"Das Kind des Mondes und der Nacht" – Eine Geschichte von Defne Melisa Akduman - Young Circle

«Das Kind des Mondes und der Nacht» – Eine Geschichte von Defne Melisa Akduman

Member Stories 2024

«Das Kind des Mondes und der Nacht» – Eine Geschichte von Defne Melisa Akduman

In einer dunklen und einsamen Nacht wird eine Frau von den Erinnerungen an den schrecklichen Abend vor acht Jahren heimgesucht, als sie ihren Vater in einem traumatischen Zustand fand und er versuchte, sich das Leben zu nehmen. Diese unvergesslichen Bilder von Verlust und Enttäuschung verfolgen sie, während sie sich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass ihr einstiger Held nie wieder der Mann sein wird, den sie gekannt hat.

Es war Nacht.

Es war dunkel und düster.

Ruhig und einsam.

Die Erinnerungen kamen wieder hoch. Diese Trauer, diese Wut. Dieses Trauma. Ich wollte mich nicht wieder an diesen schrecklichen Abend erinnern müssen. Ich konnte nicht. Es riss mich jedes Mal wieder einmal hinunter und verschlechterte meine Laune für mehrere Tage. Er hätte mich vor allem schlechten beschützen müssen. Warum tat er das?

Es waren Acht Jahre vergangen, trotzdem verfolgte es mich zu jeder düsteren und einsamen Stunde. Es waren alles verloren gegangene Gedanken. Vergessen gegangene Erinnerungen. Ich war noch ein Kind, als ich das Zimmer betrat und zu meinem eigenen Erzeuger blickte. Ihm in die Augen sah, welche geöffnet waren. Seine in Fäuste geballten Hände in die Hand nahm und nicht verstand was los war.

Mein Vater war ein kranker Mensch und musste deshalb täglich viele Medikamente einnehmen. Ich wusste es am besten, denn es waren immer ich und meine Schwestern, welche ihm diese für die Woche vorbereiten mussten.

Ich blickte zu ihm. Er sah traurig aus, aber er weinte nicht. Er sah… so gefühlslos aus. Ich streckte meinen Kopf unter seinen, damit ich sehen konnte, ob er wirklich nicht weinte. Da war nichts. Ich nahm seine Hand wieder in meine, welche immer noch geballt war, und versuchte diese zu öffnen. Mit meinen kleinen Händchen scheiterte ich schnell. Ich wusste auch, dass ich keine Chance haben könnte. Mein Vater war schon immer mein Held gewesen, weil er so stark und so mutig war. Trotzdem machte ich weiter, und weiter… und weiter. Bis… ich sie schliesslich endlich öffnen konnte. Ich sah in seine Hand. Mein Puls stieg, meine Augen fingen an zu Tränen und meine Gedanken wirrten nur herum. Ich war noch so klein, jedoch verstand ich schnell was los war.

Ich blickte weiter auf seine Hand, und dann in den danebenstehenden Mülleimer. Es bestätigte nur meine Theorien und Ängste. Ich hatte gerne recht. So war ich eben als Kind. Stur und hitzköpfig. Ich hatte es nicht gerne im Unrecht zu sein. Das war aber dieser Moment, in dem ich alles dafür gegeben hätte, im Unrecht zu sein. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte nicht recht haben.

Seine Augen waren zwar geöffnet, und er atmete, aber er war nicht mehr da. Seine Gedanken waren wo anders. Er antwortete kaum auf meine zärtliche, zitternde, tiefe Stimme. Ich war einige Atemstösse lang leise. Überlegte. Dann… schrie ich. Ich schrie nach meiner Mutter und weckte gleich auch meine beiden Schwestern. Meine Mutter rannte in das Büro meines Vaters, und realisierte gleich, was er tat. Sie schrie ihn an. Das bestätigte nur noch einmal mehr, dass ich recht hatte.

Das Schreien meiner Mutter erweckte meinen Vater aus seiner Trance. Sie stritten. Heftig. Wir alle hatten Angst. Angst um unsere Mutter. Angst um unseren Vater. Sie stritten so sehr, dass mein Vater das Haus verliess. In diesem Zustand. Wir rannten ihm gleich hinterher, jedoch waren wir zu spät. Er war schon weg gewesen. Ich war noch so klein und ängstlich. Ich hatte noch meine Schlafkleidung an und war müde… Was war nur los gewesen?

Ich wollte doch nur zu meinem Vater und mit ihm quatschen und tratschen, wie wir es immer spät am Abend taten. Ich war nie das Kind, welches gerne früh schlafen ging. Ich war eine Nachteule. Ein Kind des Mondes und der Nacht.

Wir suchten nach ihm. Es war so dunkel und kalt… Wo war er nur hingegangen? Ging es ihm gut? Meine Mutter rief die Polizei und Sanität an. Alle waren nun auf der Suche nach einem Mann, welcher Alt genug sein sollte, um zu wissen, dass man in solchen Zuständen besser nicht aus dem Haus sollte. Wir suchten mit Taschenlampen und riefen ständig nach seinem Namen. Erfolgslos. Es waren längere Minuten vergangen. Immer noch keine Spur. Bis wir Minuten später das Schreien eines geschwächten Mannes in der Ferne hörten und das Geräusch knallender Autotüren. Momente später fuhren der Kranken- und Polizeistreifenwagen an uns vorbei. Den Anruf, den meine Mutter Sekunden später bekam, bewies, dass er es wirklich war.

Stunden später durften wir dann auch endlich in die Intensivstation hinein und ihn besuchen. Ich hatte kaum geschlafen. Wie könnte ich auch? Es war mein Vater, von dem wir schliesslich sprachen. Dieser Mann, welcher ganz früher immer spät nachts mit mir zu Tankstelle fuhr, und wie ich auch, ein Eis ass. Dieser Mann, welcher mit mir spät abends noch spazieren ging und mir viele bezaubernde, hypnotisierende Geschichten erzählte. Er war mein Vorbild. Mein Held.

Wo war mein Held jetzt hin? Alles, was ich nun sah, war ein Mann, welcher verkabelt und verschnürt war. Ein Mann, welcher geweckt wurde und ihm gesagt werden musste, dass seine Familie hier wäre. Er konnte nicht einmal reden, so schlecht ging es ihm.

Ich durfte ihn ab diesem Tage an in der Klinik besuchen. Diese großartige psychiatrische Universitätsklinik. Ich musste mich in so einem jungen Alter mit dem öffentlichen Verkehr vertraut machen und ihn Tagtäglich mit diesem Besuchen. Nach der Schule, von zuhause aus. Egal wo. Egal wann. Tagtäglich.

In dieser Nacht, als ich es endlich schaffte, seine Faust zu öffnen, sah ich Tabletten. Zu viele davon. Ich sieh zu, wie mein Vater diese auch noch hinunterschluckte, als er von seiner Trance aufwachte.

Ich war so klein, jedoch war ich von da an kein Kind mehr. Ich war tot, ich hatte keine Kindheit mehr.

Mein Vater versuchte sich vor meinen Augen, und den Augen meiner Familie zu überdosieren.

Das war es, an das ich mich bis heute noch, jeden Abend erinnerte.

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