Rettung in letzter Sekunde
Das Einzige, was ich noch hören konnte, war mein angestrengtes, unregelmässiges Atmen und das laute Tosen der Wellen.
Ich ruderte nun schon seit einigen Stunden über den endlos grossen Ozean und merkte, wie meine Arme immer schwächer und schwächer wurden. Das Wetter war in den letzten Stunden zum Glück erstaunlich gut gewesen. Es wehte ein kleines Lüftchen, das meine Haare ein wenig zerzauste. Nun bemerkte ich, dass das Wetter jedoch bald umschlagen würde und zog meinen Schal enger um meinen Hals. In den letzten Minuten war ein eisiger Wind aufgezogen und die Wellen schlugen laut gegen mein kleines Boot. Das Tosen der Wellen wurde immer lauter und ich wurde in meiner kleinen Nussschale hin und her geschleudert. Das Wasser der aufkommenden Gischt, spritze mir in die Augen und verschleierte meine Sicht für einige Sekunden. Als ich wieder klar sehen konnte, nahm ich meine letzte Kraft zusammen und ruderte gegen den unberechenbaren Wind an. Und dann endlich sah ich sie, auch wenn nur als kleinen Punkt in der Ferne, aber ich sah sie, die geheimnisumwobene Insel, von der ich schon so lange geträumt hatte: Oak Island. Jetzt, da ich sie sah, wollte ich mich nur noch mehr beeilen. Der Wind hatte sich nun ein wenig gelegt und ich versuchte, nochmal einen Zahn zuzulegen. Ich wusste nicht, woher ich diese immense Kraft noch hernahm, denn ich war total am Ende, kam aber innerhalb der nächsten Minuten sicher eine Seemeile voran und war der Insel nun schon ziemlich nahe.
Als ich nur noch ungefähr dreissig Meter von der Insel entfernt war, kam plötzlich wieder ein stürmischer Wind auf und der Regen wurde immer stärker und stärker. Die Wucht der Wellen war riesig und sie knallten gegen die Seiten meines nun schwankenden Bootes. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun, denn das Meer wurde immer lauter und mein Boot drohte zu kentern. Da passierte es, eine riesige Welle war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und kam mit rasender Geschwindigkeit auf mich zu. Ich klammerte mich an den Seitenwänden meines kleinen Bötchens fest. Meine Handknochen traten schon auffallend weiss hervor, weil ich mich so stark festhielt, da ich Angst hatte über Bord zu gehen. Die Welle klatschte direkt vor meinem Boot zusammen. Meine Nussschale schwankte nun noch mehr und ich wusste, dass ich bei der nächsten grossen Welle kentern würde. Da kam sie. Mit rasender Geschwindigkeit kam die Welle näher und trug mein Boot noch einige Meter übers Meer, bevor sie über mir zusammenschlug. Ich wurde über das Boot geschleudert und mir entfuhr ein angstvoller Schrei.
Ich traf auf das Wasser und schrie erneut auf. Es war eiskalt und biss sich sofort durch meine Kleidung. Ich fing am ganzen Körper an zu zittern, und in dem Moment wurde mein Kopf von einer nächsten Welle abrupt unter Wasser gedrückt. Ich hielt erschrocken die Luft an, allerdings hatte ich meinen Mund zu spät geschlossen und verschluckte mich am salzigen Wasser. Mein Kopf gelangte wieder an die Oberfläche und ich fing an zu husten. Das Salzwasser brannte schrecklich in meinem Hals. Meine Kleider klebten wie nasse Säcke an mir und zogen mich hinunter. Ich versuchte verzweifelt mich von meinem Schal zu befreien, der sich gefährlich fest um meinen Hals geschlungen hatte und mich fast erwürgte. Nach einiger Bemühung hatte ich es endlich geschafft und ich liess den Schal erleichtert los. Langsam sank er in die Tiefen des Ozeans und ich blickte ihm mit klappernden Zähen hinterher.
Als die nächste grosse Welle auf mich zurollte, wusste ich, dass ich diese nicht überleben würde. Ich hatte einfach nicht die Kraft dazu und diese Erkenntnis machte mich wahnsinnig. Ich wurde erneut unter Wasser gedrückt und verabschiedete mich innerlich schon von meinem Leben. Ich wusste, dass ich mich nicht mehr retten konnte. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, wild um mich zu schlagen und wie verrückt zu schreien. Ich wusste, dass ich verloren war. In meinen Gedanken dachte ich noch ein letztes Mal über mein vergangenes Leben nach. Ich verstand nun, wie das in den Büchern immer gemeint war, wenn das Leben in den Köpfen der Menschen noch einmal vorbeizog, denn genau das geschah gerade bei mir. Ich dachte an Mama, Papa, meine kleine Schwester Isabell, meinen grossen Bruder Jack, und an alle, die ich liebte. Ich dachte daran, wie wir vor einigen Tagen noch alle beisammengesessen hatten und ausgelassen über meinen Vater gelacht hatten, der sich ein wenig komisch dabei anstellte, einen Granatapfel zu rüsten. Er hatte irgendetwas falsch gemacht und war über und über mit pinken Spritzern besetzt gewesen. Auch wenn ich gerade durchs Wasser geschleudert wurde und fast keine Kraft mehr in mir spürte, stellte ich fest, dass ich lächelte und mich noch ein letztes Mal umsah. Ich liebte das Meer und ich war froh darüber, dass dies das Letze war, was ich in meinem Leben zu sehen bekam.
Ich schloss meine Augen und trieb langsam in den Tod. Auch wenn es mir für meine Familie und Freunde leidtat, war ich froh, dass ich so sterben würde, im Meer und nicht bei einem Autounfall oder wegen einer Krankheit. Ich wusste, dass dieser Gedanke vielleicht egoistisch klang, dennoch war es mir egal. Ich merkte, wie mir langsam die Luft ausging und ich hiess den Tod willkommen, ich war bereit zu sterben, da es das Meer nun einmal wollte und so vorhergesehen hatte.
Plötzlich schlang sich ein Paar starke Arme um meine Taille und zogen mich an die Oberfläche. An der Oberfläche angekommen, fing ich an zu prusten und das Wasser, welches sich in meinem Mund gesammelt hatte, auszuspucken. Mein Retter drehte mich nun so, dass mein Kopf in seinen Armen lag, und er mich hinter sich herziehen konnte. Mit kraftvollen Beinschlägen zog er mich durchs Wasser und achtete genau darauf, dass mein Kopf nicht unter Wasser gelangte. Ich war immer noch ein wenig benommen, aber langsam kamen all meine Sinne zurück und ich konnte auch wieder etwas ruhiger atmen. Da ich aber immer noch ziemlich erschöpft war, liess ich mich weiterziehen, da es sich den Umständen entsprechend sehr gut anfühlte. Nun fing ich an nachzudenken und ich realisierte auch, dass ich also doch nicht gestorben war. Ich war dem Tod knapp entkommen. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag und mein Kopf fuhr hoch, auch meine Beine hatte ich bewegt und meinem Retter aus Versehen gegen seine Oberschenkel getreten. Ich drehte mich erschrocken zu ihm um und wollte mich gerade entschuldigen. Doch als ich mich umdrehte und in seine Augen blickte, entfiel mir dies sofort und ich war einen Moment wie betäubt. Als ich mich wieder gefangen hatte, startet ich einen neuen Versuch. «Tut mir leid», sagte ich mit einer etwas piepsigen Stimme, die noch ganz ausser Atem klang. Er schaute mich freundlich lächelnd an und musterte mich interessiert. Ich schaute ein wenig beschämt zur Seite und spürte, wie ich rot anlief. «Wollen wir weiter?», fragte er plötzlich und ich zuckte zusammen. «J-Ja, klar», antwortete ich stotternd, «aber ich würde gerne alleine schwimmen», schob ich schon ein wenig selbstbewusster nach. «Bist du dir sicher?», fragte er vorsichtig. «Total», log ich ihm mitten ins Gesicht. Ich war überhaupt nicht sicher, ob ich das wirklich schaffen konnte, denn ich war ziemlich ausgelaugt und konnte mich fast nicht mehr über Wasser halten. Mein Retter musterte mich kurz, schwamm dann aber los und ich musste mich beeilen, um mitzuhalten. Nach einigen Beinschlägen merkte ich jedoch schon, dass ich wirklich keine Kraft mehr hatte, um es zu schaffen. Als mein Retter bemerkte, dass ich nicht mehr hinter ihm herschwamm, hielt er an und drehte sich um. Ein verwirrter Bick lag auf seinem Gesicht, der sich aber sehr schnell zu einem besorgten Ausdruck verwandelte. Wortlos schwamm er zu mir zurück, nahm meinen Kopf erneut in seine Hände und Schwamm zügig los. So zog er mich bis zum Strand und ich versuchte, ihm nicht so sehr zur Last zu fallen und strampelte ein wenig mit meinen Beinen.
Am Strand angekommen, legte er seinen Arm um meine Schultern, um mich zu stützen und brachte mich zu einem naheliegenden Stein, auf dem ein Handtuch lag. Ich setze mich vorsichtig hin und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Erst als sich mein Atem wieder vollends beruhigt hatte, traute ich mich hochzuschauen. Da stand er, mit seinen schwarzen Haaren und den strahlend grünen Augen. Ich bemerkte, wie er mich, wie schon einige Male davor, erneut musterte und schaute wieder beschämt weg. Nach einiger Zeit erschien plötzlich eine Wasserflasche vor meinem Gesicht und ich sah meinen Retter nun wieder verwirrt an. «Willst du?», fragte er lächelnd. Ich dachte nach. Wollte ich eine Trinkflasche von einem Wildfremden annehmen? Die Antwort war ein klares «Nein». War er mir geheuer? Diese Frage konnte ich mir nicht wirklich genau beantworten, da ich es nicht wusste. Doch hatte ich Durst? Diese Frage konnte ich mit einem lauten «Ja» bestätigen. Ich hatte wirklich riesigen Durst und mein Hals brannte förmlich von dem Salzwasser, das ich zuvor geschluckt hatte. Lautlos nahm ich die Wasserflasche entgegen, die er mir immer noch hinhielt und warf ihm einen dankbaren Blick zu. Ich begann zu trinken und fühlte ich mich gleich wieder besser. Ich genoss, wie das eiskalte Wasser meine Kehle hinabrann und meinen Schmerz linderte. Als ich fast die ganze Flasche leer getrunken hatte, setzte ich ab und gab sie meinem wartenden Retter zurück. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen und er setzte die Flasche ebenfalls an, um den Rest, den ich übriggelassen hatte, auszutrinken. Nun war ich es, die ihn musterte und beobachtete. Ich liess meinen Blick über seine dunklen Haare, seine strahlenden Augen, bis hin zu seinen geschwungenen Lippen wandern. Ich liess meinen Blick ein wenig weiter wandern und mir fielen das erste Mal seine kräftigen Arme und sein durchtrainierter Oberkörper auf.
Ich war so auf sein Aussehen konzentriert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie er die Flasche leer getrunken hatte und mich eiskalt dabei erwischte, wie ich ihn anstarrte. Erneut beschämt, drehte ich meinen Kopf ab und lief zum gefühlt tausendsten Mal in den letzten paar Minuten rot an. «Ethan», kam es nach einiger Zeit und er streckte mir seine Hand entgegen. Er musste meinen verwirrten Blick wohl richtig gedeutet haben, denn nun gab er einen vollständigen Satz von sich. «Mein Name ist Ethan Crawley, freut mich dich kennenzulernen», sagte er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. «Aria Olson», gab ich scheu zurück, nahm zögerlich seine Hand in meine und schüttelte sie. Da bemerkte ich, wie stark und gross sich seine Hände anfühlten und war nun noch mehr eingeschüchtert. Nach einigen Sekunden fiel mir ein, dass ich seine Hand nun schon ziemlich lange schüttelte, und ich sie wieder freigeben sollte. Widerwillig liess ich sie los und verschränkte meine Hände hinter meinem Rücken. Einige Zeit verfielen wir wieder in Schweigen. Es war keineswegs ein unangenehmes Schweigen, es half mir, mit allem klarzukommen, was in den letzten Minuten geschehen war. Ich dachte darüber nach, was wohl passiert wäre, hätte Ethan mich nicht gerettet. Ich wäre einfach tot, ohne dass ich mich von meinen Eltern, Isabell oder Jack hätte verabschieden können, ohne dass ich mich von meinen Freunden hätten verabschieden können, ohne dass ich mich wirklich von meinem Leben hätte verabschieden können. Da bemerkte ich, wie dankbar ich Ethan sein konnte. Er hatte mir einfach so das Leben gerettet, ohne mich überhaupt zu kennen, ohne überhaupt zu wissen, wer ich war und weshalb ich in diesem Boot gesessen hatte. «Danke», platze es da aus mir heraus und ich zerbrach die angenehme Stille. Verwirrt hob Ethan seinen Kopf und musterte mich fragend. Ich spürte, dass er mich gleich fragen würde, wofür ich ihm dankte. Es war mir nicht klar, warum er schon vergessen hatte, dass er mich gerettet hatte, aber ich kam ihm zuvor und schob noch eine Erklärung für meinen Dank nach. «Danke, dass du mich gerettet hast, ohne deine Hilfe wäre ich ertrunken und… und gestorben. » Traurig senkte ich den Kopf und eine einzelne Träne löste sich und rann mir über mein Gesicht.
Da spürte ich, wie Ethan leicht mein Kinn anhob und mir die Tränen mit seinen Fingern aus meinem Gesicht wischte. Ich schaute ihn nicht an, dafür schämte ich mich zu sehr. Es war schon genug schlimm, dass ich weinte, aber es musste natürlich noch peinlicher sein, da ich es auch noch vor einem Wildfremden tat. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, atmete ich einmal tief ein und nahm eine kleine Brise des angenehmen Meerduftes, ich liebte diesen Duft, ich war als kleines Mädchen schon liebend gerne an den Strand gegangen und hatte den salzigen Geruch tief eingeatmet, nur um danach wieder nachhause zu gehen und es am nächsten Tag zu wiederholen. Mit meinen Fingern wischte ich mir über die Augen, um die letzten Tränenspuren wegzuwischen. Ich hoffte innständig, dass ich einigermassen annehmbar aussah und nicht wie ein trauriges Schlossgespenst. Da fasste ich mir einen Gedanken, ich würde nun mit Ethan sprechen, um herauszufinden, wie er mich überhaupt gefunden hatte. Eigentlich wollte ich ihn noch viel mehr fragen und musste mich buchstäblich am Riemen reissen und achten, dass ich ihn nicht mit tausenden Fragen bombardierte. «Wie hast du mich eigentlich gefunden? », fragte ich deshalb leise, aber trotzdem bestimmt. Eine lange Zeit sagte er nichts und ich dachte schon, dass er mich nicht verstanden hatte und wollte gerade ein zweites Mal ansetzen. «Ich habe dich gesehen», sagte er nachdenklich. «Ich habe dich in deinem kleinen Boot auf die Insel zu rudern sehen und sah dann wie du gekentert bist», fuhr er leise fort. «Und dann hast du einfach beschlossen, dich ins Meer zu stürzen?», fragte ich ungläubig und zugleich ein wenig irritiert. «Nein, ich…», antwortete er mir, aber brach schliesslich ab. «Du?», fragte ich vorsichtig. «Zuerst wollte ich nicht kommen, da ich dachte, die kommt da schon wieder alleine raus. Ich wollte mich schon abwenden und gehen, aber ich konnte es nicht. Es war wie eine unsichtbare Macht, die mich ins Wasser zog und mir befohlen hat, dich zu retten. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, ich musste einfach kommen und dich retten und mich vergewissern, dass du überlebst», endete er. Im Laufe seiner Erzählung war er immer nachdenklicher geworden und musterte mich mit einem stechenden Blick, der fast schon beschämend wirkte. «Es ging einfach nicht anders», murmelte er völlig abwesend. Ich war immer noch total verwirrt, doch auch bei ihm schien die Welt gerade Kopf zu stehen, und ich fühlte mich nicht so alleine.
Nach dem wir uns wieder einige Zeit lang angeschwiegen hatten, beschloss ich, ihm nun eine zweite Frage zu stellen, da mir die Stille langsam unangenehm wurde. Ich fragte mich, warum Ethan überhaupt hier war und ich meinte nicht, warum er hier bei mir war, sondern auf der Insel, auf der wir uns gerade befanden. Ich sprach die Frage zögernd aus und er schaute mich zuerst ein wenig perplex an, fing dann aber an zu lächeln. «Ich bin hier, um den Schatz von Oak Island zu finden», antwortete er mir stolz auf meine Frage. «Was?!», gab ich erschrocken zurück. Irgendwie hatte ich diese Antwort überhaupt nicht erwartet und sie brachte mich total aus dem Konzept. Dann wollte ich mir am liebsten selber eine verpassen. «Was hatte ich denn gedacht?», fragte ich mich, ein wenig wütend auf mich selbst. Dass er nur zum Spass hier war und um dumme Mädchen, wie mich, zu retten, bevor sie untergingen? Natürlich nicht! Logisch war er hier, um den Schatz zu finden, genau wie ich. Innerlich wurde ich immer wütender und ballte meine Hände zu Fäusten, bis sie auffallend rot wurden. Wie konnte ich bloss so blöd sein und denken, er wäre für etwas anderes hier als für den Schatz?
«Wie, was?», fragte er mitten in meiner kleinen Panikattacke ein wenig verwirrt. «Dachtest du etwa, ich wäre hier, um Sandburgen zu bauen und Matschkuchen herzustellen?», schob er nun mit einem schiefen Grinsen hinterher. Fast hätte ich ihn wütend angeblickt und ihm eine gescheuert, doch in dem Moment, als ich meine Hand heben wollte, hörte ich ein lautes Rufen. «Da bist du ja Bruder!», rief die Stimme aus der Ferne, und da erkannte ich eine sich nähernde Gestalt. Ich identifizierte die Person als einen jungen Mann mit dunkleren Haaren. Ethan, der die Rufe nun auch gehört hatte, drehte sich verwundert um und blickte den jungen Mann an. Der Fremde kam näher und mir fiel sofort sein Gang auf. Auch wenn es vielleicht etwas seltsam klang, hatte er einen sehr interessanten Gang, er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze und einer solchen Zielstrebigkeit und Sicherheit, dass es mir für einige Sekunden den Atem verschlug. Da bemerkte ich noch etwas, er hatte genau dieselben Haare und Augen wie Ethan und sah ihm auch sonst verblüffend ähnlich. Das Einzige, was unterschiedlich zu sein schien, war ihre Gangart. Mir war vorhin aufgefallen, dass Ethan einen eher ruhigen Gang hatte und sich mit einem scheuen Reh vergleichen liess. Es war nicht so, dass er, wenn man mit ihm sprach, ein schüchterner Typ war, es war einzig und allein sein Gang. Man konnte die Art, wie er ging, einfach nicht mit der des Fremden vergleichen, denn dieser strahlte keineswegs etwas Scheues aus, wenn er ging. Er wirkte so selbstsicher, dass er fast schon ein wenig einschüchternd und gefährlich wirkte. Diese vielen Gedanken schossen mir (innerhalb weniger Sekunden) durch den Kopf, bis mir siedend heiss einfiel, dass die beiden wohl Zwillinge sein mussten. Ein paarmal musste ich leer schlucken, denn wenn sie Zwillinge waren, hiess das, dass sie zu zweit waren und den Schatz viel einfacher finden konnten als ich, und ich nun komplett verloren war. Ich würde diesen Schatz nie und nimmer vor ihnen finden, sie würden wahrscheinlich alles dafür tun, mich zu sabotieren und mich aufzuhalten, mich bei meiner Suche zu behindern und mir dann den Schatz vor der Nase wegschnappen. Ich bemerkte, wie ich leicht zu zittern anfing und dass ich gleich in Panik ausbrechen würde. Ich fragte mich, was dann wohl geschehen würde. Würden sie mich irgendwo einsperren oder gar Schlimmeres? Ich wollte gar nicht daran denken.
