"Das Ende von Somervil" – Eine Geschichte von Vivian Kurgod Matha - Young Circle

«Das Ende von Somervil» – Eine Geschichte von Vivian Kurgod Matha

Member Stories 2024

«Das Ende von Somervil» – Eine Geschichte von Vivian Kurgod Matha

In der beschaulichen Stadt Somervil tauchen am 23. Juni 2017 mysteriöse Lichter auf, die das Leben der Bewohner in einen Albtraum verwandeln. Während sich die Panik unter den Einwohnern ausbreitet und sie in eine emotional leere Trance fallen, scheinen die Lichter unaufhaltsam auf das bevorstehende Unheil zuzusteuern, das die Stadt in den Abgrund reissen könnte.

Dieses Dokument enthält die gesammelten Informationen der Organisation [zensiert] zu dem durch [zensiert] hervorgerufenen Ereignis in der Stadt Somervil.

Man zählte den 23. Juni 2017, als das erste Licht erschien. Knallrot leuchtete es am Abend jenes Tages zwischen den Hügeln hinter dem See der kleinen Stadt Somervil auf. Inmitten der wenigen Strassenlampen stand es heraus wie eine Wunde, doch es wurde von niemandem beachtet. Die Gegend, in der das Licht erschienen war, wurde selten von menschlichen Wesen jeglicher Art aufgesucht, daher flackerte das Licht ungehindert zwischen den Hügeln umher, unentdeckt, unaufhaltsam.

Drei Tage später gesellte sich ein zweites Licht dazu. Das sonnige Wetter blieb unverändert, bis auf eine leichte Brise, welche durch die Strassen fegte und die Maisfelder tanzen liess. Diesmal fielen die Zwillingslichter laut einem aus der Stadt geborgenen Tagebuch einem siebenjährigen Jungen auf, dessen Schlafzimmerfenster direkt auf die Hügel ausgerichtet war. Der Junge, Tim war sein Name, hielt die Lichter in der Dämmerung für die Augen eines Ungeheuers und weigerte sich, ins Bett zu gehen. Sein grosser Bruder nannte ihn einen Feigling und erklärte ihm, Monster seien nur eine dumme Fantasie. Aber dennoch, als er aus dem Fenster blickte, erschien es ihm, als hätte er etwas unsagbar Grauenvolles erkannt.

Die nächsten zwei Lichter erglommen erst zehn Tage in den Juli hinein. In dieser Zeit hatte das Wetter eine unschöne Form angenommen. Die Sonne versengte die verletzlichen Blätter der alten Bäume, die schliesslich abfielen und sich in traurigen Ansammlungen auf dem sengenden Asphalt trösteten. Diese Gesellschaften wurden rasch und unhöflich von den ankommenden Windböen auseinandergetrieben. Das Tagebuch besagte, dass Tim seinen Bruder die dritte Nacht in Folge aus dem Schlaf rüttelte, da sich die Anzahl der Monster verdoppelt hatte. Der ältere Bruder sah dem in Tränen aufgelösten Gesicht in die Augen. Es brauchte sehr viel Zeit, bis er sich zusammenreissen und den kleinen Tim trösten konnte. Auch in ihm wuchs eine unerklärliche Angst heran. Diese Stadt würde untergehen. Sie mussten von hier weg. Die Erwachsenen bemerkten auch allmählich die Symptome der Panik, doch sie verschlossen ihre Augen vor allen Ereignissen, welche für sie nicht verständlich waren. Sie schreckten mit gellenden Schreien aus ihren Alpträumen hervor und kamen zum Schluss, die Situation ergäbe sich, da der Vollmond am Himmel prangte. Merkwürdigerweise erwies sich bei einer Befragung der Bevölkerung, dass keine einzige Person wusste, wovon die Alpträume gehandelt hatten. Es ist zu vermuten, dass es für sie zu gefährlich gewesen wäre, sich zu erinnern, und ihre Gehirne den Inhalt der Träume daher verdrängt hatten. Erwachsene sind bekanntlich sehr gut darin, sich selbst zu belügen.

