Meine Füsse schmiegen sich an den weichen Waldboden. Meine Sinne verführen mich mit Farben, Düften und wundervollem Vogelgezwitscher. Ich schliesse die Augen und überlasse meinen Füssen die Entscheidung, welchen Weg ich gehen soll. Ich denke an nichts, kein einziger Gedanke, der meine Laune trübt. Hier bin nur ich, hier zähle nur ich. Meine Hände streichen über Blätter, meine Füsse über Wurzeln, meine Gedanken über Wolken. Ich spüre Zufriedenheit, ein Lächeln stielt sich auf meine Lippen. Ich drehe mich einmal um mich selbst. Ich spüre, wie der samtige Stoff meines sonnengelben Kleides um meine Beine weht. Ich öffne meine Augen, sie sehen ein atemberaubendes Gemälde, das mit einem Atemzug zur Wirklichkeit verschmelzt. Doch was für ein Gemälde könnte diese Schönheit, diese Geborgenheit in sich aufnehmen und es ausstrahlen? Nur das reinste Herz könnte ein Gemälde wie dieses malen. Dieses Herz befindet sich dort, wo niemand es finden kann. Es ist tief verkeilt in den Wurzeln der Erde. Es ist das Herz der Erde. Es schlägt nicht so stark wie Saturns oder Neptuns Herz. Seine Schläge sind sanft und wachsam. Es lässt Leben entstehen und lässt Leben wachsen. Nur eines verstehe ich nicht. Meine Geschichte wächst und lebt, doch wieso besteht nun die Gefahr, dass sie untergehen wird?
Und da wusste ich es, genau in dem Moment als meine Augen auf seine stiessen, die so grün wie der Wald in mir waren…
Mit einem Pinsel in der Hand und einem abgenutzten Bleistift hinterm Ohr sitzt er im Schneidersitz da. Ich bin fasziniert. Unter meinem Fuss knackt ein Ast. Schnell gehe ich hinter einem Busch in Deckung. Es ist besser, wenn er mich nicht sieht. Sonst denkt er vielleicht ich spioniere ihm hinterher. Er war bis jetzt zweimal auf dieser Lichtung und an einer anderen, 15 Meter weiter den Waldweg entlang. Ich könnte ihm stundenlang zuschauen, wie er raffinierte Striche zieht und Punkte in einer einzigartigen Form auf die Leinwand bringt. Aber vor allem gefallen mir seine Haare, ja ich weiss, es hat nicht viel mit meiner künstlerischen Ader zu tun. Locken, die sich wundervoll ineinander verknoten. Kein Schnitt wie ihn alle Jungen, die ich kenne, tragen. Es sind jetzt schon bestimmt 4 Monate, in denen ich regelmässig seinen Anblick in mich aufsauge. Nun das klingt vielleicht ein bisschen brutal. Aber es könnte möglicherweise sein, dass ich ihn vermisse, auch wenn ich ihn vielleicht auch gar nicht kenne. Dieses Gefühl, wenn man ohne eine Person nicht auskommt, obwohl man noch nie ein Wort mit ihr gewechselt hat. Es hat sich in mir festgesetzt und ich komme nicht mehr von ihm los. Es hat mich erwischt.
Ich denke er weiss, dass ich ihn beobachte, denn immer wenn er ein Knacken vernimmt, lächelt er. Nun dies ist kein Vorteil für mich, denn er ist mir somit hochaus überlegen. Doch so leicht nehme ich meine Niederlage nicht hin und fasse einen Entschluss. Ich werde ihn ansprechen. Ich werde ihm sagen, dass er mir schon ab dem ersten Pinselstrich ein flatterndes Herz beschert hat. Einen Schritt nach dem anderen riskiere ich hinter dem kleinen Büschlein hervor. Ich könnte mir denken, dass man mindestens meinen Haaransatz sehen konnte, aber ihm scheint es nicht aufgefallen zu sein. Puhh…zum Glück, sonst würde ich nämlich vor Peinlichkeit im Boden versinken und dort würde mich so schnell niemand mehr herauszerren können. Meine vorher noch felsenfest überzeugten Schritte werden unsicher und vorsichtig. Was, wenn ich ihn störe und er sich danach einen anderen Platz für seine Kunstwerke sucht? Ich könnte ihn… ähm, nein bessergesagt sie, nie mehr betrachten.
Ich stampfe durchs Gras direkt auf den aussergewöhnlichen Künstler zu. Heute hatte ich noch keinen Blick auf seine Leinwand werfen können, doch genau heute lässt mich ihr Anblick schockiert aufschnaufen. Blaue Augen und ein verschmitztes Lächeln sehen mich an. Das Mädchen auf der Leinwand trägt einen blattgrünen Hosenanzug und sieht aus als könnte sie mit ihrer entschlossenen Art die ganze Welt von Krieg und Armut befreien. Ich bin das definitiv nicht. Diese Entschlossenheit könnte ich nicht einmal aufbringen, wenn ich mir zu hundert Prozent sicher wäre. Aber ich muss schon sagen, dieser Hosenanzug gefällt mir!
«Wie um alles in der Welt.» ich starre auf ein perfekt gezeichnetes Gesicht, das mir zum Verwechseln gleicht. Er schrickt auf und zeichnet einen nicht passenden Pinselstrich, dass meinem Gesicht, ein komisches Ohr auf der linken Schläfe verleiht. Jetzt sehen zwei weit aufgerissene grüne Augen mir direkt ins Gesicht. Peinlich berührt streiche ich mir eine Strähne hinters Ohr, starre aber auch ihm ins Gesicht.
«Ich habe von dir geträumt und nun stehst du vor mir», gibt er mir verträumt zu verstehen.