"Das letzte Mal" – Eine Geschichte von Fabienne Bumann - Young Circle

«Das letzte Mal» – Eine Geschichte von Fabienne Bumann

Member Stories 2024

«Das letzte Mal» – Eine Geschichte von Fabienne Bumann

Als die Diagnose Krebs das Leben der Protagonistin auf den Kopf stellt, wird ihr klar, wie zerbrechlich die Zeit mit ihrer geliebten Grossmutter Frida ist. Zwischen Schmerz und Wut umschliesst sie die Erinnerungen an gemeinsame Momente, während sie sich der ungewissen Zukunft und der Realität des Lebens stellt.

Manchmal kommen die Dinge nicht so wie geplant. Und manchmal plant man etwas nicht so wie es kommt. Gerne hätte ich dies früher gewusst. Ich war wohl zu naiv, um zu glauben das alles gut wird. Ein unbeschwertes Leben habe ich geführt. Führe ich zum Teil immer noch. Doch die Illusion das alles in Ordnung ist, schwindet von Tag zu Tag. „Tschüss!“, sage ich mit einem Zittern in der Stimme. Schnell drehe ich mich weg, bevor es die Tränen schaffen meine Wangen wie Wasserfälle hinunterzuströmen. Ich muss hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Stark sein heisst es immer. Doch wie, wenn gerade die ganze Welt zusammen zu brechen droht?

Ich ertrage es nicht mehr. Die Angst, welche sich unkontrolliert in mir ausbreitet, bis mir das Atmen schwerfällt. Wann hört das alles auf? Eben war noch alles gut und dann plötzlich puff und das instabile Gerüst der Sicherheit bricht mit einem Knall in sich zusammen.

Meine Oma ist immer für mich da. Essen kochen, Spiele spielen, Spazieren gehen, Lachen bis der Bauch schmerzt, Reden und Trösten. Alles kann sie. Nicht nur eine Grossmutter ist sie für mich. Nein, viel mehr. Meine Beschützerin, mein Aufsteller an schlechten Tagen. Man könnte sagen, mein Leben. Sie ist mein Leben. Was, wenn dieser Teil wegfällt? Der Teil meines Lebens, der mir so viel Kraft schenkt, der Teil, welcher mich mit Liebe füllt.

Ein Schaudern durchfährt mich wie ein Blitzschlag. Ich biege um die nächste Strassenecke. Viel sehe ich jedoch nicht, da meine Augen voller Tränen überquellen. Wo soll ich nur hin? Der Ort, an dem ich mich am sichersten gefühlt habe, ist weg. Krebs. Eine Diagnose die wohl niemand hören will. Was will man tun? Ich will der Realität nicht in die Augen blicken. Ein Leben ohne sie ist einfach so unvorstellbar traurig.

Schnell renne ich zurück. Noch einmal möchte ich sie sehen, denn die Angst ist zu gross, dass es das letzte Mal sein wird. Von einem Moment auf den anderen kann sich alles ändern. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal Tschüss sage. Wann ich ihr die letzte Umarmung schenke. Wann ich das letzte Mal in ihre Augen, welche von Lachfältchen umgeben sind, blicke. Wann ist es vorbei? Wann ist das Leben vorbei? Natürlich kann es von einem Tag auf den anderen enden. Doch diesem Umstand habe ich noch nie Bedeutung geschenkt. Die Wahrscheinlichkeit war so klein. So unendlich klein. Plötzlich ist dieser Umstand jedoch so gross. Viel zu gross.

Fünf Jahre bei einem guten Verlauf haben sie gesagt. Fünf Jahre gehen jedoch so schnell vorbei. Ich möchte nicht, dass meine Kinder aufwachsen, ohne meine Oma gekannt zu haben. Leben soll sie. Noch lange.

Schnell renne ich zurück. Meine Schritte hallen auf dem Asphalt wider. Nur noch einmal muss ich sie umarmen, bevor ich gehe. Ein einziges Mal. Ich biege um die Ecke, laufe auf die Tür zu, so schnell es geht. Gerade als ich die Tür aufreissen will, wird diese von innen geöffnet. Ich schaue in das schmerzverzerrte Gesicht meiner Oma Frida. Dieses scheint genauso tränenüberströmt zu sein wie meines. Ein Schluchzer durchfährt mich und ich stürme in ihre Arme. Beschützend zieht sie mich in eine Umarmung. Langsam streichelt sie mir über den Rücken. „Alles wird gut mein Schatz“, versucht sie mich zu beruhigen. Doch ihre Worte machen mich nur noch trauriger. Ich sollte sie trösten und nicht umgekehrt. Schliesslich leidet sie unter der Krankheit. Chemotherapie nach Chemotherapie. Schmerzen, Arztbesuche, Medikamente, all das muss sie ertragen.

Und ich? Ich beklage mich über kleine Dinge. Dinge, die es nicht wert sind, so viel Aufmerksamkeit zu erhalten. Es gibt viel grössere Probleme als ein paar Kilos zu viel oder zu wenig auf den Hüften, das letzte Stück der Lieblingspizza nicht zu erhalten oder etwas zu Hause zu vergessen und noch einmal den ganzen Weg zurücklaufen zu müssen. Natürlich sind alle diese Dinge ärgerlich, doch beim näheren Hinsehen, sind diese wirklich so schlimm?

Ich bin so unglaublich wütend. Wütend auf die Welt, welche dies meiner Oma antut. Wieso genau sie? Frida ist ein herzensguter Mensch, welcher verdient noch lange zu leben. Bereits der Gedanke daran ein Leben, ohne sie führen zu müssen, lässt mich erschaudern. Doch ich muss der Wahrheit ins Gesicht blicken. Das Leben ist endlich. Irgendwann ist es vorbei. Und so hart es auch ist, man kann es nicht ändern. Der einzige Weg diesen Schmerz zu verkraften, ist wohl oder übel sich mit dieser Tatsache abzufinden.

Langsam löse ich mich aus der Umarmung meiner Grossmutter. Tief schaue ich in ihre wässrigen Augen: „Oma, ich liebe dich! Bitte vergiss das nie. Ich werde alle schönen Erinnerungen mit dir bis ans Ende meiner Tage in meinem Herzen tragen.“ Ein letztes Mal ziehe ich sie in eine Umarmung, atme ihren Duft nach Rosenparfüm ein und versuche diesen Moment, der mir so viel Kraft schenkt, mit jeder Faser aufzunehmen und abzuspeichern. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich Frida sehe. Vielleicht lebt sie aber auch länger als ich. Denn der Tod kann genau so unerwartet kommen wie das Leben. Und auch wenn es mir das Herz zerreisst, zu wissen, dass jeder Moment mit ihr der letzte sein könnte, weiss ich das sie immer bei mir sein wird. Auch wenn nur in Gedanken. In Gedanken ist sie es bestimmt. Immer.

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