«Aria?», hörte ich plötzlich in weiter Ferne jemanden rufen.
«Aria!», hörte ich nun wieder eine drängende Stimme. Verwundert blickte ich auf und bemerkte, dass gar niemand aus der Ferne gerufen hatte. Es war bloss Ethan, der mich ein wenig besorgt ansah und mit seiner Hand wie wild vor meinem Gesicht herumfuchtelte.
«Was ist los?», fragte er sanft und legte mir dabei seine Hand auf die Schulter. Einen Moment dachte ich darüber nach, ihm zu sagen, was los war und öffnete meinen Mund. Doch im letzten Moment hielt ich mich davon ab, es laut auszusprechen. «Überhaupt nichts», antwortete ich stattdessen und versuchte ihn anzulächeln. Das misslang mir jedoch gründlich und schnell senkte ich meinen Kopf wieder in Richtung Boden.
«Würdest du mir diese Dame auch mal vorstellen?», hörte ich plötzlich eine tiefe, angenehme Stimme, und ich blickte erschrocken wieder auf. Da ich nicht gehört hatte, wer gesprochen hatte, fiel meine Wahl auf den Unbekannten, da Ethan schon wusste, wie ich hiess. Also wandte ich mich Ethan zu und schaute ihn erwartungsvoll an. «Das ist Aria», brachte Ethan nach kurzem Zögern heraus und zeigte dabei mit seiner Hand auf mich. «Und woher kennt ihr euch?», fragte der Unbekannte mit ein wenig Ungeduld aber auch Interesse in seiner Stimme. Auch wenn ich es eigentlich gar nicht wollte, musste ich zugeben, dass der Unbekannte mich faszinierte. Alles in einem sah er identisch aus wie Ethan, doch er hatte irgendwas an sich, was ihn von seinem Bruder unterschied, und das war nicht einzig und allein seine Gangart. Ich konnte mir nicht genau erklären, was es war, doch irgendetwas zwischen den beiden war anders und zwar sehr anders. Mir fiel plötzlich auf, dass ich den Fremden die ganze Zeit angestarrt hatte und mir rutschte einfach die Antwort auf die Frage heraus, die er seinem Bruder eben gestellt hatte. «Wir kennen uns gar nicht wirklich, Ethan hat mich nur eben gerettet und das wars dann auch schon», plapperte ich darauf los. Ich erschrak über mich selbst, denn ich war eigentlich nicht wirklich der Typ Mensch, der freiwillig viel redete. Da bemerkte ich, wie ein kurzer ungläubiger Blick in die Augen des Unbekannten trat und seine Augen verwundert von seinem Bruder zu mir und wieder zurückschnellten. «Vor was hast du sie gerettet?», fragte er nun an seinen Bruder gewandt. «Vor dem Ertrinken», gab er leise zurück. «Wie bitte?», fragte der Unbekannte nun sichtlich noch verwirrter und wendete sich nun wieder mir zu. Mit einem stechenden Blick musterte er mich einmal gründlich von oben bis unten und landete schliesslich wieder bei meinem Gesicht. «Ist das wahr?», fragte er mich nun vorsichtig. «Ja», antwortete ich leise und ein wenig verwirrt auf Grund seiner seltsamen Reaktion. «Geht es dir gut?», fragte er plötzlich und die Besorgnis, die in seiner Stimme mitschwang, liess mich aufblicken «Ja, klar», antwortete ich hastig. «Ich bin nur noch ein klein wenig durch den Wind», schob ich nach und blickte ihm dabei fest in seine strahlend grünen Augen. Kurz schien er verwirrt, streckte mir dann aber seine Hand hin. «Ich bin Blake Crawley, freut mich dich kennenzulernen», sagte er währenddessen und lächelte mich ein wenig an. Nun war ich es, die verwirrt war, da er so abrupt das Thema gewechselt hatte.
Als ich mich wieder gefangen hatte, ergriff ich seine Hand und schüttelte sie. «Aria Olson», sagte ich währenddessen schüchtern und starrte ihm dabei so gebannt in die Augen, dass er denken musste, ich sei nicht ganz bei Trost. Doch ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesem strahlenden Grün abwenden. Es faszinierte mich, und ich wollte am liebsten nie mehr aufhören zu starren. Überrascht bemerkte ich, dass auch Blake mich einfach nur anstarrte und keine Anstalten machte, damit aufzuhören. Nach einiger Zeit vernahm ich neben uns ein leises Räuspern und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dort stand Ethan, der uns händeringend ansah und ein wenig peinlich berührt zu sein schien. Mir fiel auf, dass ich immer noch Blakes Hand hielt. Nun war ich es, die peinlich berührt war. Schleunigst entzog ich Blake meine Hand und bemerkte wie mir die Hitze in die Wangen schoss. In Gedanken betete ich dafür, dass ich nicht knallrot anlaufen würde und dann aussah wie eine Tomate. Beschämt wandte ich den Blick ab und knetete nervös meine Hände. «Gehen wir?», fragte Blake plötzlich und schaute zuerst Ethan an und liess seinen Blick dann weiter zu mir wandern. «Was meinst du mit WIR?», fragte ich entgeistert. «Na wir halt, du, Ethan und ich», antwortete er gelassen und zuckte mit seinen Schultern. Ich brauchte einige Sekunden, bis der Groschen fiel und ich verstand, was er damit meinte. Er hatte mit seiner Antwort angedeutet, dass ich mit ihnen mitgehen würde und wir alle zusammen an denselben Ort gingen. Die Rädchen in meinem Kopf fingen wieder an sich zu drehen, und ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen, weshalb er wollte, dass ich mich ihnen anschloss.
«Na, was ist, gehen wir nun oder warten wir bis der Mond aufgeht?», fragte Blake nach kurzer Zeit belustigt und durchbrach meinen Gedankengang. «Und wieso sollte ich mit euch mitkommen?», gab ich ein bisschen bissiger als beabsichtigt zurück. «Wo willst du denn sonst hin?», fragte Blake nun mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht und musterte mich interessiert. In diesen Moment fiel mir siedend heiss ein, dass er recht hatte. Wo sollte ich denn sonst hingehen? Alle meine Sachen waren vorhin bei dem Sturm über Bord gegangen, und ich besass überhaupt nichts mehr, ausser die Dinge, die ich am Leib trug. Als ich daran dachte, fiel mir auf, dass es gar nicht mehr regnete. Die Wolken hatten sich grösstenteils verzogen und kleine Sonnenstrahlen durchbrachen die verbliebenen Wolken. Nach dieser Erkenntnis zog es mich wieder zu meinen ursprünglichen Gedanken zurück und ich musste mir eingestehen, dass ich wohl oder übel mit den beiden mitgehen musste. Ein wenig unwohl war mir dabei schon, doch ich hatte keine andere Wahl und fügte mich schlussendlich meinem Schicksal. «Na gut, ich komme mit», brach es dann schliesslich aus mir heraus und ich trottete in Richtung Blake und Ethan, die sich in Zwischenzeit zueinander gestellt hatten. Blake nickte zufrieden und stapfte dann in die Richtung, aus der er gekommen war. Er ging auf einen kleinen Weg zu, der sich zwischen den Steinen befand und verschwand darin. Ich trat ebenfalls in den kleinen Pfad, der von Bäumen umgeben war und folgte den beiden Jungs, die vor mir gingen.
Das Nachtlager
Nach ein paar Minuten, in denen alle ihren eigenen Gedanken nachgehangen haben, blieb Ethan plötzlich stehen und drehte sich so ruckartig um, dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre. «Ich habe mein Handtuch am Strand liegen lassen. Geht ihr schon mal weiter. Blake kann dir den Weg zeigen, und ich folge euch dann», sprach Ethan an mich gewandt weiter. Sekunden später drängte er mich zur Seite und lief davon. «Da warens nur noch zwei», bemerkte Blake trocken und marschierte weiter. Ein wenig perplex über Ethans plötzlichen Abgang, drehte ich mich nochmals zu ihm um, doch er war bereits nicht mehr zu sehen und war hinter dem nächsten Baum verschwunden. «Kommst du oder willst du weiter Löcher in die Luft starren?», rief Blake mit einem genervten Unterton und sah mich erwartungsvoll an. Ohne zu antworten ging ich mit raschen Schritten auf Blake zu und verringerte unsere Distanz. Kurz nachdem ich bei ihm angekommen war, drehte sich Blake um und ging mit zügigen Schritten weiter, und ich musste mich beeilen, um ihm nachzukommen.
Ein wenig später bogen wir links ab und kamen zu einem Fluss, den wir entlangliefen. Nach circa zehn Minuten bogen wir erneut links ab. Da kamen endlich ein kleines Zelt und eine Feuerstelle in Sicht. Blake ging direkt auf die Feuerstelle zu und bereits nach wenigen Sekunden brannte ein knisterndes Feuer. Beeindruckt von seinen Fähigkeiten blickte ich ihn an und verlangsamte schliesslich meinen Gang, bis ich bei ihm ankam. «Gibst du mir bitte dein Shirt?», sagte er plötzlich und schaute mich abwartend an. «Wie bitte?», gab ich erschrocken zurück. «Na, dein Shirt eben, dann kann ich es zum Trocknen aufhängen», gab er sichtlich amüsiert zurück. «Und was soll ich denn anziehen, wenn ich es ausgezogen habe? Soll ich etwa ohne durch die Gegend rennen?», fragte ich immer noch ein wenig entgeistert und blickte ihn herausfordernd an. «Natürlich nicht!», gab er schnaubend zurück. «Du kannst eins von mir haben», schob er knapp nach. «Na gut», gab ich immer noch ein wenig durch den Wind zurück. Abwartend schaute er mich an. «Was ist?», fragte ich und blickte ihn verwundert an. «Na eben, dein Shirt bitte, ich würde es jetzt gerne aufhängen und nicht den restlichen Tag hier rumstehen», gab er leicht ruppig zurück. «Also erstens könntest du mir jetzt zuerst eines deiner Shirts geben und zweitens könntest du dich dann bitte umdrehen, wenn das im Bereich deiner Möglichkeiten liegt?», feuerte ich schnippisch zurück. Blake blickte mich an und verdrehte genervt seine Augen, bevor er sich umdrehte und in dem kleinen Zelt verschwand.
Keine zehn Sekunden waren verstrichen, da kam er schon wieder heraus und hielt ein dunkelblaues Shirt in den Händen, dass er mir dann demonstrativ vor die Nase hielt. «Ist Ihnen dieses Oberteil genehm, Lady Aria oder bevorzugen Sie eine andere Farbe?», säuselte er in gespielt nettem Tonfall und schenkte mir ein schalkhaftes Lächeln. Als ich ihn so mit diesem Grinsen im Gesicht betrachtete, musste ich ebenfalls Lächeln. «Ja, Sir Blake, dieses Gewand ist mir sehr genehm, ich würde mich nun gerne umkleiden», sagte ich immer noch lächelnd und griff nach dem Oberteil. Doch bevor ich den Stoff zu greifen bekam, riss Blake plötzlich den Arm in die Höhe und wedelte mit dem Shirt über meinem Kopf herum. Lachend sprang ich in die Luft und versuchte, mir das Shirt zu schnappen. Doch jedes Mal, wenn ich es auch nur annähernd berührte, streckte Blake seinen Arm nur noch höher und machte es mir somit unmöglich das Oberteil zu erwischen. Ich sprang erneut in die Höhe und gab ich ein amüsiertes Quietschen von mir, was Blake zum Schmunzeln brachte. Ich sprang noch einige Male hoch und da passierte es: Als ich wieder auf dem Boden ankam, knickte ich plötzlich um, und ein stechender Schmerz fuhr in meinen Knöchel. Mit einem kleinen Schrei kippte ich nach vorne, weil ich für kurze Zeit nicht auftreten konnte. Ich sah mich schon mit voller Wucht zu Boden knallen, doch plötzlich packten mich zwei starke Arme um meine Hüfte und fingen mich auf. Blake zog mich an sich und strich mir mit seiner Hand beruhigend über den Rücken. Einige Momente starrte ich ihn an und bemerkte, dass sich unsere Gesichter ziemlich nahe waren. Mir stockte der Atem, und ich zog zischend die Luft ein. «Soll ich mich jetzt umdrehen, damit du dich umziehen kannst?», fragte Blake dann aus heiterem Himmel mit einer etwas heiseren Stimme und blickte mich fragend an. Leicht überrumpelt befreite ich mich aus seinem Griff und wich einige Schritte zurück.
Blake hielt mir sein Shirt hin und ich nahm es verdutzt entgegen. Sobald ich mir das Oberteil gegriffen hatte, verschwand Blake erneut im Zelt und bedeutete mir mit einer Handbewegung, auf ihn zu warten. Einen kurzen Moment später trat er wieder heraus und hielt ein helles, flauschig aussehendes Badetuch in der Hand. Mit grossen Schritten trat er auf mich zu und reichte mir wortlos das Tuch. Gerade nachdem ich das Tuch entgegengenommen hatte, drehte Blake sich ruckartig um und entfernte sich einige Meter von mir. Als ich sicher war, dass er wegschaute, zog ich mir mein nasses Oberteil über meinen Kopf und trocknete mich mit dem flauschigen Tuch ab. Anschliessend schlüpfte ich in Blakes Shirt hinein und zupfte am Kragen herum. Es war mir viel zu lange, jedoch fühlte ich mich darin direkt wohl. Da es mir fast bis zu den Knien reichte, pellte ich mich auch noch aus meiner Jeans und funktionierte das Shirt somit kurzerhand zu einem Kleid um. Ich zupfte noch ein klein wenig am Stoff herum und kontrollierte, dass alles so sass, wie es sollte und verschränke anschliessend die Arme vor der Brust.
«Du kannst dich wieder umdrehen», rief ich laut in Blakes Richtung. Er drehte sich um und zog überrascht die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Schliesslich wandte er sich einem kleinen Topf zu, der in der Nähe der Feuerstelle stand und anscheinend zum Kochen gedacht war. Währenddem ich ihn da so ansah, verblüffte es mich ums neue, wie ähnlich er Ethan sah. Und da traf mich der Schreck: Wo war Ethan eigentlich und warum brauchte er so lange, nur um sein Tuch zu holen? Genau in diesem Moment hörte ich ein leises Pfeifen hinter mir und ich drehte mich verwirrt um meine eigene Achse.
Und da stand er, mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht und roten Wangen. Ethan kam lächelnd auf mich zu und stoppte einige Schritte vor meinen Füssen. Er musterte mich einmal von oben bis unten und auch er zog seine Augenbrauen in die Höhe, gab aber ebenso keinen Kommentar dazu ab. Nachdem er mit seinen Augen wieder bei meinem Gesicht angelangt war, folgte ein peinliches Schweigen, da wir anscheinend beide nicht recht wussten, was wir sagen sollten. Da es mir dann mit der Zeit doch zu blöde wurde, wagte ich den ersten Schritt und begann das Gespräch. «Wo warst du so lange?», fragte ich zögernd, da ich nicht wusste, ob mich das überhaupt etwas anging. Sein Lächeln geriet leicht ins Wanken und ein genervter Zug huschte über sein Gesicht. «Auf dem Weg zurück, bin ich auf irgendeinen durchgeknallten Forscher getroffen, der sich partout nicht abschütteln liess und mich in ein ellenlanges Gespräch über die Insel und den Schatz verwickelt hat. Er will den Schatz unbedingt finden und dann weltberühmt werden. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ihm nicht wirklich zugehört, da er mich mehr gelangweilt hat als etwas anderes», erklärte er und ein freches Grinsen schlich sich wieder in sein Gesicht. Nachdem er mit seiner Erklärung geendet hatte, konnte ich mir auch seinen genervten Blick von vorhin, erklären. Einige Sekunden später runzelte Ethan jedoch seine Stirn und sah mich nachdenklich an. «Warte, warum wolltest du überhaupt wissen, wo ich so lange war?», fragte er mich dann und kniff seine Augen zusammen. «Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?», fragte er anschliessend bestürzt und fing kurz darauf an, spitzbübisch zu lächeln, weil er bemerkt hatte, wie ich knallrot angelaufen war. «Es hat mich eben gewundert, als du so lange nicht mehr zurückgekommen bist!», gab ich ein wenig heftiger als gewollt zurück, und Ethans Grinsen wurde noch eine Spur breiter. «Ja, sorry Meerprinzessin, es hat mich einfach in den Fingerspitzen gejuckt, dich das zu fragen», gab er lässig zurück. Den Ausdruck, den er gerade für mich verwendet hatte, liess mich für einen kurzen Moment stutzen, doch ich fing mich wieder und versuchte ihn böse anzublicken, was mir jedoch schrecklich misslang. «Aber mal zurück zu dir», sprach er weiter, «Was hast du gemacht, als du auf mich gewartet hast? Und was noch viel wichtiger ist, war Blake anständig oder muss ich ihm gleich die Ohren langziehen?», schloss er seinen Redeschwall schliesslich feixend ab. Ich öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder, weil ich beim besten Willen nicht wusste, wie ich seine Fragen beantworten sollte. Was sollte ich ihm bloss erzählen, fragte ich mich und überlegte. Sollte ich ihm etwa erzählen, dass ich fast hingefallen wäre, mich sein supertoller Zwillingsbruder aber im letzten Moment aufgefangen hatte? Natürlich würde ich das nicht tun, aber irgendeine Antwort musste her, doch mir wollte einfach keine einigermassen passable Entgegnung einfallen.
