meinen Namen schenkte und welche Geschichte sich dahinter verbirgt.
Seit ich mich erinnern konnte, wohnte ich hinter grossen, grauen Mauern, deren gusseiserne Tore noch nie das Klappern eines Schlüssels vernommen hatten.
Auch noch unter der Bettdecke konnte ich die Kälte spüren, die die Mauern um mich herum ausstrahlten und die der Kälte der Menschen um mich herum in nichts nachstand.
Wir waren zweiundfünfzig. Waisenkinder.
Sie sagten mir da, dass die Götter tot sind. Sie sagten mir, es gibt nur eine Welt. Eine Welt, in der man funktionieren muss und kein Platz für leben bleibt.
Wie lange ich ihnen glaubte! Bis mein Inneres nur noch eine graue formlose Masse war, willenlos und bereit durch ihre Doktrinen geformt zu werden.
Eigentlich war ich schon lange tot. Und ich bemerkte es kaum!
Aber heute will ich leben. Das Leben kennenlernen, die Welt hier draussen.
Irgendwie hat die sagenumwobene Melodie der tausend Blätter Faoláns ihren Weg zu meinem Herzen gefunden, vielleicht hat mein Name sie hergerufen…
Ich wusste schon lange, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden. Das hatte ich bereits mit vier Jahren herausgefunden.
Doch erst heute Nacht, in meiner einundzwanzigsten Geburtsnacht, machte ich Gebrauch von meinem Wissen.
Bei uns hiessen Geburtstage- und Nächte keine Torte mit Kerzen, keine Lieder und Segenswünsche. Schon gar nicht die des 22. Lebensjahres.
Warum, magst du nun fragen. Das erzähle ich ein andermal.
Jedenfalls begleitete mich das Heimweh schon immer – ich weiss nur nicht wonach. Alles, was ich weiss, ist dass ich niemals mehr dorthin zurückwill, wo die grauen Mauern in den Köpfen der Menschen die Sonne verdecken.»
Lange Zeit war es still. So still als könne man dem Wachsen der Pflanzen und Atmen der Sterne lauschen.
Erst nach einiger Zeit, die Hiraeth wie drei Ewigkeiten vorkam, schaute Iyân sie an und seine braunen Augen sprachen dieselbe Sprache, es brauchte keine zurechtgebogenen und verschnörkelten Worte.
«Weisst du, mein Name bedeutet Träumer», meinte er leise.
«Bis heute habe ich nur hinter grossen Fenstern mit noch grösseren Eisenstäben geträumt. Ich habe die Bahnen der Sonne und den Zug der Vögel verfolgt, während sie mir ständig die ewige Leier guter Vorsätze aufsagten, damit ich bald hier rauskäme, aus diesem elenden Ort, der nach Spitalgängen, schlechter Kantine und längst aufgegebenen Träumen roch.
Jede Nacht quälten mich Albträume, als wäre der Tag nicht Folter genug, frassen sie sich in mich hinein und durch mich hindurch…».
Iyán stockte, als wäre er noch immer dort und blickte starr ins Leere.
Hiraeth schwieg und liess ihre Gedanken Bilder zu dieser Welt malen, die er beschrieb, seiner Geschichte, die Iyán ihr so offen erzählte, dass sie sich fast schämte, zuvor so brüsk gewesen zu sein.
«Dort habe ich gelernt zu warten, warten auf eine neue Welt, die so viel bunter und ausgelassener sein würde. Und ich begann bereits, sie zu erschaffen, in meinem Inneren schaute ich jeder Blume, jedem Baum beim Wachsen zu, freute mich über das erste Rotkehlchen, das sein Nest im Geäst der grossen Eiche baute und seine kleinen, quietschenden Jungen darin aufzog, bis sie ausgeflogen waren.
Ich hörte dem Wind zu, der die Gräser auf der grossen Steppe zerzauste und erfrischte mich im klaren Wasser des Bergsees, indem sich mein Gesicht tausenfach widerspiegelte, bis ich merkte, dass ich meine Hände unter den spärlichen Wasserstrahl des Waschbeckens in der Jungen Toilette hielt und mein Spiegelbild im vergilbten Spiegel an der Wand betrachtete als würde sich mein Gesicht darin plötzlich auflösen wie Zuckerwatte im Wasser.»
Hiraeth musste zum ersten Mal, seit Iyán zu erzählen begonnen hatte, lachen. Wie gut es tat dieses Lachen, das tief aus ihrem Innern aufstieg wie Seifenblasen, in denen sich das Sonnenlicht verfing und in tausend glitzernden Regenbögen zersprang.
Da musste auch Iyán lachen, er lachte über die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Welt an ihre vermeintlich unerschütterliche Realität klammerte. Schliesslich sass er, entgegen allen Möglichkeiten, an einem lebendig züngelnden Feuer und schaute zurück auf sein Spiegelbild das hinter den riesigen Fenstern, mit den noch grösseren Eisenstäben, verloren dasselbe Himmelszelt betrachtete, unter dem er nun ein anderes Leben begonnen hatte.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Gemeinsam. Und obwohl sie noch so wenig voneinander wussten, verband sie ein untrennbares Band der Freundschaft, das nur dann entsteht, wenn zwei Seelen sich ohne Worte verstehen, und beide spüren, dass die Sonne an vielen Orten aufgeht, während sie an Anderen bereits untergegangen ist.
Noch viele Momente des Lernens und viele Wanderungen würden auf Hiraeth und Iyán warten, während ihrer Reise zur grossen Brücke. Das Heimweh wird sie weitertreiben, immer weiter und die Träume werden sie dabei begleiten.
Sie liefen bereits der Abenddämmerung entgegen, die ihre Flügel beruhigend über die Sonnenschwangeren Hügel legte, als Hiraeth stehenblieb und leise sagte «Hörst du das auch, Iyán?» dieser blieb stehen und lauschte nun ebenfalls. «Ich sehe weit, weit entfernt, tausend grüne Blätter, sich sanft im Winde wiegen, sie leuchten wie das erste Grün des Frühlings und sind so zart wie die Flügel einer Libelle.» «Ja! Sie hauchen ihr Lied in den Wind und erzählen von Heimweh, Freundschaft und Träumen, die Brücken bauen über einen Abgrund, der durch Realitäten geschaffen, und dennoch nur durch Fantasie überwunden werden kann.
Ohne dass die beiden kleinen Gestalten da unten, die so tief in ihr Leben verwickelt waren, es bemerkten, zog hoch über ihnen, ein Rotmilan seine Kreise.
Reiche jetzt deine eigene Geschichte ein oder lies weitere Member Stories: