"Der Abschied" – eine Geschichte von Vivienne Häberli - Young Circle

«Der Abschied» – eine Geschichte von Vivienne Häberli

Member Stories 2022

«Der Abschied» – eine Geschichte von Vivienne Häberli

Für einen Moment bleibt meine Welt stehen. So viele Nachrichten habe ich noch nie gesehen. Zuerst sind es nur ein paar beunruhigende Worte, dann richtet es sich in pure Verzweiflung und dann lese ich die Worte: Ich bin so enttäuscht von dir»

Es gibt keinen schlechteren Ort sich allein zu fühlen als in einer Menschenmenge. Und doch ist dieses Gefühl zu mir zurückgekehrt. Meine Gedanken sind von einem Moment auf den anderen verstummt. Mein Blick ist leer nach vorne gerichtet, mit langsamen Schritten bewege ich mich durch die Menschen hindurch. Ich nutze jede Lücke, um mich durchzuquetschen. Immer wieder fällt mein Blick auf die unschuldigen Passanten, die sich unterhalten und lachen und ihre Zeit geniessen. Je mehr ich diesen Menschen zusehe, desto schneller kommt das Gefühl der Einsamkeit. Mittlerweile habe ich das Gefühl, völlig allein auf dem grossen Platz zu stehen. Ich remple die Leute um mich herum an, dennoch fühle ich sie nicht. Immer wieder sehe ich den fremden Leuten in die Augen, dennoch verschwindet diese Einsamkeit nicht. Ich bleibe abrupt stehen. Meine Hände ruhen in den Taschen meiner schwarzen Jacke, die Kapuze ist tief in mein Gesicht gezogen. Dann sehe ich die Männer, die ich um jeden Preis vermeiden wollte. Mindestens ein halbes Dutzenden Polizisten schwärmen in der Menge aus, beginnen verdächtig aussehende Leute zu kontrollieren und sagen den zahlreichen Menschen, dass sie bitte gehen sollen. Doch ich bleibe immer noch stehen. Ruhig, fast schon zu ruhig, taste ich in der Jackentasche nach meinem Handy. Mein Fingerabdruck lässt es entsperren und schon befinde ich mich auf der Seite mit meinen Nachrichten. Dutzende von Nachrichten sind in der Letzen Stunde hineingekommen. Freunde und Familie haben mir geschrieben. Ich tippe mit meinen schmutzigen Fingern auf ein paar und versuche denn plötzlich aufkommendem Schmerz in meiner linken Seite zu ignorieren. Die Schusswunde dort hätte ich beinahe vergessen. Ich spüre, dass wieder Blut hinausfliesst, während ich die Nachrichten überfliegen. Der letzte Chat, denn ich öffne, ist der meiner Mutter. Für einen Moment bleibt meine Welt stehen. So viele Nachrichten habe ich noch nie gesehen. Zuerst sind es nur ein paar beunruhigende Worte, dann richtet es sich in pure Verzweiflung und dann lese ich die Worte:

«Ich bin so enttäuscht von dir»

Ich schlucke schwer. Langsam beginne ich zu tippen.

«Es tut mir leid»

Als ich sehe, dass die Nachricht angekommen ist, lasse ich mein Handy fallen. Den Aufprall höre ich kaum, auch die ganzen Stimmen um mich herum nehme ich kaum noch wahr. Ich ziehe meine zweite Hand aus der Jackentasche und umfasse fest den ovalen Gegenstand. Als ich aufsehe streife ich den Blick eines Polizisten. Er scheint noch jung zu sein, höchstens 24. Doch sein Blick spricht tausend Worte. Seine Augen blicken gross zu mir rüber, eine Hand hat er bereits an seine Dienstwaffe gelegt. Er schreit etwas, doch ich höre ihn nicht mehr. Bei dem schockierten Anblick wird mein Blick ebenfalls ein wenig weicher. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich ziehe den Bügel aus dem Zünder der Handgranate und lasse sie fallen.

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