Kurz bevor ich wieder Angstzustände bekommen konnte, fiel plötzlich ein Schatten auf mich und die Person hinter mir antwortet an meiner Stelle. «Sie hat sich bis jetzt erst umgezogen und ist ein wenig herumgelaufen, während ich das Abendessen gekocht habe. Die Ohren musst du mir sicherlich auch nicht langziehen, da ich ihr absolut nichts getan habe und eigentlich recht freundlich zu ihr war. Nun klappte mein Mund doch wieder auf, da ich dachte, mich verhört zu haben. «Warum hat er nichts erzählt?», schoss es mir durch den Kopf. Warum hat er seinem Bruder nicht erzählt, dass ich total tollpatschig war und beinahe gestürzt wäre, er mich jedoch aufgefangen hatte? Unzählige Fragen schwirrten gerade durch meinen Kopf und ich drehte mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu Blake um und starrte ihn an. Als sich unsere Augen trafen, huschte ein kaum merkliches Lächeln über sein Gesicht, und er zwinkerte mir kurz zu. Ich verspürte ein kleines Kribbeln in meinem Bauch und riss erschrocken meine Augen auf. «Was ist los?, fragte Blake alarmiert und bedachte mich mit einem unergründlichen Blick. «Überhaupt nichts, absolut gar nichts», schoss ich wie aus der Pistole zurück und blickte in seine Augen. Ein kleiner Anflug von Besorgnis huschte über Blakes Gesicht, verschwand jedoch gleich wieder, und ich fragte mich, ob ich mich wohl geirrt hatte.
«Wollen wir essen?», fragte Ethan dann plötzlich und zeigte auf den dampfenden Kessel, der über dem Feuer an einer dünnen Stange hing. Als niemand antwortete, zuckte er mit der Schulter und trottete gemächlich Richtung Zelt und verschwand darin.
Als ich sicher war, dass uns Ethan nicht hören würde, wendete ich meinen Kopf wieder in Blakes Richtung, murmelte ein leises «Danke» und lief Richtung Feuerstelle.
Kurze Zeit später trat Ethan mit einer Decke in der Hand aus dem Zelt und breitete sie anschliessend auf dem Boden neben der Feuerstelle aus. Nachdem er sie so hingelegt hatte, wie es ihm anscheinend passte, setzte er sich darauf und schaute Blake und mich auffordernd an. Nach kurzem Zögern setzte ich mich und winkelte meine Beine rechts von mir an, damit ich einigermassen bequem sitzen konnte. Blake, der Ethans stummer Aufforderung noch nicht nachgekommen war, ging auf die Stange mit dem Topf zu, nahm ihn mit Hilfe eines bereitgelegenen Tuches von der Stange und stellte ihn auf dem Boden ab. Aus einer kleinen Schachtel, die ich bis jetzt noch nicht entdeckt hatte, kramte er nun drei Teller, drei Löffel und eine Suppenkelle hervor. Stumm trug er die Sachen zu uns herüber, reichte jedem je einen Teller und einen Löffel und legte die restlichen Sachen auf der Decke ab. Anschliessend ging er nochmals zurück, um den Kochtopf zu holen und stellte ihn ebenfalls auf die Decke. Er setzte sich, griff nach der Kelle und blickt mich auffordernd an. Als ich begriff, was er von wir wollte, griff ich hastig nach meinem Teller und liess ihn in meiner Hektik beinahe fallen. Nachdem ich meinen Teller doch noch erfolgreich an Blake weitergegeben hatte, füllte er diesen mit der köstlich riechenden Suppe und stellte ihn vor mich.
Schliesslich hatte Blake auch Ethan und sich selbst den Teller gefüllt, und ich griff nach meinem Löffel. In dem Moment, als ich zu essen begann, bemerkte ich, wie hungrig ich eigentlich war. Das letzte Mal, als ich gegessen hatte, war bestimmt einige Stunden her und da meine gesamten Vorräte über Bord gegangen waren, hatte ich nichts mehr gegessen, seit ich auf der Insel war. Die Suppe rann langsam meine Kehle hinunter und ich bemerkte, wie mir schlagartig wärmer wurde. Während wir assen, herrschte ein nachdenkliches Schweigen und keiner wagte es, irgendetwas zu sagen. Nachdem wir alle fertig gegessen hatten, sammelte Ethan alle Teller ein, schnappte sich ein Becken, Spülmittel und einen Lappen und wandte sich zum Gehen. Als er meinen fragenden Blick spürte, lächelte er und erklärte mir, wohin er gehen würde: «Ich gehe nur kurz zum Fluss, um unsere Sachen ein wenig abzuwaschen.» Schon war er wieder hinter den nächsten Büschen verschwunden, und nun war ich alleine mit Blake. Schon wieder. Blake räusperte sich und ich drehte mich langsam um und blickte ihn an. Er war wohl aufgestanden und einige Schritte weiter gegangen, denn er sass noch immer auf der Decke und schaute gen Himmel. Nachdenklich musterte ich ihn. Wir hatten nun schon ein wenig miteinander gesprochen, doch ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Manchmal war er super nett und hilfsbereit, im anderen Moment aber war er das komplette Gegenteil. Wenn diese gegenteilige Stimmung herrschte, verhielt er sich total gleichgültig und irgendwie auch leicht abschätzig.
Blake räusperte sich erneut und ich zuckte vor Schreck zusammen. Da bemerkte ich, dass ich ihn wohl oder übel angestarrt hatte. Im selben Moment stahl sich nämlich ein wissendes Lächeln auf Blakes Gesicht, das nach einigen Sekunden jedoch wieder verschwand. «Hilfst du mir, die Decke zusammenzulegen?», fragte er dann plötzlich und deutete mit seiner Hand Richtung Boden. Zuerst war ich ein wenig irritiert, nickte dann aber und stand auf. Ich drehte mich um und bemerkt, dass Blake immer noch am selben Ort wie vorhin stand und sich nicht gerührt hatte. Nun war er es, der mich anstarrte und ich blickte beschämt zur Seite. Als hätte er bemerkt, wie ich rot anlief, zuckte er kurz zusammen und setzte sich anschliessend in Bewegung. Nachdem er bei der Decke angekommen war, bückten wir uns gleichzeitig nach den Ecken des Stoffes und hoben die Decke an. Jeder von uns faltete seine Seite einmal in der Hälfte durch und trat dann auf den anderen zu. Da wir beide unschlüssig zu sein schienen, wer denn nun die Decke halten würde, hielt ich Blake meine beiden Ecken hin und wartete. Schliesslich griff er nach den Enden und ich zog eilig meine Hände zurück um einige Schritte rückwärtszugehen. Still faltete er den Rest der Decke zu einem kleinen Quadrat zusammen und verschwand danach im Zelt.
Kurze Zeit später kam er wieder heraus und hielt zwei kleine Plastikgefässe je in einer Hand. Er ging auf die kleine Schachtel von vorhin zu und beförderte zwei Löffel daraus hervor. Als er wieder vor mir stand, reichte er mir je einen Löffel und eines der Plastikgefässe, was sich bei genauerem Betrachten als Joghurt oder Ähnliches entpuppte. Ich griff danach und drehte das joghurtähnliche Ding so, dass ich es lesen konnte. «Vanilledessert», las ich und blickte Blake verwundert an. «Ihr habt sogar an Nachtisch gedacht?», fragte ich ihn immer noch perplex. «Klar, ohne Nachtisch läuft bei mir gar nichts», gab er lächelnd zurück. Da ich mit dieser Antwort nicht wirklich gerechnet hatte, rutschte auch mir ein kleines Lachen heraus, was ihn nur noch mehr lächeln liess.
Mit einer raschen Bewegung riss Blake die Verpackung des Desserts weg und tauchte seinen Löffel voller vor Freude glänzende Augen in die cremige Masse ein. Anschliessend schob er sich den Löffel in den Mund und verdrehte vor Verzückung die Augen, was mich erneut zum Lachen brachte und Blake stimmte mit ein. «Auf was wartest du?», fragte er dann plötzlich und schaute mich abwartend an. « Du weisst, dass es dir nicht von alleine in den Mund fliegt, sondern dass du es selber dahinführen musst, oder?», fragte er mit einem unterdrückten Lächeln in der Stimme und schaute mich gespielt empört an. Nach seiner Bemerkung wäre ich fast schon wieder in ein Gelächter ausgebrochen, da die Vorstellung, es würde mir von selbst in meinen Mund fliegen, recht amüsant war. Im letzten Moment jedoch riss ich mich zusammen und entfernte nun ebenfalls die Verpackung des Nachtisches. Als ich den ersten Löffel probiert hatte, verstand ich, weshalb Blake vor Verzückung die Augen verdreht hatte, denn es war wirklich gut.
Nachdem ich alles bis auf den letzten Rest verputzt hatte, schaute ich zufrieden lächelnd in Blakes Richtung, der ebenfalls nichts zurückgelassen hatte. Auch seine Lippen hatten sich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen, und er beobachtete mich aufmerksam. Ich konnte meinen Blick ebenfalls nicht mehr abwenden und ich starrte unverhohlen zurück. «Bin wieder da!», tönte es da plötzlich hinter uns und wir zuckten beide erschrocken zusammen. Ich drehte mich um und stellte fest, dass die Stimme nur zu Ethan gehörte und ich nichts zu befürchten hatte. «Was ist denn mit euch los?», fragte dieser verwirrt und blickte von Blake zu mir und wieder zurück. «Wie meinst du das?», fragte ich ihn leicht nervös und blickte zur Seite. Hatte er etwa bemerkt, wie Blake und ich uns angestarrt hatten?
«Ach, auch egal», antwortete Ethan und sein Blick fiel auf die leeren Desserts. «Hey, habt ihr die etwa einfach ohne mich gegessen?», fragte er gespielt wütend und blickte zu Blake. «Sorry Bruder, aber ich konnte einfach nicht widerstehen», antwortete dieser gelassen und zuckte mit der Schulter. Nach einigen Sekunden zuckte auch Ethan mit seiner Schulter und wandte sich Richtung Zelt, um das abgewaschene Geschirr darin zu verstauen. Bevor er jedoch darin verschwand, drehte er sich noch mal zu uns um, kam auf uns zu, nahm uns unsere Löffel und leeren Desserts aus der Hand und verschwand dann endgültig im Zelt.
Leise trat ich zu Blake, der seinem Bruder nachgeschaut hatte und nun ins Leere blickte. Er drehte sich zu mir um und ein abwesender Blick lag in seinen Augen. Nachdem ich mich schliesslich geräuspert hatte, schien er wieder zu sich zu kommen und er zog fragend seine Augenbrauen in die Höhe. «Danke für das Dessert», sagte ich mit einer etwas belegten Stimme und lächelte schwach. «Keine Ursache», gab er ebenfalls matt lächelnd zurück und verstummte wieder. Kurz darauf trat Ethan wieder aus dem Zelt heraus, kam auf mich zu, drückte mir eine Einwegzahnbürste in die Hand und stapfte Richtung Fluss. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm und versuchte ihn einzuholen. Ein paar Meter gingen wir stumm im Gleichschritt und schwiegen uns an. Ethan ergriff schliesslich zuerst das Wort. «Und, wie gefällt es dir bis jetzt?», fragte er lächelnd und musterte mich zum gefühlt tausendsten Mal an diesem Tag. «Ich habe noch nicht wirklich etwas von der Insel gesehen, doch der Strand, an dem wir vorhin waren, war einfach atemberaubend schön. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen seltsam, doch auch der Platz, auf dem ihr zeltet, finde ich einfach nur toll. Es geht so eine gewisse Ruhe davon aus. Ich war nicht besonders lange dort, doch ich habe mich in dieser Zeit sehr wohl gefühlt. Irgendetwas an diesem Ort scheint mich wohl zu beruhigen», schloss ich mit einem scheuen Lächeln ab und schaute zu Ethan empor. Er überragte mich um einige Zentimeter, und ich musste mich auf Zehenspitzen stellen, um ihm in die Augen sehen zu können. Er war meiner Erzählung gespannt gefolgt und lächelte nun ebenfalls. «Wenn es dir bei uns so gut gefällt, hoffe ich, dass du noch ein Weilchen bei uns bleibst und mehr Zeit mit uns verbringst», erklärte er schmunzelnd und zwinkerte mir verschmitzt zu. Dies liess mich kurz stutzen, denn er hatte recht, ich würde wirklich gerne noch länger bei ihnen bleiben. Sie waren von Anfang an eigentlich total nett zu mir gewesen und Ethan hatte mir sogar das Leben gerettet. In diesem Moment entschied ich, dass ich noch länger bei den Jungs bleiben würde und meine Zeit nun mit ihnen verbringen würde, wenn sie mich liessen.
Als wir nach wenigen Minuten, die wir dann mit Schweigen verbracht hatten, beim Fluss ankamen, war es schon recht dunkel. Langsam blieben wir stehen und hörten erst nur einmal dem leisen Gluckern des Flusses zu. Es war herrlich. Ich war nun einfach hier, auf dieser wundervollen Insel, mit zwei netten Jungs und es war eigentlich alles perfekt. Doch dann meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf und flüsterte, dass es nicht so war, wie es schien. «Wie soll denn das mit dem Schatz ablaufen?», fragte die Stimme. «Sucht ihr etwa alle zusammen und teilt dann alles durch drei?», fragte sie weiter. «Früher oder später müsst ihr euch trennen», setzte sie noch einen drauf und blieb dann still. Ich konzentrierte mich wieder auf das leise Plätschern des Flusses, da ich mich schleunigst ablenken musste, weil ich sonst noch durchdrehen würde. «Gib mir mal deine Zahnbürste», sagte dann Ethan so leise, dass es fast nur ein Flüstern war. Ich musste wohl ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn schmunzelnd griff er danach und zog sie mir aus der Hand. Ich wollte schon protestieren, als mir einfiel, dass diese Zahnbürste sowieso ihm gehörte. Also blieb ich stumm und blickte ihn abwartend an. Kurze Zeit darauf drehte er den Deckel der Zahnpaste, die er wohl die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte, ab und tupfte ein wenig davon auf meine und anschliessend auf seine Zahnbürste. Nach einigen Sekunden drückte er sie mir wieder in die Hand und ging Richtung Flussufer. Er blieb kurz davor stehen, tauchte seine Hand ins Wasser, schöpfte ein wenig Wasser mit seiner Hand und liess es auf die Zahnbürste tropfen. Danach fing er an, sich die Zähne zu putzen und ich beschloss, es ihm gleich zu tun. Da wir nun beide beschäftigt waren, herrschte erneute Stille.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens, hörte ich ein knirschendes Geräusch und ich drehte mich erschrocken um, doch es war nur Blake. Er war ebenfalls mit einer Zahnbürste ausgestattet und kam Richtung Flussufer und fing dann auch an, sich seine Zähne zu putzen. So standen wir also für einige Minuten alle schweigend da und das Einzige, was man hören konnte, war das Rauschen des Baches und einige Grillen, die zirpten. Mit frisch geputzten Zähnen begaben wir uns wieder zurück zu unserem Nachtlager. Als wir nun so vor dem Zelt standen, fing ich mich langsam an zu fragen, wie wir das mit dem Schlafen eigentlich anstellen sollten. Wir waren immerhin zu dritt und ich glaubte nicht, dass die Jungs zufälligerweise noch eine dritte Schlafmöglichkeit dabeihatten. Nach kurzem Zögern sprach ich meine Frage laut aus und blickte fragend von Blake zu Ethan und wieder zurück. Ethan wollte gerade antworten, als ihm Blake ins Wort fiel: «Wir haben eine Doppelmatte, du kannst dich einfach in die Mitte legen, da passen wir schon alle drauf.» Diesen Satz hatte er mit einem kleinen Lächeln quittiert, doch er schien das Gesagte ernst zu meinen. Also nickte ich nur und wartete, bis einer der Jungs das Zelt betrat. Schliesslich schlüpfte Blake ins Zelt. Kurz darauf folgte ich ihm und auch Ethan setze sich in Bewegung. Ich betrat das Zelt und mir klappte der Mund auf. Ich hatte etwas total anderes erwartet, aber sicher nicht das hier. Von innen schien das Zelt viel grösser als von aussen, es war riesig. Am Boden lag, wie Blake vorhin angedeutet hatte, eine Doppelmatte. Sie wurde von ein paar aufblasbaren Kissen geziert und sah eigentlich noch recht gemütlich aus. In den beiden hinteren Ecken lagen einige Taschen, in denen wohl das Gepäck der Jungs verstaut war.
Kurze Zeit später zogen sich Ethan und Blake ihre Shirts über den Kopf und warfen sie zur Seite. Ich musste sie völlig verwirrt angesehen haben, denn Blake fing an zu schmunzeln.
«Was ist, hast du etwa noch nie jemanden oben ohne gesehen oder wie?», fragte er amüsiert und musste sich sein Lachen wohl zurückhalten. «D-D-Doch», stammelte ich scheu und wandte den Kopf ab, da ich merkte, dass ich rot anlief wie eine Tomate. «Super», antwortete Blake dann. Anschliessend ging er zur linken Seite der Matte und legte sich darauf. Ethan tat es ihm gleich, ging jedoch zur rechten Seite. Da sich beide eher an den Rand gedrängt hatten, war nun ein kleiner Platz in der Mitte frei, der allem Anschein nach für mich war. «Das ist ja verrückt», dachte ich. Sollte ich mich tatsächlich zwischen die zwei Jungs quetschen, die ich überhaupt nicht kannte und im selben Zelt wie diese schlafen?
«Was ist, wenn sie mir etwas antun wollen», schoss es mir dann durch den Kopf. Doch diesen Gedanken verwarf ich schnell wieder, denn sie hatten reichlich Gelegenheit dazu gehabt. Stattdessen hatte mich Ethan sogar vor dem Ertrinken gerettet. Ohne ihn wäre ich jetzt tot und würde womöglich irgendwo im Meer herumtreiben. Schliesslich gab ich mir einen Ruck und legte mich behutsam zwischen die beiden Jungs. Von links reichte mir Blake eine dünne Stoffdecke, die ich über mir ausbreiten konnte. Ethan deckte sich ebenfalls mit einer Stoffdecke zu, doch für Blake schien keine mehr übrig zu sein. Als ich ihm anbot, meine Decke zu nehmen, lehnte er dankend ab, lächelte jedoch. Ich bekam gerade noch ein kurzes «Gute Nacht» über meine Lippen und schon war ich eingeschlafen.
Grabmäler und Flüche
Ich wollte schreien, doch meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Mein Kopf wurde unter Wasser gedrückt und ich bekam keine Luft mehr. Das Wasser zog mich immer weiter mit sich. Mit sich in die Tiefe. Ich fing an, um mich zu schlagen und wild mit meinen Beinen zu strampeln. Doch all dies half nichts. Das Wasser zog mich immer weiter und weiter fort. Nun geriet ich noch mehr in Panik. Ich versuchte es erneut mit dem Schreien, doch das Einzige, was meinen Mund verliess, waren lauter kleine Blubberblasen. Ich merkte, wie meine Sicht langsam verschwamm, was wohl mit dem Sauerstoffmangel zu tun hatte. Ein letztes Mal schlug ich um mich. Mit meiner letzten Kraft versuchte ich noch einmal, mich an die Oberfläche zu strampeln. Doch auch bei diesem Versuch klappte es nicht. Ich war mit meiner Kraft am Ende und gab es schliesslich auf. Der letzte Hauch meines Lebens wich aus meinem Körper und ich sank noch tiefer.
