Um mich eine Idylle, ein traumhafter Tanz. Die leuchtenden Herbstblätter fallen wie goldener Schnee, lassen sich vom Wind tragen, mit Eleganz und Leichtigkeit. Während mein Herz sich daran nur zu erkälten weiss und immer schwerer in meine Brust sinkt, sich zusammenzieht, obwohl sich mein Lieblingsplatz gerade für mich öffnet. Mich in seine Stille einbettet. Doch dieser schreckliche Tag haftet tonnenschwer an mir.
Denk. Einfach. Nicht. Daran.
Alles wird gut.
Ich mache die Worte zu meinem Mantra, wische das kalte Wasser von der Holzbank, lasse mich darauf sinken und nehme meine Lunchbox aus meinem Rucksack.
Das darauf abgebildete Kaninchen sieht mich aus knuffigen Augen an, lieb und unschuldig. Doch die Erinnerung an die Person, die mich ununterbrochen gekitzelt hat, während ich sie aus dem Geschenkpapier gewickelt habe, liegt heute nur noch schmerzvoll in einer dunklen Ecke meiner Gedankenwelt. Tat sie jedenfalls.
Nun ist sie wieder hier, in Farbe.
Er vor meinem inneren Auge.
Seine Stimme, dunkel und tief, aber so hell wie nichts in meinem Leben. So voll, dass sie diese leere Stille füllt, wie seine Anwesenheit mein leeres Herz. Einst.
Es gab auch eine mit einem Eichhörnchen, aber die mögen Nüsse. Du bist nun mal ein kleiner Angsthase.
Die Haselnüsse, die er mir in dieser Jahreszeit morgens zur Begrüssung immer gerne an den Kopf warf, sorgen dafür, dass ich die wenigen, die hier um mich liegen, schmerzerfüllt anstarre. Und mir vorstelle, dass er es ist. Denn er ist noch immer ÜBERALL.
Er ist mein bester Freund. Ich brauche nicht mehr. Keine feste Beziehung oder einen riesigen Freundeskreis.
Ich brauche nur meinen allerbesten Freund.
Vermutlich quäle ich mich selbst gern, es scheint mir unmöglich aufzuhören, an die Geschehnisse von vorhin zu denken. Der Gedankensturm in meinem Kopf ist einfach zu laut, um nicht nachzugeben.
So erbarmungslos laut.
Es gab Tage, da war mein Lieblingsplatz kein Ort, sondern ein Mensch, der hier auf mich gewartet hat. Es gab Tage, da war dieser Mensch, der, den ich dachte, am besten einschätzen zu können, am besten zu kennen.
Was ist bloss aus uns geworden?
Im Frühling noch war alles perfekt. Mein bester Freund und ich, ein Herz und eine Seele, unzertrennbar.
Doch etwas hat sich verändert. Er hatte plötzlich weniger Zeit für mich, dafür aber jede Menge für seine neue Clique.
Wieder ein Sturm in meinem Kopf, meine Gedanken brennen, denn manche meiner Erinnerungen sind Flammen, die das letzte bisschen Selbstsicherheit in mir verschlingen.
Du bist naiv zu glauben, dass er wirklich gern Zeit mit dir verbringt.
Er will offensichtlich nicht immer gestört werden.
Dumm.
Naiv.
Heulsuse.
Die Stimmen verschwinden nicht. Denn vielleicht ist es wahr.
Wenn er wüsste, was seine Freunde hinter seinem Rücken mit mir anstellen. Daran dachte ich oft.
Doch die wenige Zeit, die er sich in den letzten Monaten für mich freiräumte, diese seltenen Momente, die nur uns gehörten, wollte ich nicht zerstören.
Ich wollte ihm nicht gestehen, dass ich seine Clique grausam finde.
Was, wenn er sich für sie entscheidet? Wir kennen uns länger, aber das bedeutet nicht, dass wir immer zusammen bleiben werden.
Auch heute Morgen randalierten diese Gedanken in meinem Kopf.
Bis geschah, was ich gehofft, aber gleichzeitig gefürchtet habe.
Er ging ins Klassenzimmer. Seine Freunde nutzten den Moment, um mich herunterzumachen, da trat er plötzlich zu uns.
Schock zeichnete sich in seinem Gesicht, ein Anflug von Wut flog über seine Züge.
Hoffnungsvolle Erwartung nahm Besitz von mir.
Doch er sagte nichts.
Nichts.
Eine eiskalte Decke legte sich über mich. Es war mir plötzlich unmöglich, seine Mimik zu deuten und ich wollte nur noch weg. Dachte nicht daran, wie viele Lektionen ich verpasse, wie viel Ärger ich bekomme, dass ich ohne Jacke frieren werde. Dachte lediglich daran, dass ich meinen besten Freund verlor.
“Ruby”, eine Hand legt sich um meinen Arm und mein Herz stolpert. Mein aschblondes Haar schlägt mir ins Gesicht, als ich den Kopf senke. Die Luft ist schwer.
Ich muss nicht hochsehen, um zu wissen, wer da ist.
Gestern klang mein Name aus Henrys Mund kostbar. Geliebt.
Jetzt nur falsch.
Mein Blick verweilt auf seiner Hand.
Ein Kloss hat sich in meinem Hals gebildet, kein Wort passt daran vorbei.
Sein Griff löst sich, dann knarzt die Bank neben mir.
“Warum hast du nichts gesagt?”, seine Kränkung zupft an meinem Herz.
Ich hebe meinen Blick rechtzeitig, um zu sehen, wie sich eine einzelne Träne, wie ein geschmolzener Kristall, von seinem Auge löst. Ich habe ihn nie so traurig erlebt.
Nichts ergibt mehr Sinn.
Warum hast du mich nicht verteidigt? Bedeute ich dir nichts?
Ich sage es laut, denn Henry zuckt kaum merklich zusammen.
Verzweifelt umfasst er meine Hände. “So hat das für dich ausgesehen?”, seine Stimme bricht an dem Satz.
“Du hast nichts gesagt”, krächze ich: “Wonach sollte das aussehen?”
Sein Griff um meine Hände verstärkt sich: “Ich war überrascht, verdammt! Ich konnte nicht reagieren …”
Er stockt, ich blinzle irritiert.
“Dann ranntest du weg. Es brauchte das, damit ich merkte, was mir wichtig ist.”
Ich hole Luft.
“Weil man erst merkt, wie viel einem etwas bedeutet, wenn es nicht mehr hier ist. Und in dem Moment hat es sich so angefühlt, als würde ich dich verlieren.”
Der Wind spielt mit seinem schwarzen Haar. Henry streichelt meine Finger.
“Ich hätte dich mehr sehen sollen. Ich dachte, du wärst wütend auf mich. Du warst verschlossen -”
Ich drücke seine Hände sanft, um klarzumachen, dass ich etwas sagen möchte.
“Ich war wütend, weil du mehr bei den anderen warst, weil ich dich vermisste. Ich habe nicht mit dir geredet, weil ich Angst davor hatte, dass ich dich einschränke und dich damit verliere”, die letzten vier Worte sind nur noch ein gebrochenes Krächzen, aber mehr ist nicht nötig. Im nächsten Moment finde ich mich in Henrys Armen wieder.
“Heisst das, jetzt ist alles wieder gut?”, ich spüre seine Anspannung.
“Jetzt ist alles wieder gut”, ich kann es erst glauben, als Henry locker wird.
Weil er mein bester Freund ist. Meine Geschichte.
Noch immer tanzt das Gold des Herbstes um uns.
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