Am letzten Tag des Julis tauchte das sechste Licht auf, was den Ausgang des tragischen Phänomens besiegelte. Ein fünftes Licht war bereits zu einem unbestimmten früheren Zeitpunkt erschienen, der nicht klar dokumentiert werden konnte, da alle Stadtbewohner bereits als unfähig erklärt worden waren, eine anständige Konversation zu führen. Sie schienen sich laut den Berichten unserer Augenzeugen in einer Art Trance zu befinden. Der Beginn des Gesprächs verlief normal, doch sobald spezifischere oder detailliertere Fragen gestellt wurden, schienen die Stadtbewohner dazu zu neigen, sich in sich selbst zu kehren und einer starken Verwirrung zu unterliegen. Mit der Zeit versiegte ihre Stimme und sie starrten nur noch mit einem leeren Blick durch ihre Gesprächspartner hindurch, ohne eine Reaktion zu zeigen. Laut weiteren Berichten gingen die Stadtbewohner weiterhin ihrem täglichen Ablauf nach, doch fehlten ihnen dabei jegliche Emotionen. Ein kleiner Junge fiel den Augenzeugen am vierten August auf. Seine Augen schienen frei von Leere und von Panik erfüllt zu sein. Er schrie nach seinem grossen Bruder, doch seine Mutter zog ihn rasch weiter und informierte ihn in einer monotonen Stimme, dass sein Bruder Hausarrest hätte, da er versucht hatte, mit dem kleinen Bruder aus der Stadt zu fliehen. Die Augenzeugen suchten nach einer Möglichkeit, mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen, doch sie blieben erfolglos. Die einzigen Daten bezüglich dieser Situation waren die Einträge im mutmasslichen Tagebuch des älteren Bruders, welches bereits in den letzten zwei Abschnitten zitiert wurde. Hinter dem Horizont türmten sich langsam die Vorboten gewaltiger Gewitterwolken auf. In ihnen grollte es unheilvoll, der Schrei eines erwachenden Biestes.

Am 12. August 2017 nahm das traurige Schicksal der Stadt Somervil seinen unglückseligen Lauf. Jener Tag war der heisseste, den die Stadt in den letzten fünfzig Jahren erlebt hatte. Der blaue Himmel war von einem dunstig weissen Schleier bedeckt. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Bewohner ausnahmslos zu leeren Puppen reduziert worden. Sie liefen die Strassen in Mustern entlang, die keinem System zu folgen schienen, ziellos, planlos. An dem Haus, aus welchem das Tagebuch geborgen wurde, war ein panikerfülltes Klopfen von der Innenseite der Tür zu hören. Wenige Stunden später bemerkte einer der Augenzeugen, dass eines der Fenster im Erdgeschoss von Innen zerbrochen worden war. Weitere Recherche bezüglich dem Schicksal der Brüder konnten nicht angestellt werden, da die Augenzeugen ebenfalls aus der Stadt fliehen mussten. Die folgenden Informationen wurden durch installierte Kameras und Mikrofone überliefert.

Als die Dämmerung anbrach, wuchsen die Gewitterwolken über den Himmel wie eine giftige Pflanze. Nur ein kleiner, orangefarben glühender Lichtstreifen verblieb über den Hügeln, eine letzte Hoffnung kämpfte gegen die rötlichen Gewitterwolken. Das Wasser im See warf die Boote umher, als wären sie Spielzeuge. Das Licht war keine Hoffnung, es war ein Verderben. Als es sich im See spiegelte, wandten sich alle Stadtbewohner dem Licht zu, in einem letzten Aufbäumen ihrer verglühenden Menschlichkeit. So bemerkten sie nicht, welche Existenz hinter ihnen im Gewitter erwachte.

Das Licht kam.

Das Ende kam.

Ende der Aufzeichnung.

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