Mit einem Schrei fuhr ich aus dem Schlaf und setzte mich auf. Mein Shirt, beziehungsweise Blakes Shirt, klebte mir am Rücken und war schweissnass. Mit zittrigen Händen strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht, die ebenfalls nass waren, da ich wohl so sehr geschwitzt hatte. «Alles ok mit dir?», fragte jemand leise und ich spürte eine warme Hand auf meinem Arm. Blake setze sich auf und schaute mich prüfend an. «J-Ja klar, alles super», flüsterte ich mit leiser, zitternder Stimme zurück. Blake zog ungläubig eine Braue hoch und musterte mich noch mal kurz. «Nein», kam es da bestimmt, aber immer noch flüsternd von Blake. Langsam stand er auf und streckte mir seine Hand entgegen. Als ich verstand, dass er mir gerade die Hand anbot, griff ich immer noch zitternd danach und liess mich von ihm in die Höhe ziehen. Leise öffnete Blake die Plane des Zeltes, liess meine Hand dabei aber nicht los. Mit vorsichtigen Schritten trat er aus dem Zelt heraus und ich folgte ihm ebenso leise und versuchte Ethan nicht aufzuwecken. Blake ging geradewegs auf einen grossen Stein zu, setze sich darauf und klopfte neben sich. Ich folgte seiner Aufforderung und setzte mich mit zittrigen Beinen neben ihn. Eine Zeit lang waren wir beide einfach nur still. Ich konnte nicht sagen, ob es sich um Stunden, Minuten oder gar nur Sekunden gehandelt hatte, doch ich war froh über das Schweigen. Ich musste mich erst beruhigen, bevor ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte und atmete einige Male tief ein und wieder aus. Plötzlich legte Blake eine warme Hand auf meine Schulter und sah mich mitfühlend an. «Hey, es ist alles in Ordnung, dir kann nichts geschehen», flüsterte er zaghaft und tätschelte mir die Schulter. Auch wenn er nicht wirklich viel gesagt hatte, schienen mich diese wenigen Worte tatsächlich zu beruhigen und ich hörte auf zu zittern. Blake schien das ebenfalls bemerkt zu haben, denn nun lächelte er leicht, liess seine Hand aber immer noch auf meiner Schulter liegen. «Willst du mir erzählen, was du geträumt hast?», fragte Blake vorsichtig und schaute mir in die Augen. «Ich…Ich war plötzlich wieder im Meer und mein Kopf wurde mit voller Wucht unter Wasser gedrückt und dann bekam ich keine Luft mehr und…», brach ich meine Erzählung ab und starrte geradeaus, um Blake nicht ansehen zu müssen. Ich zuckte zusammen, als mich seine Finger plötzlich im Gesicht streiften und mir die Tränen wegwischten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen, doch ich strich mir nun ebenfalls die Tränen von den Wangen und blickte scheu hoch in Blakes Gesicht. Er schenkte mir ein kleines Lächeln und strich mir noch ein letztes Mal über meine Schulter, bevor er seine Hand zurückzog, die die ganze Zeit darauf gelegen hatte. «Du bist in Sicherheit und dir wird nie wieder so etwas geschehen, dafür sorge ich», sagte er plötzlich und ein kleines Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Diese letzten drei Worte sorgten dafür, dass nun auch ich wieder ein wenig lächelte und Blake nickte zufrieden.
Nach einigen Sekunden seufzte Blake leise und erhob sich. «Ich geh mal Ethan wecken, damit wir frühstücken können», erklärte er mir und entfernte sich. «Wirst du es ihm erzählen?», rutschte es mir dann plötzlich heraus und Blake schien verwundert. «Natürlich nicht», sagte er zaghaft. «Was denkst du denn bloss von mir?», schob er mit gespielter Empörung nach, fing aber an zu grinsen und verschwand ohne weitere Worte im Zelt. Nun war ich alleine und ich hatte Zeit, um mich erneut ein wenig umzusehen. Obwohl es noch nicht besonders spät sein konnte, brannte die Sonne schon vom Himmel herab und liess die Bäume in der Nähe erstrahlen. Fröhliches Vogelgezwitscher war zu hören und man konnte sogar die Wellen des Meeres leise rauschen hören. Es roch nach Sommer, und in diesem Moment war ich rundum zufrieden.
Als einige Minuten vergangen waren, traten Blake und Ethan mit einem kleinen Korb und der Decke von gestern Abend aus dem Zelt heraus und kamen auf mich zu. «Wo würdest du gerne essen, Aria?», fragte Ethan dann und blickte zu mir. «Wie?», antwortete ich irritiert und blickte ihn nun ebenfalls fragend an. «Na, wo willst du dich hinsetzen, um zu frühstücken?», gab er mit einer hochgezogenen Augenbraue zurück. «Weshalb muss denn ich das entscheiden?», fragte ich leicht verwirrt und sah Ethan herausfordern an. «Erstens», begann er seinen Vortrag, «bist du unser Gast und zweitens, Ladys first», endete er glucksend. «Na gut», gab ich mürrisch zurück und drehte mich einmal um meine eigene Achse, um den Boden in unserem Umfeld zu inspizieren. Nach kurzen Überlegungen entschied ich mich für ein kleines Plätzchen, das gut von der Sonne geschützt, unter einem grossen Baum lag und sich auf der rechten Seite des Zeltes befand. Als ich den Jungs meine Entscheidung mitgeteilt hatte, gingen sie mit grossen Schritten auf besagte Stelle zu und breiteten die Decke aus.
Nachdem wir das gesamte Essen auf der Decke ausgebreitet hatten, fingen wir stillschweigend an zu essen. Die Jungs hatten von zuhause Haferflocken mitgebracht, die wir mit Wasser mischten. Somit hatten wir wenigstens einen einigermassen leckeren Haferbrei, mit dem wir uns begnügen mussten. Andere Sachen hatten die beiden fürs Frühstück nicht wirklich dabei, aber was hätten sie schon mitbringen sollen? Auf der Insel gab es weder einen Kühlschrank, noch war es besonders kalt, dass man die Sachen einfach draussen stehen lassen konnte. Dieser Gedanke liessen mich stutzen. Wie um Himmelswillen, hatten die Jungs es dann hinbekommen, ein Dessert in ihrem Repertoire zu haben, was erstens gut und zweitens sogar kalt war. Gestern Abend, als Blake und ich es gegessen hatten, hatte ich nicht daran gedacht, wie das überhaupt möglich sein konnte. Nun verwirrte mich dieser Gedanke aber. Ich fragte die Jungs danach und sie antworteten, sie wären auch erst gestern gekommen. Zuhause hatten sie die Desserts in eine Kühltasche gepackt und diese dann mitgenommen, um die Sachen am ersten Abend, wenn sie noch kalt waren, zu essen. Nachdem wir, das auch geklärt hatten, assen wir wieder stumm, bis wir alles, was die beiden aus dem Zelt mitgebracht hatten, verputzt hatten.
Als ich mir wieder meine eigenen Kleider, die inzwischen getrocknet waren, angezogen hatte, packten wir einen kleinen Proviant, zwei Taschenlampen und Decken ein und machten uns auf den Weg. Da es unser erster Tag auf der Insel war, wollten wir sie erst einmal ein wenig erkunden. Wir hatten uns nach dem Frühstück alle zusammen entschieden, dass wir die Grabstätte der verstorbenen sechs Schatzsucher aufsuchen wollten, um diese zu besichtigen. Als wir sicher waren, dass wir alles beisammen hatten, was wir brauchten, machten wir uns auf den Weg. Wir gingen in Richtung des Flusses, an dem wir uns gestern unsere Zähne geputzt hatten und bogen dann, als wir ihn erreicht hatten, in einen kleinen Weg auf der linken Seite ab. Wir verfielen in ein langsameres Tempo und schlenderten nur so dahin. Wieder einmal war es gespenstisch still zwischen uns, das Einzige, was man in unserer Umgebung hören konnte, war das Zwitschern von ein paar Vögeln und das Rascheln der Blätter der Bäume, die vom Wind hin und her geweht wurden. «Ich habe eine Idee», unterbrach Ethan die Stille und schaute vorfreudig zwischen Blake und mir hin und her. Blake und ich zogen beide unsere Augenbrauen in die Höhe und schauten Ethan abwartend an, um zu erfahren, was er vorschlug. «Also», begann er, «wir spielen jetzt ein kleines Spiel. Jeder von uns stellt der Reihe nach irgendeine Frage, und die anderen müssen diese beantworten. Wenn die anderen die Frage beantwortet haben, muss man selbst auch noch antworten. So können wir uns ein wenig besser kennenlernen und etwas über die anderen erfahren», endete er mit seiner Erklärung und sah uns grinsend an. Blake verdrehte gelangweilt die Augen, nickte jedoch. Ich wollte gerade ebenfalls zustimmen, als mir etwas auffiel. Sie beide kannten sich bestimmt in und auswendig und konnten sich somit nur auf mich konzentrieren und somit spielten wir quasi zwei gegen eine. Kurz dachte ich darüber nach, darum doch nicht mitzumachen, entschied mich aber dagegen. Meine Neugier, etwas Neues über die beiden zu erfahren, war einfach zu gross und so nickte ich ebenfalls.
Ethan fing an und stellte die erste Frage: „Welche ist eure Lieblingsfarbe?“ Diese Frage konnte ich sehr leicht beantworten, denn seit ich klein war, hatte diese sich nicht geändert. „Türkis“, antwortete ich somit wie aus der Pistole geschossen. Blake, der sich das Lachen wegen meiner schnellen Reaktion wohl kaum verkneifen konnte, antwortete schmunzelnd: „Dunkelblau.“
„Orange“, schloss Ethan die erste Runde ab und sah mich abwartend an, was wohl hiess, dass ich die nächste Frage stellen sollte. Nach kurzem Nachdenken fiel mir eine halbwegs passable Frage ein: „Wann ist euer Geburtstag?“, fragte ich schließlich und nun war ich es, die die beiden gespannt ansah. „5. November 2001“, antworteten die beiden gleichzeitig und klatschten sich grinsend ab. „Meiner ist der 3. Juli 2002“, entgegnete ich und sah nun abwartend zu Blake. Leise seufzte er und dachte zuerst einen Moment nach, bevor er seine Frage stellte. „Woher kommst du?“, fragte er an mich gewandt und fixierte mich mit seinen grünen Augen. Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken, doch ich liess mir nichts anmerken und antwortet zaghaft: «Ich komme aus Frog Island und ihr?» «Apple Island», antworteten beide wieder im Gleichklang und grinsten erneut. Einen Augenblick später stellte Ethan die nächste Frage und wollte wissen, ob ich Geschwister hatte und wenn ja, wie alt diese waren und wie sie hiessen. «Ich habe einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Sie heissen Jack und Isabell und sind 19 und 10 Jahre alt.», endete ich und verspürte einen kleinen Stich in meiner Brust, da ich die beiden jetzt schon fürchterlich vermisste. «Also ich habe einen kleinen Bruder, eine ältere Schwester und einen Zwillingsbruder. Mein kleiner Bruder heisst Ian und meine Schwester heisst Penelope, sie sind 8 und 23 Jahre alt. Über meinen Zwillingsbruder erzähle ich dir lieber nichts, er ist nicht besonders nett und kaum auszustehenr», schloss er lachend ab und ich stimmte in sein Gelächter mit ein. Blake hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt, grinste jedoch auch ein wenig und schüttelte seinen Kopf. Als wir uns wieder einigermassen im Griff hatten, versuchte ich, mir wieder eine Frage auszudenken. Nun wollte ich eine Frage auswählen, auf die ich eine spannende Antwort bekommen würde und ich zerbrach mir einige Minuten den Kopf darüber, bevor ich wirklich zufrieden war. «Warum habt ihr euch entschieden, hierher zu kommen?», fragte ich also und wartete gespannt auf die Antwort. Der Grund, weshalb sie hier waren, interessierte mich brennend, denn ich selber war auch wegen ein wenig anderen Gründen hierhergekommen, als man es vielleicht dachte. Während ich diese Frage ausgesprochen hatte, konnte man förmlich spüren, wie die gute Stimmung von gerade eben versiegte. Die Jungs hatten sich beide kaum merklich angespannt und blickten sich leicht nervös an. «Wir haben es zuhause nicht mehr ausgehalten», antwortete Ethan schliesslich ernst und blickte mich an. «Zuhause sind einige Dinge geschehen, die wir erst mal ein wenig verarbeiten wollten und so haben wir beschlossen, auf die Insel zu reisen und den Schatz zu suchen. Wir wollten schon lange Mal hierherkommen und fanden, dass nun die passende Zeit dafür sei», schloss Ethan mit seiner Erklärung ab. Blake war während der Erzählung seines Bruders still gewesen, nickte jedoch mehrmals, als wollte er ihm zustimmen. Mit seiner Erklärung hatte mich Ethan sehr neugierig gemacht, doch ich hakte nicht weiter nach, da ich bemerkt hatte, dass sie nicht wirklich grosse Lust hatten, darüber zu reden. «Und du?», riss mich Ethan dann plötzlich aus meinen Gedanken. Zuerst dachte ich darüber nach, auch in solchen Rätseln wie die beiden zu sprechen, entschied mich dann aber dagegen. Ich wollte ihnen lieber die Wahrheit sagen, da sie es irgendwann sowieso erfahren würden. «Ich wollte schon sehr lange auf die Insel, weil ich mich sehr für den Schatz und das Geheimnis interessiert habe. Ich habe mich im Internet sehr viele Stunden lang schlau über diese Insel gemacht und versucht alles darüber in Erfahrung zu bringen. Ich hatte schon alles geplant und auch schon fast alles besorgt, was ich brauchte. Als ich meinen Eltern schliesslich von meinem Plan, hierherzukommen, erzählt habe, wollten sie mich einfach nicht gehen lassen und liessen sich partout nicht umstimmen. Wir haben sehr lange und heftig gestritten und auch ich liess mich nicht umstimmen. Vor zwei Tagen habe ich mich dann dafür entschieden, dass ich in der Nacht trotzdem gehen würde, und so habe ich meinen Eltern und Geschwistern einen Brief hinterlassen und bin einfach gegangen. Ich fuhr mit dem Bus einige Stunden zum Hafen, mietete mir ein Boot und ruderte los», endete ich und blickte scheu zu den Jungs. Ich hatte Angst, dass sie mich nun verurteilen würden, weil ich einfach von zu Hause weggelaufen war. In ihren Gesichtern war jedoch nichts zu finden, was darauf hinwies und ich atmete erleichtert aus. Irgendwie waren nach der Beantwortung dieser Frage alle nachdenklich geworden und so liefen wir stumm weiter. Da wir jetzt längere Zeit immer gesprochen hatten, hiess ich die angenehme Stille nun herzlich willkommen, um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
«Vermisst du sie?», fragte Blake plötzlich in die Stille hinein und musterte mich nachdenklich. Zuerst musste ich kurz nachdenken, bis ich verstand, dass er auf meine Familie anspielte. «Schon», antwortete ich bedrückt, «aber im Moment geht’s noch.» Blake musterte mich nochmal kurz, bevor er seinen Blick wieder nach vorne richtete. Wir waren etwa zehn Minuten gelaufen, als wir an unserem Ziel ankamen. Schon als wir den kleinen Platz betreten hatten, fiel mir die spezielle Stimmung auf. Irgendetwas war anders als vorhin, irgendetwas schien von diesem Ort auszugehen. Wir konnten alle nicht genau sagen, was es war, doch der Ort schien etwas Mystisches zu haben. Die Temperatur war innerhalb von wenigen Sekunden deutlich gefallen und es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Vogelgezwitscher war mehr zu hören, auch das Rauschen des Meeres in der Ferne war plötzlich versiegt. Ein eisiger Wind war aufgezogen und peitschte uns um die Ohren. Mir schien mit jedem Schritt, mit dem wir näher traten, wurde es noch unheimlicher und geheimnisvoller. Niemand von uns wagte es, einen Ton von sich zu geben. Wir alle waren still und blickten ehrfürchtig auf die drei grauen, dunklen Grabsteine. Blake trat noch näher zu einem Stein heran und berührte ihn vorsichtig. Ich trat zu Blake und berührte den Stein ebenfalls. Meine Hand traf auf kühlen, festen Stein und ich strich vorsichtig darüber. Ich verspürte ein feines Kribbeln, das sich langsam von meinen Fingerspitzen bis in meine Zehen ausbreitete und ich erschauderte leicht. Kurzerhand trat ich zurück und blickte auf den Namen, der dunkel in den Stein gemeisselt stand. «Ezra Smith, geboren 15. April 1839, gestorben 18.Oktober 1861» Als ich diese Zeilen las, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Dieser Mann war gerade mal 22 Jahre alt geworden und nur gestorben, weil er unbedingt das Geheimnis der Insel lüften wollte. Ich ging weiter zum nächsten Stein und las auch dort den geschriebenen Text: «Jacob William, geboren 14.Dezember 1820, gestorben 12.Mai 1870», stand dort. Dieser Mann war zwar nicht so jung gewesen wie der erste, jedoch war es ein nächster Toter, der wegen seinen Nachforschungen gestorben war. Als Blake hinter mich trat, zuckte ich kurz zusammen und drehte mich zu ihm um. «Krass oder?», fragte er mich flüsternd und ich konnte nur nicken. Ich ging weiter zum letzten Grabstein. Auf diesem standen sogar 4 Namen. «Robert Restall, Sohn James + zwei unbekannte Arbeiter», las ich leise. Als ich mir auch den letzten Grabstein genau angesehen hatte, trat ich zurück und musterte die Steine nochmals der Reihe nach. Der erste Stein war nach Westen gerichtet, der Zweite nach Norden und der Letze nach Osten. Zusammen bildeten sie ein Dreieck, doch zwischen dem ersten und dem letzten Stein war noch ein Platz frei. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. «Es ist noch ein Platz frei», ertönte es immer und immer wieder in meinem Kopf. In dieser Dreieckskonstellation war noch ein Platz frei, der das Gebilde zu einem regelmässigen Quadrat ergänzen würde. Dieser Platz war extra frei gelassen worden, so dass noch genau ein Grabstein Platz finden würde und nach Süden ausgerichtet werden musste, damit das Muster aufging. Mir lief es erneut kalt den Rücken hinunter und ich entfernte mich noch weiter von den Steinen. Die Jungs waren entweder nicht zu dieser Schlussfolgerung gekommen oder sie wussten es schon, denn sie sahen überhaupt nicht verwirrt oder verstört aus. Nachdem sie sich ebenfalls alle Grabsteine angesehen hatten, traten sie zurück und schlenderten in meine Richtung. Ich war immer noch ein wenig verwirrt, was man mir auch ansehen musste, denn Ethan musterte mich und ein besorgter Ausdruck huschte über seine Züge. «Kommt, lasst uns an den Strand gehen und uns ein wenig hinsetzen und aufwärmen», verkündete Ethan nach einem kurzen Augenblick und wandte sich zum Gehen. Ich hielt seinen Vorschlag gerade für angebracht, da mir wirklich eisig kalt war und ich schon am ganzen Körper zitterte. Ich wollte mich ebenfalls abwenden, als Blake uns bat, kurz zu warten, da er sich die Felsen, die rundherum auf dem Platz standen, noch genauer anschauen wollte.
