Es ist der Wunsch vieler Menschen, mit Tieren sprechen zu können und sie zu verstehen. Richtig gelungen ist es niemandem, aber es gab eine Zeit in der, verteilt auf dem ganzen Kontinent, Menschen lebten, die diese Gabe besassen. Eine von ihnen war Yuma.
,,Yuma! Yuma, wach auf.“ Verschlafen rieb sich Yuma die Augen und blinzelte ins Sonnenlicht. Neben ihrer Hängematte stand ihr jüngerer Brüder Kari und rüttelte an ihrem Arm. Gleich wollte er wieder anfangen zu schreien, doch Yuma legte ihm ihre Hand auf den Mund. „Wieso bist du so aufgeregt, Kari?“, fragte sie. „Ist etwas mit Papa?“ Yuma’s und Kari’s Vater war der Häuptling des Stammes der Mohas, die tief im Amazonasregenwald von Brasilien lebten. In letzter Zeit ging es ihm nicht gut, aber niemand wusste, was er genau hatte.
„Nein, Papa geht es sogar etwas besser. Aber heute kommen doch wieder die Trehas, um uns zu besuchen! Du willst doch sicher wieder deinen wunderbaren Endo sehen.“
Endo war der Neffe vom Trehahäuptling, und Yuma hatte ein Auge auf ihn geworfen, er war hübsch und gescheit und hatte einen starken Charakter. Kari machte sich einen Spass daraus, sie damit aufzuziehen.
Yuma schrak aus ihrer Hängematte hoch, und rannte sogleich auf den Versammlungsplatz, wo sich gerade alle einfanden. In der Mitte des Platzes lag ein riesen Berg an Früchten und daneben brutzelten Fische auf dem Feuer. Yuma entdeckte Endo, er sass, wie immer ein bisschen schüchtern, auf der linken Seite vom Trehahäuptling, der, als alle versammelt waren, sogleich das Wort ergriff. „Beno“, rief er in die Richtung von Yuma’s Vater. „Wann kann mein Sohn Mino deine Tochter endlich zur Frau nehmen?“ Dieser verdrehte die Augen. „Jedes Mal, wenn wir uns treffen, kommst du wieder mit derselben Geschichte, obwohl du weisst, dass das Ganze nicht möglich ist. Mino kann Yuma nicht heiraten, solange ich noch lebe. Erst wenn meine letzte Stunde geschlagen hat, kann er sie zur Frau nehmen und wird der neue Häuptling der Mohas!“
Yuma unterdrückte einen Würgereiz. Der Gedanke, dass ihr Vater bald sterben könnte, war unerträglich. Ausserdem war Mino weder hübsch, noch sympathisch, er prahlte immer nur herum. Nein, das durfte nicht passieren! Sie war dankbar, als ihr Vater fortfuhr. „Lasst uns nun anfangen zu schlemmen und lasst uns unsere Stammesfreundschaft feiern. Auf dass sie nie versiegt!“
In den nächsten Monaten wurde Yuma’s Vater immer schwächer und Beno versuchte, Yuma immer näher zu Mino zu bringen. Endo war ihr überhaupt keine Hilfe, er stand bei den Besuchen meistens abseits und schaute traurig vor sich hin. Anfang Juli kam dann der Tag, der alles verändern würde. Yuma’s und Kari’s Vater starb. Die ganze Nacht hatte er gehustet und am frühen Morgen stand sein Herz plötzlich still. Yuma wollte standhaft sein und weinte nicht, trauerte nur still vor sich hin. Dafür schrie Kari wie am Spiess und ihre Mutter musste alle Kraft aufwenden um ihn zu beruhigen.
In der nächsten Nacht konnte Yuma nicht schlafen. Sie hatte ein Gedanke und der liess sie nicht los. Warum wollte Beno, dass ausgerechnet sie Minos Frau sein sollte? Obwohl sie violette Augen hatte, war sie nicht die hübscheste und auch nicht die gescheiteste. Plötzlich wusste sie es. Beno wollte ihre Gabe missbrauchen. Er wollte mithilfe von Yuma das Tierreich beherrschen, es ausnutzen. Das durfte nicht geschehen, niemals. Yuma war immer nur nett zu den Tieren gewesen. Sie wollte ihre Gefühle verstehen, vielleicht sogar sich mit ihnen zusammenschliessen, gegen das Böse kämpfen, und zwar auf friedliche und „menschliche“ Art und Weise. Beno konnte das nicht verstehen, er hatte ihre Gabe nicht. Sie musste sich retten, sie musste ihren Stamm retten, sie musste die Tiere retten!
Feuer! Überall Feuer! Yuma riss die Augen auf, diese begannen sofort an zu tränen. Das ganze Mohadorf stand in Flammen, alle Mohas lagen in der Mitte des Platzes oder wurden von den Trehas dorthin gezerrt. Niemand wehrte sich, alle waren geschockt und total überrascht, auch Yuma. Sie sagte mit zitternder Stimme zu ihrem Bruder: „Kari, alles ist noch schlimmer gekommen als ich gedacht habe.“ Dieser schaute sie verständnislos an und Yuma erklärte ihm alles. „Beno will nicht, dass ich Minos Frau werde. Er hat nur darauf gehofft, dass unser Vater stirbt. Nun kann Mino unseren Stamm übernehmen und Beno wird mich zwingen, meine Gabe für das Böse zu nutzen!“
„Bist du dir wirklich sicher?“, erwiderte Kari mit zittriger Stimme. „Ist er wirklich so grausam? Ich kann das nicht glauben!“ Yuma war verzweifelt. Sie war sich sicher gewesen, Kari würde ihr glauben. „Kari, wir müssen hier weg, sofort.“
Im nächsten Moment spürte sie einen Schlag auf den Hinterkopf, sie sackte zusammen.
„Yuma, wach auf. Ich bin’s, Endo.“ Yuma lag auf einem harten Steinboden und es war beinahe dunkel. Um sie herum nahm sie schwach die Gestalten von ihrem Bruder, ihrer Mutter, den anderen Mohas und ein paar Trehas wahr, alle sassen benommen da. Gleich neben ihr sass Endo und strich ihr durchs Haar. „Yuma, Beno hat alle Mohas eingesperrt. Dein Bruder hat mir alles erzählt, du hattest recht“, sagte er sanft. „Auch mich und ein paar andere hat er hier hineingebracht.“ „Wo sind wir?“, fragte Yuma verdutzt. „Das spielt keine Rolle, wir müssen uns so schnell wie möglicheinen Plan überlegen“, sagte er leise, denn draussen hörte man Schritte näherkommen.
Der Plan war recht simpel. Als Beno und seine Gefährten das Gefängnis betraten, rannten alle Gefangenen zugleich nachdraussen und verschwanden in alle Richtungen. Beno war so überrascht, dass er kein Zeichen gab, um sie zu verfolgen. Als alle Gefangenen wieder zusammen waren, lachten sie über Benos Dummheit. „Und so einer ist Häuptling meines Stamms“, kicherte Endo und küsste Yuma sanft die Stirn. Das Ganze fand ein Happy End. Die Mohas, Endo und die geflohenen Trehas bauten, weitentfernt vom ursprünglichen Gebiet, einen neuen Stamm auf. Endo wurde der neue Häuptling und Yuma seine glückliche Frau. Doch in den vielen Jahrhunderten nach Yumas langen Leben hatte niemand mehr die Gabe, mit Tieren zu sprechen und das ist vielleicht auch gut so.