"Der Anfang vom Ende" – eine Geschichte von Andrea Zehntner - Young Circle

«Der Anfang vom Ende» – eine Geschichte von Andrea Zehntner

Member Stories 2022

«Der Anfang vom Ende» – eine Geschichte von Andrea Zehntner

Zögernd hob sie ihre rechte Hand und tippte ihren Namen in das Textfeld ein. Sofort sprang die Truhe auf, allerdings nur so weit, dass sie eine Hand hineinstecken konnte. Darin ertastete sie ein Stück… war das Papier? Jude packte es und zog es vorsichtig hinaus.

Jude setzte sich auf ihren Bürosessel. Damit wurde die kleine Kamera aktiv, die ihre Iris scannte. Sogleich flimmerte vor ihr der riesige Firmen-Touchscreen. Ihren schwarzen Kaffee stellte sie vorsichtig neben sich ab. Sie begann mithilfe von Handbewegungen, den Computer zu steuern und öffnete ihre To-Do-List. Sogleich stöhnte sie auf. Kitty, die es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, spitzte ihre flauschigen Katzenöhrchen und legte den Kopf schief. Was ist? Jude seufzte erneut und fluchte über ihren Empathielink Ich muss heute schon wieder Papierkörbe der Firma leeren! Kitty blickte sie mitfühlend an und streckte ihre dünnen Beinchen auf der Couch aus. Jude blickte sie halb verärgert und halb belustigt an. Du hast‘s gut, du musst nicht arbeiten. Ihr Amicum gähnte nur und Jude wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Dann öffnete sie die Karte, auf der die Papierkörbe verzeichnet waren. Sie klickte den ersten an und betrat den runden, fensterlosen Raum. Darin waren Dokumente aus der realen Welt. Dort hatte man noch mit einer Computertastatur geschrieben und Rechnungen auf Papier geschickt! Jude schüttelte den Kopf. Sie überflog alles kurz und löschte es mithilfe eines Nickens. Dann ging sie zum nächsten Papierkorb.

Als sie mit allen verzeichneten fertig war, wollte sie gerade in die Pause gehen, als ihr Blick auf einen Punkt auf ihrem Plan fiel. Es war ein Papierkorb, aber anders als die anderen war er mit einem Schloss versehen. Jude zoomte mit einer Fingerbewegung näher ran.

Der Papierkorb war nicht beschriftet. Neugierig klickte sie auf das Schloss und stand kurz darauf vor einer Panzertür. Auf ihr prangte ein Bildschirm, auf dem ein Eingabefeld zu sehen war. Jude lächelte. Das Schloss schien geradezu darauf zu warten, geöffnet zu werden…