Mir waren die grossen Gesteinsbrocken vorhin gar nicht wirklich aufgefallen, doch als ich jetzt nähertrat, schnappte ich erschrocken nach Luft. Die Steine waren keineswegs einfach nur gewöhnliche Steine. Sie hatten Gesichter, Hände, Füsse und sogar etwas wie Kleidung. Jedoch bewegten sie sich nicht. «Zum Glück», dachte ich. Das wäre ja noch schöner gewesen. In diesem Moment schlug ich mir an die Stirn. Natürlich, jetzt fiel es mir ein, diese Steine mussten irgendwelche Statuen von Leuten sein, die von einigen verehrt wurden. Ich erinnerte mich, dass es dies öfters gab, vor allem in Museen oder an ähnlichen speziellen Orten, wie dieser hier einer war. Ich trat noch näher an eine der Statuen und inspizierte sie genau. Allem Anschein nach, war es eine Frau. Sie trug ein Kleid, das aussah, als hätte es im Wind geflattert, bevor es versteinert wurde. Die Statue trug zudem noch eine lange Perlenkette oder Ähnliches um den Hals und trug Sandalen an den Füssen. Die Person, die diese Statue gemeisselt hatte, hatte wohl ein sehr gutes Fingerspitzengefühl besessen, denn jedes noch so kleine Detail an dieser Statue sah perfekt aus. Ich warf der Statue noch einen letzten Blick zu, bevor ich mich umwandte und zu Ethan zurückging, der vor der Kurve auf uns wartete. Kurz danach stiess auch Blake wieder zu uns und wir schlenderten um die Ecke, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Statt nach rechts abzubiegen, wo es wieder zurück zu unserem Zelt gegangen wäre, bogen wir nach links zu einer kleinen Bucht ab, um uns ein wenig an den Strand zu setzen. Kaum hatten wir uns einige Meter vom Friedhof entfernt, spürte ich wie die Wärme allmählich wieder zurückkehrte und auch leises Vogelgezwitscher war wieder zu hören. Als wir am Strand ankamen, breiteten wir unsere Decke aus und machten es uns darauf bequem. Kaum hatten wir dies getan, kramte Ethan das Essen aus seinem Rucksack hervor, das wir eingepackt hatten. Mit knurrendem Magen griff ich ebenfalls zu und liess es mir schmecken. Nachdem ich den letzten Bissen runtergeschluckt hatte, drehte ich mich in Richtung Meer und schloss meine Augen. Ich atmete glücklich den salzigen Duft ein und hörte den Wellen zu. Ich spürte förmlich, wie die Anspannung, die sich beim Grabmal in meinem Inneren angesammelt hatte, von mir abfiel. Mir entfuhr ein leises Seufzen und schliesslich öffnete ich meine Lieder wieder, um dem Wasser zuzusehen. Auch die Jungs hatten sich dem Meer zugewandt und Ethan hatte seine Augen geschlossen, während mich Blake verschmitzt anlächelte. Ich dachte noch mal ein wenig über vorhin nach. Ich wunderte mich immer noch, dass noch genau ein weiterer Platz für einen Grabstein frei war. In dem Moment fiel mir ein, dass die Jungs sich darüber gar nicht gewundert hatten und entschloss mich, sie danach zu fragen.
«Kennst du den Fluch denn nicht?», fragte mich Ethan verwirrt, als ich meine Frage schliesslich ausgesprochen hatte. «Was für einen Fluch?», fragte ich irritiert und zog meine Stirn kraus. «Na, der von den sieben Toten», schaltete sich nun auch Blake ein. Einen kurzen Moment dachte ich nach und durchforstet meine Gedanken. «Nein», antwortete ich dann schliesslich und blickte die beiden interessiert an. «Also», begann Ethan. Ein geheimnisvoller Schatten legte sich über sein Gesicht und seine Augen begannen förmlich zu glänzen. «Vor lange Zeit hat ein alter Magier einen Fluch auf diese Insel gelegt. Die Legende besagt, dass er einen Zauber ausgesprochen hat, der noch bis heute wirkungsvoll ist», erzählte er weiter. «Und wie lautete dieser Zauber?», fragte ich neugierig und blickte Ethan erwartungsvoll an. Ethan quittierte meine Neugierde mit einem kurzen Lächeln, bevor sich der geheimnisvolle Schatten wieder über sein Gesicht zog. «Man weiss heute nicht mehr genau, was der Magier gesagt hatte, doch man kennt die ungefähre Bedeutung davon noch. Der Magier war aus einem heute unbekannten Grund wütend geworden und hatte die Bewohner von Oak Island schliesslich verflucht. Ebenfalls verfluchte er die Insel selbst und auch alle, die die Insel je betreten würden. Im Fluch ging es darum, dass sieben Leute auf der Suche nach einem Schatz sterben würden, bevor sie den Schatz finden konnten. Der Magier war jedoch recht schlau und sorgte auch dafür, dass es nicht zählen würde, wenn jemand von jemand anderem oder sich selbst umgebracht wurde. Das mit dem Fluch hatte sich schnell herumgesprochen, und weil der Magier alle verflucht hatte, die nach einem Schatz suchen würden, gingen alle davon aus, dass dieser wirklich existierte. Wir wissen nicht, ob das, was man sich über den Fluch erzählt, wahr ist. Doch im Laufe der Jahrhunderte erzählte man sich diese Geschichte immer und immer wieder und viele Leute sind davon überzeugt, dass der Fluch und der Schatz existieren», beendete Ethan seine Geschichte und das geheimnisvolle Glitzern in seinen Augen erlosch. Währenddem er die Geschichte erzählt hatte, klappte vor Erstaunen mein Mund auf. «Hast du das mit dem Fluch etwa nicht gewusst?», fragte Ethan mich dann verwundert. Ich schüttelte nur meinen Kopf, weil ich noch nicht im Stande dazu war, irgendeinen Ton rauszubringen, geschweige denn ihm eine Antwort zu geben. Wie konnte es sein, dass ich von diesem Fluch noch nie etwas gehört hatte? Eigentlich hatte ich gedacht, ich wüsste so gut wie alles über die Insel und ihre Geschichte. Ich hatte mich wohl gründlich geirrt, doch ich konnte mich wirklich nicht erinnern, dass im Internet oder in irgendeinem Buch, etwas darüber gestanden war. Ich merkte, dass mein Mund immer noch offenstand und so klappte ich ihn zu und dachte weiter über diesen Fluch nach. Ob diese Geschichte wirklich wahr war?
Unter der Oberfläche
Nach der Mittagspause wanderten wir den kleinen Weg zurück. Wir hatten beschlossen, jetzt erst mal zum Zelt zurückzukehren und morgen mit unserer Suche fortzufahren. Niemand sprach in der Zeit in der wir liefen, und jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach. Nachdem wir beim Zelt alles ausgepackt hatten, schnappten wir uns die Strandtücher und gingen runter zu der kleinen Bucht, an der wir uns gestern kennengelernt hatten. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir den Rest des heutigen Tages einfach noch am Strand verbringen wollten, faulenzen würden und vielleicht ein wenig im Meer schwimmen gehen würden. Als wir den kleinen Waldweg, der in die Bucht überging, verliessen, schleuderte ich meine Schuhe von den Füssen und zog meine Füsse durch den warmen Sand. Ich liebte es, meine Füsse im Sand zu baden und mir lief ein angenehmer Schauer über den Rücken. Nach einer Weile hob ich meine Schuhe wieder hoch und folgte den Jungs, die die andere Seite der Bucht anstierten und sich anscheinend dort niederlassen wollten. Ich breitete das Tuch, das mir Blake mir geliehen hatte aus, zog mir mein Shirt über den Kopf und schlüpfte aus meinen Shorts. Ich faltete die Sachen zusammen und legte sie auf mein Tuch. Jetzt stand ich nur noch im Bikini da, den ich gestern schon getragen hatte. Zum Glück hatte ich ihn gestern nicht in meiner Tasche verstaut, die über Bord ging, sondern hatte ihn unter meinen Kleidern getragen. Ich liess mich auf das Tuch sinken und blickte aufs Meer, bevor ich mich den Jungs zuwandte. Diese hatten ihre Alltagskleidung nun auch abgestreift und standen in ihren Badeshorts neben mir und unterhielten sich angeregt. «Kommt ihr ins Wasser oder wartet ihr auf besseres Wetter?», scherzte ich und blickte die Jungs auffordernd an. Diese zuckten beide zusammen, als hätten sie total vergessen, dass ich hier war. Blake, der mir seinen Rücken zugewandt hatte, drehte sich um und wollte anscheinend etwas sagen, doch bevor er ein Wort herausbrachte, verstummte er wieder und musterte mich von Kopf bis Fuss. Anerkennend pfiff er durch die Zähe, wandte sich dann aber wieder seinem Bruder zu. Nach ein paar Sekunden, in denen sich die Jungs anscheinend besprochen hatten, gingen sie beide Richtung Wasser. Es war einfach verblüffend, dachte ich, als ich die beiden so von hinten betrachtete. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Klar, sie waren Zwillinge, aber mich faszinierte es trotzdem, denn ich hatte noch nie Zwillinge kennengelernt und ich konnte mich an ihre Ähnlichkeit einfach nicht gewöhnen.
«Kommst du?», fragte Ethan plötzlich und drehte sich ruckartig um. Ich zuckte zusammen und fühlte mich sofort ertappt, weil ich die beiden so intensiv angestarrt hatte. «Klar», brachte ich mühsam hervor, hüpfte auf meine Füsse und stapfte durch den Sand zu den Jungs. Sie hatten auf mich gewartet und lächelten mich nun beide an. Blake war der erste, der sich löste und auf das Wasser zuging. Auch Ethan löste sich und stapfte davon. Ich ging nun ebenfalls Richtung Wasser und folgte den beiden. Als ich unten ankam, umspielte das Wasser kitzelnd meine Zehen. Es war angenehm kühl und für einen Moment schloss ich die Augen, um das schöne Gefühl zu geniessen.
Nachdem ich kurz einfach so dagestanden war, öffnete ich meine Augen wieder und ging weiter. Ich stand nun bald schon bis zu den Knien im Wasser und lief noch weiter hinein, bis mir das Wasser zu den Schultern reichte. Und nun tauchte ich das erste Mal mit meinem Kopf unter. In diesem Moment durchzuckte es mich wie ein Blitz. Ich hatte wieder das Gefühl, unter Wasser gedrückt zu werden und keine Luft mehr zu bekommen. Schnell tauchte ich auf und schnappte nach Luft, weil ich Angst hatte, wieder in die Tiefe gerissen zu werden. Doch nichts geschah, mein Kopf wurde nicht wieder unter Wasser gedrückt und ich konnte normal atmen. «Es ist alles gut», beruhigte ich mich selbst und atmete tief durch. «Du bist in Sicherheit und dir kann nichts geschehen», versuchte ich mich noch mehr zu beruhigen. Nun hob ich den Blick und schaute geradewegs in das besorgte Gesicht von Blake. Keine zwei Meter stand er von mir entfernt und musterte mich. «Was ist?», fragte ich ihn und lächelte zaghaft. Ein kurzer verwirrter Ausdruck huschte über sein Gesicht, der aber gleich darauf wieder verschwand. «Alles okay mit dir?», fragte er nun wieder besorgt und bedachte mich mit einem unergründlichen Blick. «Klar», antwortete ich mit einem kleinen Zittern in der Stimme. Ich merkte genau, dass er das kleine Zittern in meiner Stimme bemerkt hatte und ich wartete schon darauf, dass er mich darauf ansprechen würde. Doch er tat es nicht, er starrte mich nur wieder an.
Als mir nach einigen Sekunden plötzlich eine Ladung Wasser ins Gesicht spritzte, zuckte ich erschrocken zusammen und stiess einen kleinen Schrei aus. Ethan, der mich wohl angespritzt hatte, lachte schallend und ich bekam erneut eine Ladung ins Gesicht. Dies konnte ich nicht einfach so auf mir beruhen lassen und spritzte ihn ebenfalls nass. Ohne mich zu ihm zu drehen, schaufelte ich ihm eine volle Ladung Wasser in sein vom Lachen verzogenes Gesicht. Er war scheinbar nicht auf meinen Gegenangriff gefasst gewesen, denn er sah aus wie ein begossener Pudel. Nun war ich es, die lachte. Plötzlich bekam ich wieder eine volle Ladung Wasser ins Gesicht ab, die jedoch nicht von Ethan kommen konnte, denn dieser starrte mich immer noch an. Daraus schloss ich, dass Blake sich uns anscheinend auch angeschlossen hatte und ich spritzte Wasser in die Richtung, in der ich ihn vermutete. Blake lachte erschrocken auf. Dies war der Startschuss für Ethan und mich und wir brachen in eine wilde Wasserschlacht aus. Aus dem Augenwinkel sah ich gerade noch, wie Blake absprang und auf mich zuhechtete, um mich nasszuspritzen. Kurzerhand tauchte ich quickend unter und stiess mich am Boden in die entgegengesetzte Richtung ab. Einige Meter neben meinem ursprünglichen Ort tauchte ich wieder auf. Nun fiel mir auf, dass ich dieses Mal untergetaucht war, ohne in Panik zu geraten und ein strahlendes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. In diesem Moment bekam ich eine volle Ladung Wasser ins Gesicht und ich quickte erneut erschrocken auf. Blake hatte meine Ablenkung ausgenutzt, war auf mich zugesprungen und hatte mich so kräftig nass gespritzt. Prustend und lachend tauchte er wieder auf und kam auf mich zu. Ich musste ebenfalls lachen und schlug ihm mit meiner Hand spielerisch auf die Brust. Ich wollte gerade noch ein zweites Mal ausholen, als er meine Hand packte und festhielt. Ich zog daran, doch er gab meine Hand partout nicht los. Ich legte die grösste Kraft darin, die ich nutzen konnte, doch ich schaffte es einfach nicht, mich loszureissen. Da ich mich so auf Blake konzentriert hatte, hatte ich mich nicht mehr auf den Boden konzentriert, trat prompt auf einen Stein und rutschte darauf aus. Bevor ich jedoch mit meinem Kopf ins Wasser klatschen konnte, hielten mich zwei starke Arme fest und zogen mich zu sich. Blake hielt mich fest und ich wurde gegen ihn gedrückt. Scheu blickte ich auf und schaute geradewegs in sein Gesicht und sah, dass er wieder diesen besorgten Ausdruck in den Augen hatte. «Danke», flüsterte ich leise und blickte Blake immer noch an. Er nickte kaum merklich und starrte mich ebenfalls an. Unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt.
Kaltes Wasser traf uns im Gesicht und wir zuckten erschrocken zusammen und sahen in die Richtung aus der das Wasser kam. Dort stand Ethan, grinsend vom einen bis zum anderen Ohr und blickte uns an. Da fiel sein Blick auf Blakes Hände, die immer noch auf meinen Hüften lagen. Ein düsterer Schatten zog sich über Ethans Gesicht, der aber schnell wieder verschwand. «Kommt ihr auch raus?», fragte er uns dann und lief in Richtung Ufer. Nach kurzem Zögern lösten sich Blake und ich voneinander und schwammen ebenfalls zum Ufer.
Am nächsten Morgen sassen wir wieder alle zusammen beim Frühstück und besprachen, was wir heute unternehmen wollten. Wir einigten uns schliesslich darauf, dass wir die Unfallorte von Mr. Smith, Mr. William, Mr. Restall, seinem Sohn und den Arbeitern besuchen wollten. Wir wussten auch, dass dies ziemlich abstrakt klang, doch uns fiel kein anderer Ort ein, an dem wir unsere Suche beginnen sollten.
Nach dem Frühstück packten wir unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg. Mr. Smiths Todesort war gar nicht so weit von unserem Zelt entfernt und so waren wir ziemlich schnell an unserem Ziel angelangt. Nach einem kurzen Fussmarsch traten wir auf eine kleine lichtdurchflutete Stelle und ich sah mich um. Es gab nicht wirklich viel zu sehen. Einige Bäume standen da und ein paar Steine versperrten uns den Weg. Als ich jedoch genauer hinsah, fiel mir auf, dass es dieselben Steine wie gestern beim Grabmal waren. Es waren eigentlich nicht einfach nur Steine, es waren riesige Statuen, die Menschen darstellten und uns anzublicken schienen. Ich wandte schnell den Blick ab, um auf andere Gedanken zu kommen. Das einzig andere, was noch halbwegs interessant zu sein schien, war ein Schachtdeckel, der in den Boden eingebaut worden war. Er kam mir in all der puren Natur ein wenig verloren vor. Einige Sekunden starrte ich den Deckel an, um zu überlegen, was dieser wohl verdecken würde, doch mir fiel einfach nichts Realistisches ein. Also ging ich sicheren Schrittes auf den Schacht zu, hob den Deckel auf und späte hinein. In dem Loch war es relativ dunkel, so dass ich den Boden nicht erkennen konnte. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich jedoch eine Leiter, die an einer Wand des Loches befestigt war. Daraus schloss ich, dass dies wohl irgendein Gang sein musste. Vorsichtig kniete ich mich hin, darauf bedacht, ja nicht ins Loch hineinzufallen. Langsam stellte ich meine Füsse auf die erste Sprosse der Leiter, drehte mich herum und kletterte ein wenig misstrauisch in die dunkle Tiefe hinunter. Es roch muffig und es herrschte eine modrige Kälte. Ich spürte, wie sich auf meinem Körper eine Gänsehaut bildete und ich schluckte schwer. Nach einigen weiteren Tritten, spürte ich plötzlich festen Boden unter meinen Füssen und atmete erleichtert auf. Als ich mich schliesslich umdrehte, fiel mir die Kinnlade hinunter. Vor mir ertreckte sich ein langer, dunkler Gang, aus dem es noch mehr zu stinken schien. Als hinter mir plötzlich Schritte ertönten, zuckte ich vor Schrecken zusammen und wirbelte herum.
