"Der Nachmittag im Buch" – eine Geschichte von Elina Zimmermann - Young Circle

«Der Nachmittag im Buch» – eine Geschichte von Elina Zimmermann

Member Stories 2022

«Der Nachmittag im Buch» – eine Geschichte von Elina Zimmermann

Für eine kurze Zeit kenne ich keine Grenzen; nichts ist unmöglich und wenn es das doch ist, so tue ich eben das Unmöglich…

Sonnenlicht fällt als Wasserfall über die Klippen. Fasziniert schaue ich einige Minuten zu, lasse die Schönheit des Anblickes in mein Herz sinken. Dann setze ich mich auf eine Bank, schlage meine aktuelle Lektüre auf und begebe mich in eine andere Welt… Ich verliere die Kontrolle über meinen Körper, ab jetzt läuft alles wie automatisch. Als wäre ich eine Figur im Puppentheater und kein Mensch. Ich träume mit offenen Augen, habe jegliches Zeitgefühl verloren. Während meine Linsen über die Zeilen fliegen, trete ich durch ein Portal und bin plötzlich eine Königin, deren Königinnenreich gestohlen wurde, die sich nun durch die Wälder kämpfen muss, um sich zurückzuholen, was rechtmässig ihr gehört. Hinter jedem Baum wartet Gefahr, doch ich habe meine engsten Freunde, um mir zu helfen. Für eine kurze Zeit kenne ich keine Grenzen; nichts ist unmöglich und wenn es das doch ist, so tue ich eben das Unmöglich. Zeitgleich bemerke ich nicht den Untergang der Sonne, denn in meiner Welt ist sie schon lange nicht mehr über den Horizont gestiegen. Ebenso wenig spüre ich die Kälte, die ihre Arme um mich legt und mich fest an sich zieht. In meinem Kopf bin ich es nämlich gewohnt. Erst als meine Nasenspitze das Papier des Buches berührt, weil ich die Buchstaben sonst nicht mehr entziffern kann, tauche ich auf. Ich erwache. In der Luft liegt noch ein letzter Hauch von Tageslicht. Die ersten Schwestern der Sonne sind bereits aufgetaucht, um an ihrer statt über mich zu wachen. Eine Eule kreischt; eine Fledermaus flattert über meinen Kopf. Die Nacht erwacht. Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich zurück in meine Welt versetzt. Angst und Kälte kriechen mir in die Knochen. Doch das Gefühl vergeht schnell wieder, denn ich erinnere mich, dass ich nicht mehr an diesem Ort bin. Der Spiegel der Sonne taucht über den Felsen auf. Sanftes Licht fällt zu Boden. Gerade hell genug, um der Königin den Weg zu leuchten. 

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