Nach drei Minuten Decoding schwang die Tür auf. Neugierig trat Jude ein und sog die Luft ein. Dieser Papierkorb war nicht einfach ein fensterloser Raum. Er war riesig. Ein langer Gang erstreckte sich vor ihr. Jude lief los. Links und rechts von dem Gang gingen kleine Räume, ähnlich wie Zellen, ab. Als Jude in den ersten hineinsah, erlebte sie die nächste Überraschung. In der kleinen Zelle standen ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Auf diesem Stuhl sass ein Wesen. Sein Pelz war struppig. An seinen Fingern waren lange Krallen gewachsen. Jude brauchte einige Sekunden, ehe sie das Wesen erkannte. Im selben Moment fuhr das Amicum herum. Mit aufgerissenen Augen musterte es sie, ehe es zurückwich. Als Jude an die Gitterstäbe trat, floh es unter das Bett. Dort verschwand es. Jude wartete einen Moment, und als es sich nicht mehr blicken liess, ging sie weiter. Aber auch im nächsten und im übernächsten Raum waren ungepflegte Amicae, die sich offenbar vor ihr fürchteten. Jude steigerte nun ihr Tempo, bis sie zur letzten Zelle kam. Das Amicum darin hatte ein türkises Fell. Es war von grauen Haaren durchzogen, war aber gepflegt. Jude blieb stehen. Der Blick des Amicums war entspannt, beinahe schläfrig. Nach einer Weile hörte Jude eine tiefe Stimme in ihrem Kopf. Hallo Jude. Erschrocken fuhr sie zurück und blickte das Amicum mit aufgerissenen Augen an. Wieso kennst du meinen Namen? Das Amicum zeigte ihr ein geheimnisvolles Lächeln. Ich weiss beinahe alles. Jude schüttelte verblüfft den Kopf. Woher? Das Amicum antwortete ihr nicht. Stattdessen sagte es. Ich heisse Lore. Komm rein. Es öffnete die Tür, als wäre sie nicht mit einem vierschichtigen Schloss gesichert. Jude schüttelte bloss den Kopf und setzte sich aufs Bett. Das Amicum – Lore – setzte sich auf den Tisch und faltete die Hände über dem Bauch. Dann sagte es. Ich habe dich erwartet. Es ist etwas Böses im Gange. All diese Amicae sind Fehlfunktionen. Bei manchen ist ihr Mensch gestorben. Sie wurden eingefangen und als gelöscht erklärt. Aber sie sind noch da. In dieser Zwischenstufe. Sie warten darauf, dass sie sterben. Sie werden sterben, gemeinsam mit der Welt.

Etwas irritiert blickte Jude das alte Amicum an. Wie bitte? Lore blinzelte nur und deutete zur Tür. Geh jetzt.

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Als Jude am nächsten Morgen das Firmengebäude betrat, war sie die erste. Kitty war heute zuhause geblieben. Es wollte einen super-mega Hausputz durchführen. Heute sortierte Jude die aufgekauften Firmen alphabetisch. Dabei sah sie der aufgehenden Sonne zu.

Als sie ihre Aufgaben erledigt hatte, wischten ihre Finger gedankenverloren übers Display. Jude schaute auf. Sie seufzte, lächelte dann aber, und betrat wieder den Amicae-Schrottplatz. Sie ging direkt zu der hintersten Zelle und klopfte gegen die Gitterstäbe. Lore? Sie wartete einen Moment. Als nichts geschah, klopfte sie nochmals. Lore! Hier ist Jude. Es passierte immer noch nichts. Sie wartete noch etwas, dann wollte sie die Türe entschlüsseln. Als sie dagegen stiess, schwang diese aber von allein auf. Merkwürdig. Jude trat ein und sah sich um. Es war alles genau wie gestern. Das Bett war frisch gemacht, der Tisch war sauber und die kleine Kiste… eine kleine Kiste? Diese hatte sie gestern nicht gesehen. Jude lief mit zwei grossen Schritten zum Bett und zog das Kistchen darunter hervor. Es war aus Holz. Als sie den Deckel berührte, erschien ein Textfeld vor ihr. Eine weibliche, sanfte Stimme sagte: „Schreibe deinen Namen, und die Truhe wird sich öffnen.“ Erstaunt musterte Jude die Truhe. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden sprechen gehört hatte. Zögernd hob sie ihre rechte Hand und tippte ihren Namen in das Textfeld ein. Sofort sprang die Truhe auf, allerdings nur so weit, dass sie eine Hand hineinstecken konnte. Darin ertastete sie ein Stück… war das Papier? Jude packte es und zog es vorsichtig hinaus. Tatsächlich, es war ein zusammengefalteter Zettel. Mit spitzen Fingern faltete sie ihn auseinander. Darauf stand in sauberer Handschrift geschrieben

Alissia Stones

Epilog

Jude stand vor dem Touchscreen und starrte auf den kleinen, türkisen Knopf. Ihre Hand zitterte, als sie tief Luft holte und ihn drückte. Ein blaues Portal erschien. Jude blickte ein letztes Mal zu Kitty, dann wurde sie vom Portal verschlungen. Ein neues Abenteuer begann. Und die Welt, die sie kannte, verschwand.

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