«Was tut ihr den hier?», fragte ich die Neuankömmlinge leicht verwirrt. «Hast du etwa gedacht, wir lassen dich alleine in einen dunklen, alten Schacht hinuntersteigen?», fragte mich Blake empört zurück, grinste mich dann jedoch an. Ich musste zugeben, ich hatte nicht gedacht, dass die beiden mir folgen würden, doch eigentlich war ich froh darüber, denn in diesem Gang war es schon recht unheimlich. Es hätten nur noch ein paar Fackeln an den Wänden und einige alte Knochen auf dem Boden gefehlt, dachte ich und musste schmunzeln. «Was grinst du denn so?», riss Ethan mich plötzlich aus meinen Gedanken und musterte mich. «Ach, nicht so wichtig», gab ich schnell zurück und wandte mich wieder dem Gang zu. Langsam ging ich nach vorne und trat in den Gang. Vorsichtig tastete ich mich mit meinen Händen an den Wänden voran. Bei jedem Schritt musste ich extrem aufpassen, um nicht auf irgendwelche herumliegenden Steine oder sonst etwas zu treten. Wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht mal wissen, was dieses «sonst etwas» war. Ich beschleunigte meine Schritte jedes Mal, wenn ich über etwas stolperte, was kein Stein sein konnte. Das Einzige, was ich hören konnte, waren meine eigenen Schritte und die der Jungs. In dem Gang herrscht eine gespenstische Stille und es schien immer kälter zu werden. «Was war das hier nur?» fragte ich mich immer und immer wieder. Zuerst hatte ich gedacht, es sei irgendein Abwasserkanal oder Ähnliches. Doch diesen Gedanken hatte ich recht schnell wieder verworfen, weil es mir hier eher wie ein unterirdischer Gang vorkam. Ich kam jedoch einfach nicht darauf, wo dieser hinführen konnte. Ich zerbrach mir regelrecht den Kopf darüber, aber alles nützte nichts und so musste ich mich wohl noch gedulden, bis wir am Ende des Ganges ankommen würden.
Einige Minuten waren vergangen, als ich plötzlich Ethan hinter mir flüstern hörte, ich drehte mich um und hielt an, um nachzufragen, was er gesagt hatte. «Ich glaube, wir sind hier irgendwo in einem Geheimgang, der vor sehr langer Zeit für irgendetwas Spezielles genutzt wurde», flüsterte er und sah mich verschwörerisch an. Damit sprach er einen Teil meiner Gedanken laut aus und ich nickte ihm zustimmend zu. Auch Blake schien an der Antwort herumzutüfteln, was das hier war, denn er hatte seine Stirn in Falten gelegt und ein nachdenklicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Ich ging weiter, nach einigen Metern jedoch stiess ich mit meinem Fuss an einen grossen Stein und schrie vor Schreck auf. Als ich erkannte, dass es nur ein Stein war, atmete ich erleichtert aus und bleib erneut stehen, denn hier würden wir nicht mehr weiterkommen. «Warum so schreckhaft Meerprinzessin?», fragte Ethan hinter mir lachend und ich warf ihm einen bösen Blick über meine Schulter zu.
Danach legte ich meine Hände an den Stein und versuchte, ihn zu bewegen, doch da liess sich nichts machen. Mit meiner gesamten Kraft versuchte ich, den Stein zur Seite zu schieben, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Der Stein bewegte sich auch nicht, als die Jungs ebenfalls danach griffen, um ihn wegzustossen. Ich stiess ein frustriertes Seufzen aus und wandte mich in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich drängte mich an den Jungs vorbei und schlenderte langsam den dreckigen Gang zurück. Auch die Jungs gaben es auf und folgten mir schliesslich. Da trotteten wir nun alle mit hängenden Köpfen den alten Gang zurück, um wieder zu der Leiter zu gelangen. Bei der Leiter angekommen, griff ich zügig nach einer der oberen Sprossen und kletterte hinauf.
Draussen empfingen uns warme, angenehme Sonnenstrahlen. Ich ging einige Schritte, reckte mein Gesicht gen Himmel und liess es von der Sonne wärmen. Ethan und Blake taten es mir gleich. Allem Anschein nach hatten die beiden vorhin auch recht gefroren, denn ebenfalls ihre Arme wurden von einer Gänsehaut überzogen.
Wir sahen alle ein wenig enttäuscht aus. Nach den Blicken der Jungs zu urteilen, hatten auch sie gehofft, dass wir irgendetwas entdecken würden. Danach machten wir uns ohne grosse Erwartungen auf zum zweiten Todesort. Ethan trat von der Lichtung wieder auf den kleinen Weg zurück und Blake und ich folgten ihm. Da wir auf die andere Seite des Flusses mussten, sahen wir uns nach einer Brücke um. Nach einige Metern fanden wir eine. Die Brücke war alt und sah nicht mehr wirklich sehr stabil aus, doch uns blieb nichts anderes übrig, wenn wir den Fluss überqueren wollten. Also gingen wir auf die Brücke zu und nach kurzem Zögern tat Blake den ersten Schritt auf das alte Holz. Die Brücke knarrte gefährlich unter seinem Gewicht und ich sog erschrocken die Luft ein. Vorsichtig setze er einen vor den anderen Fuss, bis er schliesslich heil auf der anderen Seite des Flusses angelangt war. Nun war ich dran. Ich stellte ebenfalls vorsichtig meinen ersten Fuss auf die Brücke und wartet einen Augenblick, um zu sehen, ob irgendwas geschehen würde. Als ich sicher war, dass mir im Moment nichts geschehen würde, stellte ich auch meinen zweiten Fuss auf das nun knarrende Holz. Erneut zog ich scharf den Atem ein. Meine Hände, die sich am Geländer der Brücke festhielten, waren schweissnass und meine Knöchel traten schon weiss hervor, weil ich mich so verzweifelt festklammerte. Wie Blake es zuvor gemacht hatte, setzte ich nun ebenfalls immer einen Fuss vor den anderen. Nach einer gefühlten Stunde kam ich endlich am Ende an und hüpfte erleichtert auf das weiche Gras vor mir. Blake lächelte mir aufmunternd zu und ich lächelte zaghaft zurück. Einen kurzen Moment später hatte es schliesslich auch Ethan auf unsere Seite der Brücke geschafft und wir liefen alle sichtlich erleichtert weiter.
Wir waren weiter an der Seite des Flusses gegangen, bogen nun aber nach rechts ab und gelangten in einen noch schmaleren Weg als diesen, dem wir bis jetzt gefolgt waren. Die Bäume standen noch dichter beieinander und somit konnten wir nur wenige Meter weit sehen und waren von Bäumen umzingelt. Wir folgten dem schmalen Pfad, bis wir nach einigen Minuten wieder zu einer kleinen Lichtung kamen. Die vielen Bäume aber verdeckten die Sonne und ein leiser Wind zog durch das Wäldchen. Fröstelnd schlang ich mir die Arme um den Oberkörper und bleib stehen, um mich umzusehen. Wie auf der anderen Lichtung konnte ich hier ebenfalls wieder diese Lebensgrossen Statuen aus Stein erblicken, die mich fast schon zu beobachten schienen. «Seht mal!», rief Ethan dann plötzlich und ich wandte mich von den Statuen ab und ging zügig auf ihn zu, Blake war mir dicht auf den Fersen. Er hatte sich einige Meter von Blake und mir entfernt und stand bei einem grauen Schachtdeckel, der in dem Boden eingebaut worden war. Ich schnappte erschrocken nach Luft und blieb abrupt neben Ethan stehen und blickte erschrocken zu Blake. Auch seine Augen hatten sich vor Erstaunen und Schrecken geweitet. Der Schachtdeckel war genau derselbe, wie der auf der ersten Lichtung. Ich begann mich zu fragen, ob sich wohl beide Todesfälle in den Untergrundtunnels ereignet hatte, wenn es denn hier auch einen gab. Blake, der wohl dasselbe dachte wie ich, ging nun auf den Schachtdeckel zu und hob ihn an.
Ebenfalls wie vorhin kam eine morsche Leiter zum Vorschein, die in die Tiefe führte. Kaum hatte Blake den Deckel abgelegt, stieg er auch schon in die dunkle Tiefe hinunter und verschwand kurz darauf vollkommen in der Schwärze. Kurzerhand setze auch ich mich in Bewegung und folgte Blake in den unterirdischen Gang hinunter.
Als ich nach einigen Tritten endlich unten ankam, sprang ich von der Leiter und meine Füsse trafen endlich wieder auf harten Boden. Ich trat vorsichtig zur Seite, dass auch Ethan, der mir gefolgt war von der Leiter hinunterspringen konnte. Blake, der einige Meter vor uns im Gang wartete, trat unruhig vom einen auf den anderen Fuss. Ich war nun ebenfalls erneut aufgeregt, da ich hoffte, dass wir dieses Mal wirklich etwas finden würden. Einige Sekunden später zog ich angeekelt meine Nase kraus. Ich hatte gedacht, dass es im anderen Gang schon gestunken hatte, doch das, was man hier roch, war einfach nur abstossend und widerlich. Kurzerhand hielt ich mir die Nase mit meinen Fingern zu und beschloss im Moment nur noch durch meinen Mund zu atmen. Leise folgte ich Blake, der nun wieder weitergelaufen war. Ethan ging so dicht hinter mir, dass ich sogar seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren konnte.
Ein paar Meter weiter vorne lichtete sich der Gang plötzlich. Er wurde immer breiter, bis wir schliesslich auf einem kleinen Platz standen. Wir befanden uns immer noch unter der Erde und der schreckliche Gestank hatte noch nicht nachgelassen. Ich versuchte irgendetwas um mich herum zu erkennen, doch ich konnte meine eigene Hand kaum vor Augen sehen, und so warf ich den Gedanken gleich wieder über Bord. Eine Sekunde später fiel mir ein, dass wir heute Morgen Taschenlampen eingepackt hatten. Widerwillig löste ich meine Hand von meiner Nase, versuchte aber trotzdem, nur durch meinen Mund zu atmen. Danach bat ich Ethan, der im Moment den Rucksack auf den Schultern hatte, sich umzudrehen, damit ich die Taschenlampen herausfischen konnte. Nachdem ich beide gefunden hatte, reichte ich eine an Ethan weiter und wir leuchteten zusammen den kleinen Platz ab. Was ich dann sah, liess mich vor Erstaunen fast die Taschenlampe fallen. Überall um uns herum standen wieder die riesigen Statuen aus Stein. Als ich genauer darüber nachdachte, musste ich stutzen. Wie um Himmels Willen hatte es jemand geschafft, diese menschengrossen Gebilde hier hinunterzuschaffen? Erstens war der Gang, der uns hierhergeführt hatte, super schmal und zweitens: Wie um alles in der Welt, hatte man es geschafft diese Dinger die Leiter hinunterzubringen? Die Jungs schienen ebenfalls verwirrt und blickten verstört zu mir. Ich zuckte nur mit den Schultern und sah mich weiter um, doch ich konnte nichts Weiteres entdecken. Das Einzige, das hier unten zu sein schien, waren diese alten Statuen aus Stein. Enttäuscht liess ich die Schultern hängen, ging aber doch noch mal zu einer der Statue hin, um sie zu begutachten. Dieses Mal war es ein Mann, er trug etwas Ähnliches wie einen Rock auf seinen Hüften und sein Oberkörper war frei. An seinen Füssen trug er ähnliche Sandalen wie die Frau von gestern, einfach in der Männerversion. Langsam hob ich meine Hand und fuhr mit meinen Händen sachte über den kalten Stein. Ein leichter Schauer lief mir über meinen Rücken, denn von Nahem sah diese Person nur noch echter aus als von weitem. Plötzlich spürte ich an meinem Rücken eine Bewegung und ich zuckte zusammen. Ich drehte mich um und bemerkte, dass es jedoch nur Blake war, der sich hinter mich gestellt hatte, um sich die Statue ebenfalls anzuschauen. Bevor ich mich wieder umdrehte, warf ich Blake ein scheues Lächeln zu, das er erwiderte.
Ich versuchte mich wieder auf die Statue zu konzentrieren, doch es klappte einfach nicht. Ich spürte Blakes warmen Atem in meinem Nacken und seinen Arm, der meinen Rücken streifte. Langsam drehte ich meinen Kopf herum und blickte geradewegs in Blakes strahlend grüne Augen. Seine Augen liessen mich einfach nicht mehr los und ich starrte ihn hemmungslos an. Auch er wandte seinen Blick nicht ab und so standen wir da wie zwei Bekloppte und starrten uns einfach nur an. Blakes Augen zuckten von meinen Augen kurz zu meinen Lippen hinunter, bevor sie wieder zu meinen Augen zurückwanderten, um mich wieder anzustarren. Mein Blick wanderte nun ebenfalls zu seinen Lippen hinunter und blieb einige Sekunden daran hängen. Als ich ihm danach wieder in die Augen sah, fand ich ein kleines Glitzern darin, das mein Herz plötzlich schneller schlagen liess. Ich bemerkte, wie unsere Gesichter sich immer näher kamen. Hätte mich jetzt jemand gefragt, ob ich es war, die sich immer näher an ihn heranschob oder ob er es war, hätte ich ihm diese Frage nicht beantworten können, doch das war mir egal. Ich wollte nur noch, dass er seine Lippen auf meine legte und mich festhielt. Unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und mein Atem beschleunigte sich.
Neben uns räusperte sich plötzlich jemand und wir fuhren auseinander. Ich wäre vor Schreck fast hingefallen, hätte Blake im letzten Moment nicht meinen Arm gepackt und mich zu sich herangezogen. Nun drehte ich meinen Kopf herum, um zu sehen, wer mich da gerade so erschrocken hatte. Logischerweise gehörte das Räuspern zu Ethan, denn er war der Einzige, der ausser Blake und mir hier unten war. Ich wollte ihn gerade danach fragen, warum er sich geräuspert hatte, als mir der böse Blick auffiel, mit dem er seinen Bruder gerade musterte. Mein Blick huschte zu Blake, der seinen Bruder genauso böse anfunkelte. Ich spürte förmlich, wie die Luft immer dünner wurde und dass die beiden, warum auch immer, gleich aufeinander los gehen würden. Nun war ich es, die sich räusperte und die angespannten Blicke der Jungs zuckten beide in meine Richtung. Mir war nicht klar, was sie gerade für ein Problem hatten, ich jedenfalls wollte nun irgendwelche Hinweise auf den Schatz finden, mit oder ohne die beiden. «Da es hier anscheinend nichts Spannendes zu sehen gibt, könnten wir noch zum letzten Unfallort gehen oder?», fragte ich bestimmt und blickte die beiden herausfordernd an. Ein verwirrter Blick huschte über Blakes Gesicht, doch er nickte mir zustimmend zu.
Auf dem Weg nach draussen herrschte ein unangenehmes Schweigen. Blake ging wieder voran, ich hinterher und Ethan bildete das Schlusslicht. Nachdem ich die Leiter hochgeklettert war, konnte ich endlich wieder normal atmen. Langsam so ich ein wenig der frischen Luft in meine Lungen und lächelte verzückt. Blake sah nun auch wieder recht freundlich aus, doch Ethan blickte noch immer ein wenig böse in die Runde, doch das ignoriert ich. Ich schob mich an die Front unseres Trupps und übernahm die Führung. Da ich zuhause die komplette Karte der Insel auswendig gelernt hatte, wusste ich genau, wo ich hin musste und lief nun mit raschen Schritten zurück auf den schmalen Weg, von dem wir gekommen waren.
Als wir nach einigen Minuten aus dem kleinen Weg hervortraten und nun wieder auf dem Weg standen, der den Fluss entlang führte, bog ich rechts ab und lief gerade aus. Ethan und Blake waren direkt hinter mir und ich konnte das Aufschlagen ihrer Füsse auf dem dichten Gras hören. Etwa fünf Minuten waren wir dem Weg gefolgt, als er sich plötzlich erneut lichtete. Nun standen wir vor der Bucht, in der wir uns gestern ein wenig hingesetzt hatten, um zu essen. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass auch hier ein Schachtdeckel im Boden eingelassen war, dieses Mal nur nicht im Gras, sondern im hellbraunen, glitzernden Sand. Bevor ich auf den Deckel zuging, schloss ich für einen kurzen Augenblick meine Augen, um dem Meer zuzuhören und so Energie zu tanken. Nachdem ich den Deckel geöffnet hatte, stieg ich die mir nun wohlbekannte Leiter hinunter in die Tiefe. Auch in diesem Gang roch es nicht gerade angenehm, jedoch weitaus besser als in dem vorherigen. Als wir dieses Mal ebenfalls bei einem kleinen Platz ankamen und ihn mit Taschenlampen erkundeten, keuchte ich erschrocken auf.
Der Siebte
Hier standen ebenso wie im vorherigen Gang lauter Steinstatuen. Die waren es jedoch nicht, die mich erschreckt hatten. Jedenfalls nicht die Statuen selbst. Ich war erschrocken, weil einige der Statuen voller dunkelroter Flecken waren. In dem Moment, als ich dies gesehen hatte, hatte ich gewusst, was es war. Eigentlich war es bei unserer Erkundung der Todesorte einiger Menschen nicht einmal so abwegig, dass wir auch ihr Blut sehen würden. Jedoch hatte ich in dem Moment aber überhaupt nicht damit gerechnet. Als ich so erschrocken war, hatte meine Hand automatisch nach der von Blake gegriffen, der neben mir gestanden hatte. Nun, als ich mich vom ersten Schrecken wieder erholt hatte, liess ich seine Hand schnell los und lief zu einer der blutbefleckten Statuen, um meine Wangen zu verstecken, die mittlerweile knallrot angelaufen waren. Von Nahem sah das Blut, das auf dem Stein klebte, nicht einmal so schlimm aus und ich betrachtete es aufmerksam. Mir schoss durch den Kopf, dass dieses Blut schon etwa 55 Jahre alt sein musste und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich ging weiter zur nächsten Statue. Wie die erste, die ich davon gesehen hatte, stellte diese eine Frau dar. Sie trug praktisch dieselbe Kleidung wie die andere, jedoch sah ihr Körper komplett anders auch. Ihre Augen standen näher bei der Nase, sie hatte eine höhere Stirn und ihr Mund hatte eine komplett andere Form. Daraus schloss ich, dass diese hier wohl eine andere Frau sein musste als die erste. Als ich mich noch näher heranbeugte, bemerkte ich, dass sie sogar ein kleines Muttermal auf ihrem Kinn besass. Die Leute, die diese Statuen gemeisselt hatten, mussten wirklich sehr genaue Arbeiter gewesen sein. Ich fragte mich, wie die Frau, die da gerade vor mir stand, wohl hiess und musste beim Gedanken daran schmunzeln.
Wir blieben noch einige Zeit auf dem unterirdischen Platz und sahen uns um, fanden jedoch nichts Spannendes und machten uns wieder auf den Rückweg. Nachdem wir wieder alle die Leiter erklommen hatten, beschlossen wir, dass wir nun zum Zelt zurückkehren würden und vielleicht noch ein wenig an den Strand gingen. Gerade als wir die Bucht verlassen wollten, ertönte von zwischen den Bäumen ein lautes Knacken und wir zuckten alle drei erschrocken zusammen. «Wer ist da?», fragte Blake mit bebender Stimme in das kleine Wäldchen. Ein etwa 40-jähriger Mann trat aus den Bäumen und starrte uns erschrocken an. «Ich bin es nur», antwortete er stockend und starrte uns dabei neugierig an. «Mr. Coleman, was tun sie denn hier?», kam es da plötzlich von Ethan und er starrte den Mann perplex an. «Du kennst den Typen?», fragte Blake dann plötzlich dazwischen, der genau so verwirrt aussah, wie ich mich fühlte. «Also kennen ist übertrieben, Mr. Coleman ist der Forscher, von dem ich euch erzählt habe. Ich habe ihn vorgestern getroffen, als ich zum Fluss ging, um unsere Sachen abzuwaschen», antwortete Ethan an Blake und mich gewandt. In diesem Moment fiel es mir wieder ein, er hatte uns wirklich von irgendeinem durchgeknallten Forscher erzählt. Als mir dies wieder einfiel, fing ich an zu grinsen, doch Ethan warf mir einen warnenden Blick zu und ich hörte sofort damit auf. «Freut mich sie kennenzulernen», sagte ich stattdessen höflich und lächelte den Forscher fröhlich an. Dieser nickte mir kurz zu, blickte dann aber wieder zu Ethan. «Und, habt ihr da unten etwas Spannendes gefunden?», fragte er ein wenig zu aufdringlich für meinen Geschmack. «Ja, sie müssen unbedingt runtergehen und sich umsehen», antwortet Ethan euphorisch und bei seiner Antwort wäre mir fast ein lautes, hysterisches Lachen herausgerutscht.
Nachdem der Forscher voller Vorfreude die Leiter hinuntergeklettert und ausser Hörweite war, blickte ich fragend zu Ethan. Der lächelte nur und zuckte mit der Schulter. «Der wird jetzt sicher einige Zeit da unten bleiben, um unsere tolle Entdeckung auch zu sehen», gab er glucksend von sich und lief los.
Als wir etwa 20 Minuten später bei unserem Zelt ankamen, luden wir unsere Sachen ab und zogen uns unsere Badesachen an. Danach rannten wir mit Handtüchern zur Bucht runter, warfen die Tücher achtlos in den Sand und spurteten in die Fluten. Das kühle Wasser des Meeres war eine willkommene Abwechslung zu der Hitze, die den ganzen Tag geherrscht hatte, und ich liess mich quietschend in die Wellen fallen. Blake, der mich dabei beobachtet hatte, lachte schallend und liess sich ebenfalls ins Wasser gleiten. Wir blieben etwa eine Stunde im Wasser und lieferten uns eine verbitterte Wasserschlacht, bis wir und am Schluss die Bäuche halten mussten, weil wir so sehr lachten. Am Abend fielen wir nach dem Abendbrot schliesslich alle todmüde in unsere Matratze und schliefen sofort ein.
Am nächsten Morgen war die Stimmung jedoch nicht mehr so gut wie am Vorabend. Es herrschte bedrücktes Schweigen, da wir alle deprimiert waren, dass wir gestern nichts gefunden hatten. Wir beschlossen, dass wir heute einfach noch ein wenig die Insel erkunden wollten, was wir schliesslich dann auch taten, doch bis zu dem, was wir schon wussten, erfuhren wir überhaupt nichts Neues. So lief das einige Tage weiter. Das Einzige, das wir taten, war uns die Insel ein wenig anzusehen, doch unserem Ziel kamen wir keinen einzigen Schritt näher.
Doch dann, eines Abends, fanden wir plötzlich etwas heraus, das alles verändern könnte. Wir sassen gerade wieder einmal beim Abendessen und studierten die Karte der Insel. Wir waren dabei, uns nochmal genau anzusehen, wo die Unfallorte waren, als mir etwas auffiel. «Jungs, schaut mal, die drei Unfallorte sind alle genau 100 Meter von dem jeweiligen Grabstein entfernt», stiess ich hervor.
Ich hatte die letzten Minuten gerade sorgfältig alle Abstände von den Unfallorten zur Grabstätte abgemessen. Als die ersten beiden Unfallorte miteinander übereinstimmten, war ich schon ganz hibbelig geworden. Nachdem dann auch noch der dritte Ort übereingestimmt hatte, hätte ich vor lauter Freude am liebsten geschrien. Den Jungs fiel vor Verwunderung die Kinnlade hinunter und sahen mich beide mit grossen Augen an. Nachdem Ethan und Blake meine Messungen noch mal genauestens nachgemessen hatten und sie auf dieselben Ergebnisse kamen wie ich, starrte Blake mich wieder an. «Du bist brillant», flüsterte er so leise, dass nur ich es hören konnte und ich lächelte ihn scheu an. «Wartet mal», kam es da plötzlich von Ethan und ich zuckte erschrocken zusammen. «Der erste Unfallort ist genau 101 Meter vom zweiten entfernt. Der dritte ist ebenfalls genau 101 Meter vom zweiten entfernt. Das bedeutet, wir können den vierten Ort auch noch herausfinden, dort wird dann bestimmt der Schatz vergraben sein», schloss er mit glitzernden Augen ab und nun war ich es, die ihn mit grossen Augen anstarrte. Vor lauter Aufregung fing ich an zu schwitzen und quiekte laut, weil ich mich freute, dass wir endlich eine Spur verfolgen konnten. Wie zuverlässig diese Spur sein würde, würden mir dann später schon noch herausfinden.
Als Blake und ich dies auch noch mal gründlich überprüft hatten, massen wir anhand der anderen Angaben den vierten Ort ab und setzten dort ein Kreuz. Wir beschlossen, dass wir morgen sofort dorthin gehen würden und den Platz gründlich untersuchen würden, bis mich ein Gedanke plötzlich innehalten liess. «Wartet mal, die anderen drei Orte, die wir kennen, sind alles Unfallort. An all diesen Orten ist mindestens eine Person gestorben. Damit die Insel ihr Geheimnis offenbart, muss noch genau eine einzige Person sterben. Was ist, wenn das dort geschehen wird? Wir würden dann total in der Falle sitzen», teilte ich den Jungs meine Gedanken mit. «Ach, an diesem Fluch ist doch sowieso nichts dran. Uns wird schon nichts geschehen und dir auch nicht, dafür werden wir schon sorgen», winkte Ethan ruhig ab. Blake nickte, als würde er seinem Bruder zustimmen wollen. Nach einigen Minuten weiterer Diskussionen, hatte ich mich überreden lassen, schlief aber trotzdem mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ein.
Am nächsten Morgen standen wir früh auf und setzten uns zusammen auf die Decke für das Frühstück. Ich war in der Nacht immer und immer wieder aufgewacht und hatte mich hin und her gedreht, weil mir die Sache mit diesem Fluch einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Das mulmige Gefühl war immer noch nicht verschwunden und ich bekam daher keinen Bissen hinunter. Die Jungs jedoch waren beide bester Laune und schaufelten das Essen nur so in sich hinein. Nachdem Blake und Ethan alles verputzt hatten, stand ich auf und ging zu einem Baum in der Nähe. Seufzend lehnte ich mich dagegen und schloss die Augen. Vor meinem inneren Auge liefen gerade die schlimmsten Szenarien ab, die man sich nur vorstellen konnte.
Ich ging zögerlich durch die Höhle und zog meine Nase kraus. Hier unten stank es fürchterlich und ich wollte gar nicht wissen, woher dieser schreckliche Gestank kam. Von einem Moment auf den anderen fing alles an zu wackeln und ein tiefes Grollen ging durch die Höhle. Kleine Steine fielen von der Decke und landeten auf meinem Kopf. Urplötzlich löste sich ein riesiger Stein direkt vor mir und ich sprang erschrocken zurück. Der riesige Brocken krachte zu Boden und der Aufschlag hallte in der Höhle. Erschrocken hielt ich mir die Hände auf meine Ohren und stiess einen kleinen Schrei aus. Plötzlich löste sich erneut ein riesiger Stein über mir. Ich wollte noch zur Seite springen, doch es war zu spät. Der Stein krachte mit seinem enormen Gewicht auf mich hinunter. Ein markerschütternder Schrei entwich meiner Kehle und ich ging zu Boden.
«Alles okay mit dir, Aria?», fragte Blake und riss mich damit aus meinem Tagtraum. Ich schnappte keuchend nach Luft und begann, am ganzen Körper zu zittern. Dieser Tagtraum hatte sich so real angefühlt. Ich nahm den Geruch der Höhle immer noch war und ich spürte noch immer die Berührung der kleinen Steine, die von der Decke auf mich hinuntergefallen waren. Zaghaft legte Blake einen Arm um mich, um mich zu stützen und sah mich besorgt an. Langsam liess ich meinen Blick über unsere Umgebung wandern. Ich stand immer noch auf dem kleinen Platz, auf dem unser Zelt stand und auch die Bäume standen alle noch an ihrem gewohnten Platz. Ich konnte Ethan nirgends entdecken und vermutete daher, dass er zum Fluss gegangen war, um das Geschirr zu spülen. Nun richtete ich meinen Blick wieder auf Blake, der mich immer noch festhielt und anscheinend auch nicht vorhatte, mich wieder freizugeben. Wir standen einfach da und starrten uns an. Während ich Blake immer noch anstarrte, wanderte sein Blick Stück für Stück tiefer, bis er schliesslich an meinen Lippen hängen blieb. Nach einigen Sekunden löste sich sein Blick wieder von meinen Lippen und er blickte mir wieder in meine Augen. Obwohl ich mich eigentlich von ihm lösen wollte, schaffte ich es nicht und starrte genauso gebannt zurück. Leicht drehte mich Blake zu sich, so dass wir uns nun unsere Oberkörper zugewandt hatten. Langsam zog mich Blake immer näher zu sich heran, bis ich mit meinem Kinn seine Brust berührte. Sanft berührten seine Finger mein Kinn und drückten es leicht nach oben, bis ich ihm wieder in die Augen schauen konnte. Seine Lippen kamen meinen immer näher und mein Herz begann wie wild zu klopfen. Da ich meine Hand mittlerweile zaghaft auf seine Brust gelegt hatte, bemerkte ich auch seinen Herzschlag, der sich kaum merklich beschleunigt hatte. Blake zog zischend die Luft ein, entfernte sich aber keinen Millimeter von mir. Unsere Körper standen nun so dicht beieinander, dass kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte. Schliesslich legte Blake seine Lippen vorsichtig auf meine und zog mich noch ein Stücken näher zu sich heran. Unsere Lippen verschlossen sich nun zu einem scheuen Kuss und ein wohliger Schauer lief über meinen Rücken. Meine Knie drohten nachzugeben und hätte Blake mich nicht festgehalten, wäre ich wohl zu Boden gefallen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir uns wieder voneinander und ich sah nun ein klein wenig schüchtern zu Boden. Ich vernahm plötzlich Schritte hinter mir und drehte mich immer noch ein wenig wacklig auf den Beinen um. Ich blickte geradewegs zu Ethan, der mit dem Geschirr in den Händen und mit einem kleinen Lächeln im Gesicht nähertrat. «Wollen wir los?», fragte er, ging jedoch ohne Bestätigung meinerseits oder von Blake auf das Zelt zu und verschwand darin. «Er hat wohl nichts von… uns mitbekommen», bemerkte Blake zögerlich und sah mich an. «Wie meinst du das?», fragte ich ihn verwirrt. «Wieso weisst du, dass er uns nicht gesehen hat?», schob ich scheu hinterher und sah ihn abwartend an. «Weil er sonst komplett durchgedreht wäre», antwortete er trocken auf meine Frage. «Weshalb?», fragte ich nun noch verwirrter. «Das weisst du nicht?», fragte Blake verwundert und musterte mich mit hochgezogenen Brauen. «Er steht auf dich», bemerkte Blake schliesslich gleichgültig und zuckte mit seiner Schulter, als ihm bewusst geworden war, dass ich wirklich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Als mir aufging, was er gerade gesagt hatte, sah ich ihn schockiert an, doch er nickte nur und lächelte schief.
Genau in dem Moment, indem ich ihn nochmals danach fragen wollte, trat Ethan mit seinem Rucksack bewaffnet aus dem Zelt und kam auf uns zu und so hielt ich den Mund. Er ging voraus und ich beobachtete ihn unauffällig. Konnte das, was Blake gesagt hatte, wirklich wahr sein? Ich liess in meinem Kopf nochmal alle Momente die wir zusammen erlebt hatten, Revue passieren und stutzte. Ja, es konnte wirklich stimmen, schoss es mir durch den Kopf. Schon mehr als einmal hatte Ethan Blake und mich unterbrochen, als wir uns fast geküsst hätten und hatte seinem Bruder dann böse Blicke zugeworfen. Äusserlich liess ich mir von meinen Gedanken nichts anmerken und setzte ein strahlendes Lächeln auf, als Ethan sich zu mir umdrehte, um auf mich zu warten. Während unserem Fussmarsch plauderten wir ein wenig über Gott und die Welt. Für eine Zeit lang fühlte ich mich unbeschwert, doch dann kehrten meine Gedanken wieder zurück zu meinem Tagtraum. Ich konnte immer noch nicht recht glauben, dass ich das wirklich nur geträumt hatte. Es hatte sich so real angefühlt, schrecklich, aber real. Ich konnte nur hoffen, dass bei unserer Erkundung des Tunnels alles gut laufen würde. Sicher war ich mir nicht, dass wir wirklich erneut auf einen Tunnel stossen würden, doch es wäre nur logisch gewesen.
Wir liefen wieder den Fluss entlang und bogen danach nach links ab, um anschliessend dem schmalen Pfad zu folgen. Nun standen wir wieder auf dem Friedhof und erneut wurde mir schlagartig kälter. Schnell überquerten wir den Platz und machten einen Bogen um die Grabsteine. Nachdem wir hinter dem Friedhof erneut auf einen Weg gelangt waren, folgten wir diesem und gerieten immer tiefer in ein kleines Wäldchen hinein. Nach etwa zehn Minuten Fussmarsch lichtete sich dieses plötzlich und wir standen schon zum dritten Mal in dieser Woche auf einer kleinen Lichtung. Sie war wie die erste lichtdurchflutet. Als wir näher traten, entdeckte ich ihn. Etwa in der Mitte der Lichtung war ein Schachtdeckel im Boden zu erkennen. Meine Schritte sowie mein Puls beschleunigten sich. Mit wenigen Schritten war ich beim Deckel angelangt und hob ihn an. Bevor ich die mir wohlbekannte Leiter hinunterstieg, fiel mir plötzlich etwas ein. «Jungs, was machen wir eigentlich, wenn wir den Schatz finden?», fragte ich und drehte mich zu den beiden um. Blake öffnete schon seinen Mund, um mir zu antworten, doch Ethan war schneller: «Wollen wir nicht erst den Schatz finden und dann alles besprechen Meerprinzessin? Wenn wir uns jetzt Gedanken machen und ihn am Ende dann doch nicht finden, haben wir nur unsere Zeit verschwendet» Da mir keine Antwort darauf einfiel, zuckte ich mit meinen Schultern, bückte mich und setzte meine Füsse auf die erste Sprosse. Langsam kletterte ich in die Tiefe hinunter. Da ich nun nichts mehr sehen konnte, verliess ich mich auf meinen Tastsinn und kletterte vorsichtig Sprosse für Sprosse hinunter. Unten angekommen trat ich zur Seite, um den Jungs Platz zu machen. Sobald auch diese unten waren, lief ich los und bahnte mir einen Weg durch den dunklen Gang, der vor mir lag. «Was wir wohl finden würden?», fragte ich mich. «Ob wir wohl alle heil rauskommen würden?» Ich musste zugeben, dass ich wirklich Angst hatte. Angst, dass den Jungs oder mir etwas passieren könnte. In der letzten Woche hatte ich die beiden lieb gewonnen und wollte nicht, dass einem von beiden etwas geschehen würde. Vor allem auch, weil ich nicht wusste, wie es mit Blake nun weitergehen würde, es aber unbedingt erfahren wollte.
Wir kamen eher langsam voran, da wir häufig über am Boden liegende Steine und sonstige Sachen steigen mussten. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde der schmale Gang immer breiter und lichtete sich. Anschliessend standen wir wieder auf einem kleinen Platz, der aufs Neue von den Steinstatuen umgeben war. Ich sah mich um und hielt die Luft an, da ich Angst hatte, erneut blutbefleckte Statuen zu sehen. Als ich dann aber nach kurzer Zeit alle Statuen unter die Lupe genommen hatte und ich nirgends Blut entdeckt hatte, atmete ich erleichtert auf. Schlagartig fiel mir ein, dass dies ja eigentlich sowieso nicht sein konnte, da hier laut der Karte niemand gestorben war. Die Jungs inspizierten den Platz ebenfalls und drehten jeden Stein um. Ich ging nun von Wand zu Wand und tastete sie vorsichtig ab, um zu schauen, ob möglicherweise irgendetwas eingemeisselt worden war. Das Einzige, was ich jedoch finden konnte, waren Risse im Gestein der Wände und einige Steine die herausragten. Mir schien dies seltsam, darum tastete ich auch jeden der hervorstehenden Steine ab, wurde jedoch nicht fündig. Wie sich etwas später herausstellte, hatte auch keiner der Jungs Glück gehabt und so entschlossen wir uns, noch einmal gemeinsam den gesamten Platz abzusuchen.
Nachdem wir innerhalb von circa 20 Minuten nochmals alles auf den Kopf gestellt hatten, liess ich enttäuscht meine Schultern hängen. Nichts, wir hatten überhaupt nichts entdeckt. Den Jungs war die Enttäuschung nun ebenfalls anzumerken, denn ihre Mundwinkel rutschten immer tiefer und ihre Schritte wurden immer schwerer. «Was nun?», fragte ich mit leiser Stimme und rang meine Hände. Dieses Mal war ich wirklich der festen Überzeugung gewesen, dass wir den Schatz oder etwas, das uns zu ihm führen würde, entdecken würden. Da die Jungs auf meine Frage beide mit Schulterzucken reagiert hatten, beschloss ich, dass es das Sinnvollste wäre, wenn wir die Höhle verliessen. Mit schlurfenden Schritten schleppte ich mich zum Gang und die Jungs folgten mir widerstandslos. Meine Laune sank immer tiefer und ich wurde immer ratloser. Ich fragte mich, wie wir den Schatz nun finden wollten, denn wir hatten überhaupt keine Anhaltspunkte oder Hinweise mehr. Ich fragte mich, weshalb ich überhaupt auf die Insel gekommen war. Ich hatte damit nur meine Eltern und Geschwister verletzt, weil ich so Hals über Kopf aufgebrochen war. Langsam verlor ich wirklich die Hoffnung, dass wir noch irgendetwas finden konnten. Ich wollte mich zu einem kleinen Lächeln zwingen, was mir jedoch gründlich misslang. Meine Mundwinkel wollten sich einfach keine Millimeter in die Höhe bewegen. Es herrschte betretenes Schweigen und keiner wagte es, irgendetwas zu sagen. Wir hatten schon mehr als die Hälfte des Rückwegs zurückgelegt, da ertönte plötzlich ein lautes Grollen und ich zuckte zusammen. Urplötzlich fing der Boden an zu zittern und ich hielt mich erschrocken an den Gangwänden fest. Es fielen viele kleine Steine von der Decke auf mich herunter und ich schrie entsetz auf. Immer mehr Steine rieselten herunter und sie wurden immer grösser. Mit Schrecken erinnerte ich mich an meinen Tagtraum von heute Morgen, in dem genau dasselbe geschehen war, nur dass das hier leider kein Traum war. Ich erwachte aus meiner Starre und fing an zu rennen. So schnell ich konnte, rannte ich den Gang entlang und sah mich kein einziges Mal zu den Jungs um, hörte jedoch lautes Getrampel hinter mir. Umso mehr grosse Steine sich von der Decke lösten und auf den Boden prasselten, desto schneller rannte ich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich endlich bei der Leiter an und klettert sie in rasender Geschwindigkeit hoch. Ich hatte es gerade rechtzeitig geschafft, denn als ich mit beiden Beinen wieder auf sicherem Gras stand, ging ein erneutes ohrenbetäubendes Rumpeln durch die Höhle. Sie wird einstürzen, schoss es mir durch den Kopf. In diesem Moment tauchte Blakes hochroter Kopf aus der Tiefe auf und er kletterte die letzten Meter aus dem Gang. Schliesslich ging noch ein letztes Mal ein lautes Getöse durch die Höhle und dann war alles still. Kein Mucks war mehr zu hören, als wäre all dies gar nie passiert. Ich blickte wie erstarrt auf das grosse Loch, das im Boden klaffte und in den Geheimgang führte. Wo um Himmels willen war Ethan abgeblieben?
Ich sah mit zittrigen Händen in Blakes Richtung. «Wo…Wo ist Ethan?», fragte ich ihn und blickte mit grossen Augen zu ihm auf. Blake, der aus einer Erstarrung zu erwachen schien, blickte mich nun ebenfalls erschrocken an. «Ich weiss es nicht», flüstert er mit brüchiger Stimme und drehte sich langsam um. Mit vorsichtigen Schritten ging er auf die Leiter im Boden zu und wollte erneut in die dunkle Tiefe hinuntersteigen. «Ich komme mit!», herrschte ich ihn mit einem Ton an, der keine Widerrede dulden liess. Mit meinen schweissnassen Händen klammerte ich mich am Holz fest und kletterte schon zum zweiten Mal an diesem Tag in die Tiefe hinunter. Blake, der auf mich gewartet zu haben schien, drehte sich nun in Richtung des Ganges und er lief hinein. Nach einigen Schritten entwich Blakes Mund plötzlich ein schmerzerfüllter Laut und er fiel zu Boden auf seine Knie. Ich trat näher und ein Schluchzer verliess meine Kehle und ich ging ebenfalls zu Boden. Dort lag er, begraben unter einem riesigen Stein. Der Gesteinsbrocken hatte seinen Kopf und seinen Brustkorb begraben, seine Beine hatte er von sich gestreckt und sein Arm lugte in einem komischen, verdrehten Winkel unter dem Stein hervor.
Blake war in sich zusammengesunken und gab einige schluchzende Laute von sich. Mir liefen ebenfalls die Tränen über meine vor Anstrengung geröteten Wangen, doch ich zwang mich, näher an Ethans bewegungslosen Körper heranzurutschen. Auch wenn ich wusste, dass er tot war, legte ich, wie um es mir selbst zu beweisen, meinen Zeige- und meinen Mittelfinger auf sein Handgelenk. Nichts. Ich konnte keinen Puls mehr fühlen. Kraftlos brach ich zusammen und blieb auf dem Boden liegen.
Nach einiger Zeit robbte ich mich vorsichtig in Blakes Richtung und kuschelte mich an ihn. Langsam hob ich meine Arme und legte sie um seinen zitternden Köper. Eine Weile lagen wir einfach aneinander gekuschelt auf diesem eiskalten, müffelnden Höhlenboden, schwiegen und trauerten zusammen. Eine Ewigkeit später entzog sich Blake meinen Armen und stand leicht schwankend auf. Ich kämpfte mich ebenfalls auf die Füsse und half ihm, seinen Bruder unter dem Stein hervorzuholen.
Ein Schrei stieg in meiner Kehle auf, den ich mir gerade noch verkneifen konnte. Ethans Gesicht war völlig zerquetscht worden und man konnte nur noch erahnen, wie es einmal ausgesehen hatte. Alles war voller Blut und in meinem Bauch fing es unangenehm an zu rumoren. Augenblicklich schossen mir wieder die Tränen in die Augen. Wie konnte das nur geschehen? Wie konnten wir nicht bemerkt haben, dass Ethan zurückgeblieben war?
Ich wusste nicht mehr wirklich, wie genau wir Ethan die Leiter hochbekommen hatten und ihn auf das weiche Gras gelegt hatten, da ich kurz darauf erschöpft in Blakes Armen zusammengebrochen war, doch nun war es an uns, ihn zu beerdigen.
Corvin
Schweigend standen wir bei der Grabstätte und hoben ein Loch im Boden aus. Wir hatten vorhin peinlich genau abgemessen, dass das vierte Grab ebenfalls ein Meter vom dritten und vom vierten entfernt war. Wenn wir später den neuen Grabstein dazustellen würden, würden alle vier Grabsteine zusammen ein Quadrat ergeben. Wir waren nun schon etwa eine halbe Stunde damit beschäftigt, das Loch für Ethans Leichnam zu graben und ich fing langsam an zu schwitzen. Da wir wirklich nichts anderes finden konnten, hatten wir Ethans leblosen Körper in die weissen Laken einschlagen müssen, die die Jungs von zu Hause mitgebracht hatten. Bevor wir ihn jedoch zugedeckt hatten, hatte Blake ihn noch einmal kurz und sorgfältig gewaschen und vom Schmutz der Höhle und von seinem eigenen Blut befreit.
Ich hatte vorgeschlagen, dass wir abreisten und Ethan mit dem Boot der Jungs nach Hause bringen konnten, doch Blake war strikt dagegen. Als ich zögernd nachgefragt hatte, weshalb er dies nicht wollte, erklärte er mir alles, auch warum sie überhaupt auf der Insel waren. Ihre Eltern waren vor kurzer Zeit bei einem Unfall gestorben. Da die Jungs es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten hatten, hatten sie ihre ältere Schwester gebeten, dass sie sich eine Pause gönnen und ein wenig auf die Insel fahren durften. Nach langen, nervenaufreibenden Diskussionen hatte diese dann endlich zugestimmt und Ethan und Blake gehen lassen. Ihre Schwester fuhr sie dann zum Hafen, wo sie sich ihr altes Familien-Boot schnappten und auf die Insel rüberschipperten. «Das tut mir schrecklich Leid Blake, das wusste ich nicht», antwortet ich ihm, als er alles erzählt hatte und umarmte in kurzerhand. Es war wirklich schrecklich, erst starben Blakes Eltern und nun auch noch sein Zwillingsbruder.
Als wir mit der Tiefe des Loches endlich zufrieden waren, legten wir Ethan vorsichtig hinein. Uns war bewusst, dass wir gerade alles falsch machten, doch wir wussten, dass wir keine andere Möglichkeit hatten und Blake beteuerte traurig, dass sein Bruder es genau so gewollt hätte. Nach dem wir Ethan hineingelegt hatten, traten wir einige Meter von ihm weg, hielten uns an den Händen und schwiegen. Eine einzelne Träne rollte mir über meine Wange, zu mehr war ich im Moment nicht fähig, da ich die letzten Stunden schon reichlich Tränen vergossen hatte. Blake weinte ebenfalls nicht, wurde aber erneut von einem Zitteranfall erschüttert. Bevor wir das Grab wieder zuschütteten, stellten wir noch einen kleinen Grabstein hinter das Grab. Wir hatten, so gut es gegangen war, eine Innschrift in den Stein gemeisselt, die nun in die Mitte der Grabstätte zeigte und das Muster vollendete. «Ethan Crawley, 2001 – 2020», stand dort in meiner zittrigen Handschrift. Blake hatte die Innschrift mir überlassen, da er keine Nerven dafür aufbringen konnte.
Nachdem wir den Stein schliesslich richtig platziert hatten, schaufelten wir das Grab wieder zu. Da ich nicht hinsehen konnte, schaufelte ich die kühle Erde blindlings auf Ethans eingewickelten Körper. Blake hatte seinen Blick ebenfalls abgewandt und hatte dabei eine unergründliche Miene aufgelegte. Mit dem Zuschaufeln des Loches kamen wir viel schneller voran als mit dem Graben und waren nach einigen Minuten schliesslich fertig. Wir strichen gerade das letzte Mal die Erde glatt und wollten zurücktreten, um nochmals ein wenig zusammen zu trauern, doch kurz darauf setzte ein lautes Poltern ein.
Nein, nicht schon wieder, schrie es in meinem Inneren und ich klammerte mich verzweifelt an Blakes Arm fest. Seine Kiefermuskeln spannten sich merklich an, doch er entzog mir seinen Arm nicht und wir drehten uns zusammen in die Richtung, aus der der Lärm kam. Ich erstarrte vor Schreck und auch Blake riss erschrocken seine Augen auf. Wir blickten geradewegs zu den Statuen aus Stein, die rund um das Grabmal standen.
Überall fielen kleine Steine von den Statuen ab und fielen zu Boden. Ich klammerte mich noch mehr an Blake fest. Zusammen blickten wir wie gebannt auf die Statuen vor uns. Ein nächstes Rütteln ging durch den Boden und noch mehr Steine fielen von den Statuen ab. Ich bildete mir ein, unter den Steinen etwas Farbiges zu entdecken und blinzelte hektisch. Noch ein letztes Mal polterte es. Als die letzten Steine zu Boden fielen, schrie ich erschrocken auf. Neben mir zog Blake mit einem zischenden Geräusch den Atem ein und starrte dorthin, wo vorhin noch Statuen gestanden waren. Diese waren nun verschwunden und wurden durch etwas anderes ersetzt. Um mich herum nahm ich nun lauter Bewegungen wahr und zuckte erneut zusammen. Ich drehte mich einmal um mich selbst und meine Augen wurden immer grösser. Um uns herum standen nun keine Statuen mehr, sondern echte Menschen, die sich bewegten. Langsam drehte ich meinen Kopf in Blakes Richtung und wir starrten uns eine Weile einfach nur an. Nach einiger Zeit nahm ich wahr, dass es um uns herum immer lauter wurde, weil die Leute, die einmal Statuen gewesen waren, nun alle wild durcheinander sprachen und sich in einer mir fremden Sprache unterhielten.
Nach einer Weile wurde das Stimmengewirr immer leiser, bis es schlussendlich ganz verstummte. Ein kleinerer Mann auf einen Gehstock gestützt, kam nun langsam auf Blake und mich zu und blieb einige Schritte vor uns stehen. «Seid gegrüsst!», sagte der Mann mit einer angenehmen, warmen Stimme an uns gewandt. Dieses Mal verstand ich die Sprache, die er sprach glücklicherweise. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, setzte ich ein kleines Lächeln auf und blickte den Mann weiter an. «Wer und was seid ihr?», fragte da Blake an meiner Stelle und blickte den Mann misstrauisch an. «Keine Angst, wir tun euch schon nichts. Wir sind die Einwohner von Oak Island und wir sind normale Menschen», antwortete er Blake mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. «Und wieso wart ihr aus Stein und seid es jetzt nicht mehr?», fragte ich zögernd und gleich interessiert. Der Mann seufzte und deutete auf den Boden. «Kommt, lasst uns hinsetzen, das wäre ein wenig angenehmer für so einen alten Mann wie mich», sagte er mit einem kleinen Grinsen auf den Lippen und einem schalkhaften Glitzern in den Augen. Widerwillig setzten Blake und ich uns auf den Boden, liessen uns jedoch für keine einzige Sekunde los.
«Vor langer, langer Zeit, lebten wir Oakaner hier alle glücklich und zufrieden zusammen. Wir hatten alles, was wir brauchten und alles was wir wollten», begann er geheimnisvoll zu erzählen. « Unser Anführer wurde jedes Jahr neu gewählt, müsst ihr wissen, und es war wieder einmal Zeit dafür. Zur Wahl traten ein Mann namens Corvin, ich und noch einige weitere an. Schlussendlich traf die Wahl der Bewohner auf mich und somit war ich für dieses Jahr der Anführer. Corvin jedoch war damit ganz und gar nicht zufrieden. Er war schon mehrere Male angetreten, hatte jedoch immer verloren. Er wollte am liebsten die Macht über die Insel und über uns alle haben und wurde stinksauer. Man munkelte schon seit Jahren, dass Corvin ein Zauberer sei, was uns dann auch bewiesen wurde. Er verfluchte die Insel und somit auch uns. Er verwandelte alle Bewohner von Oak Island zu Stein und stellte uns dort auf, wo es ihm gerade passte. Er verbreitete rund um die Insel, dass es hier einen Schatz zu finden gäbe und wann immer jemand auftauchte, um diesen zu suchen, versteckte er sich. Ich habe ja gerade erwähnt, dass er auch die Insel verflucht hat.Er vollbrachte es irgendwie, dass der Zauber, der uns zu Stein verwandelt hatte, nur gebrochen werden konnte, wenn sieben Leute auf dieser Insel sterben würden. Diese sieben jedoch, mussten solche sein, die auf der Suche nach dem Schatz waren. Auch zählte es nur, wenn die sieben alle durch Unfälle starben und nicht durch ihre eigene oder eine andere Hand. Die Verstorbenen mussten ebenfalls Nachfahren von Bewohnern der Insel sein. Da einige Leute unsere Insel verlassen hatten und eine Familie gründeten, war dies zum Glück möglich. Nicht viele hatten die Insel jedoch verlassen und Corvin wusste das, deshalb dachte er, dass der Fluch niemals gebrochen werden würde, doch das wurde er», endete der alte Mann mit seiner Erzählung und lächelte uns wieder freundlich an.
Diese ganze Geschichte, die wir gerade gehört hatten, verwirrte mich sehr, doch ich musste zugeben, dass ich dem alten Mann wirklich Glauben schenkte. Weshalb sollte er uns anlügen, fragte ich mich. «Wieso genau hat dieser Corvin das denn alles getan? Ich meine, er musste doch gewusst haben, dass wenn er dann irgendwann sterben würde, die Insel einfach komplett unbewohnt sein würde und sich niemand mehr darum scherte. Er ist doch tot, oder?», beendete ich meinen Fragesturm und blickte den Mann ängstlich an. «Ja, der muss zum Glück schon lange tot sein. Die Frage, warum er das alles gemacht hat, kann ich dir leider nicht genau beantworten, doch einer seiner Gründe war sicher, dass er der alleinige Herrscher der Insel sein wollte und wenn er dies nicht sein konnte, durfte es auch niemand anderes», antwortete dieser mit ernster Stimme.
«Einen Moment mal», kam es da plötzlich von Blake. «Wenn Ethan gestorben ist und ihr somit vom Fluch befreit seid, bedeutet das, dass er von jemandem von der Insel abstammt. Das wiederum muss bedeuten, dass ich das auch tue, sprich, ich hätte auch sterben können». Blake war, währenddem der alte Mann gesprochen hatte, immer leiser geworden und schliesslich komplett verstummt. Tröstend drückte ich Blakes Hand uns sah zu ihm empor. «Mach dir keine Vorwürfe, du kannst nichts dafür», flüsterte ich leise. Blake wollte schon etwas erwidern, doch der alte Mann kam ihm zuvor. «Hör auf deine Freundin Junge, du trägst keine Schuld. Der Einzige, den wir dafür verantwortlich machen dürfen, ist Corvin selbst», sagte er bestimmt und fixierte Blake mit seinen Augen. Blake brachte kein Wort mehr heraus, nickte jedoch traurig.
«So, und jetzt stell ich euch mal die anderen vor!», sagte der alte Mann nun fröhlich und rappelte sich auf.
Epilog
«Mama!», rief Olivia und zog an meinem Kleid. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht zeigte sie auf ihren Vater, der im Sand sass und gerade eine wunderschöne Sandburg zu Ende gebaut hatte. Lächelnd ging ich auf Blake zu und setzte mich zu ihm in den Sand. Unsere Tochter setzte sich auf meinen Schoss und lehnte sich glücklich an mich. Blake war völlig in seine Arbeit vertieft gewesen und war erschrocken zusammengezuckt, als ich mich gesetzt hatte. Lächelnd strich er sich mit einer Hand den Schweiss von der Stirn und blickte anschliessend liebevoll auf Olivia. Wir hatten beschlossen, ihr im Moment noch nicht zu erklären, wie ihre Eltern sich genau kennengelernt hatten, doch wir wollten es eines Tages bestimmt tun. Seitdem Caius, der damalige Anführer der Oakaner und seine Leute sich wieder zu Menschen verwandelt hatten, war einiges geschehen. Blake und ich hatten beschlossen, unser restliches Leben hier auf der Insel zu verbringen, da wir wussten, dass es uns hier an nichts fehlen würde. Um unsere Familien zu besuchen, hatten wir die Insel jedoch noch ein letztes Mal verlassen. Wir waren mit dem Boot zuerst zu meiner Familie geschippert und ich habe ihnen Blake vorgestellt. Sie waren immer noch total sauer, weil ich einfach abgehauen war, jedoch waren sie noch mehr besorgt und konnten mir schliesslich verzeihen. Danach ruderten wir zu Blakes Familie. Als wir Penelope und Ian, dann von Ethans Tod erzählt hatten, waren sie erschüttert gewesen.
Sie konnten einfach nicht glauben, dass schon wieder jemand von ihrer Familie gestorben sein könnte und brauchten eine lange Zeit, um alles zu verdauen. Vor allem Blakes grosse Schwester Penelope machte sich grosse Vorwürfe, weil sie die Jungs erst gehen liess. Wir blieben einige Tage bei den Crawleys und versuchten Ethans Tod selber ein wenig zu verarbeiten. Als Blake und ich Ian und Penelope schliesslich wieder verlassen wollten, beschlossen diese, dass sie ihre alte Heimat hinter sich lassen möchten und mit uns auf der Insel leben wollten. So legten wir kurzerhand all unsere Ersparnisse zusammen, kauften uns ein neues, grösseres Boot und schipperten zurück zur Insel. Einige Monate später kam dann auch noch meine Familie auf die Insel und kurz darauf heirateten Blake und ich. Wir feierten eine wundervolle Strandhochzeit, nach den Traditionen der Oakaner. Wir lebten schon einige Jahre auf der Insel, als Olivia schliesslich zur Welt kam und unsere kleine Familie komplett machte. Caius war mittlerweile gestorben und sein Sohn Kiano war zum Oberhaupt der Oakaner gewählt worden. Blake und ich tragen bis heute die Gewohnheit, jeden Tag zu der Grabstätte zu gehen und Ethan Blumen oder sonstige Sachen hinzulegen. Möge er in Frieden ruhen.