Du starrst mich an: Ein mir fremdes Gesicht, das ich vor mir erblicke. Obwohl Du direkt vor mir stehst und ich bloss meinen Arm ausstrecken müsste, um dich zu berühren, bist Du unendlich weit weg von mir, wie hinter kühlem Glas. Ich drehe meinen Kopf langsam auf die Seite und derjenige der Fremden dreht sich im gleichen Takt mit. Nun drehe ich ihn wieder zurück, Du siehst mich argwöhnisch an. Obschon der äusserlich ersichtlichen Symmetrie bist Du nicht im Gleichgewicht mit mir. Trotz weit aufgerissener Augen bin ich blind, kann nicht erkennen, dass wirklich Du vor mir stehst. Ich fühle nur deinen spöttischen Blick auf meiner entblössten Haut, seltsam kalt. Vor dir stehe ich vor Gericht und weiss trotzdem nicht um dein Urteil. Habe ich mir dich so vorgestellt, so erwachsen, mir so unnahbar?
Dich beschreiben zu wollen, dich wirklich präzise zu erfassen und nicht nur als etwas Unscharfes und Verschwommenes zu skizzieren, ist eine Aufgabe, als wolle man eine flüchtige Windböe mit blossen Händen fassen und konservieren. Du klingst in meinen Ohren nach, bist ein sanftes Lied von fernher, welches gewisse Bekanntheit mit sich trägt, mich wiegt, mich tief berührt. Deine aufwühlende Melodie wird vom Sturm in dir getragen und ich höre sie mir gerne an. Drehe ich mich nach dir um, so höre ich noch den Nachklang deines pochenden Herzschlags im schwarzen Schatten, doch Du bist bereits weitergezogen- nicht rastlos, aber voller Erwartungen an das auf dich Zukommende. Du wartest nicht, sondern rast darauf zu, unermüdlich, mitgerissen von den schrillen Tönen, umflossen, umwoben. Ich versuche vergeblich, dich festzuhalten in meinen nackten Armen, dann dir nachzusehen. Trotz meines kläglichen Scheiterns lache ich laut: Du existierst alleine in deinem Leben, ohne einsam zu sein, Du lebst im Jetzt, im Bewusstsein deiner Einmaligkeit: Vergänglichkeit ist dein Geschenk und nicht ein Fluch. Unfassbar, unendlich, gewesen und doch hier bei mir.
Auch ich bin gewesen, habe meine Spur hinterlassen in dir und Du in mir. Ich habe mich eingeätzt, mich auf dich fallen gelassen, dich vollkommen absorbiert in mir. Wenn ich mein scharfes Kinn hebe, befinde ich mich auf Augenhöhe mit dir, lache dich schief mit zusammengekniffenen Augen an. Du bist nicht dieselbe wie ich, bist nicht als dieselbe erwachsen und doch teilen wir dieselben Höhen und Abgründe, alle Leidenschaften und Laster unserer Koexistenz. Das lebenstrunkene Pulsieren von tausenden Impressionen füllt uns fast schmerzhaft aus bis an den Rand, festgebrannt in unserem Innersten von nachklingenden Tagträumen, so deutlich spürbar, dass mir mein weiches Herz langsam abgeschnürt wird. Ich habe das Leben ertaumelt, Du hast versucht, das Rosafarbene festzuhalten in uns. Eigentlich bist Du nur eine Fassade, eine Hülle, die mein tiefstes Innerstes maskiert vor dem unheimlich gewordenen Himmel über mir, welcher sich langsam nagend in mich hinein reissen will und es nicht kann, weil ich dein Glück kenne, weil ich an dir zum Ich werde. Mein filigraner Körper: Lediglich eine nichtige, biologisch leicht abbaubare Masse, das Du in mir ist die wirkliche Essenz. Ich atme ein mit hellen Augen und geöffneten Lungen und versuche klar zu sehen, weil ich dich brauche zum Sein. Du blickst zu mir zurück, wir fallen und stehen zugleich, sind trotz gegenseitiger Vertrautheit in der Schwebe und unsicher, wo wir sind und wohin wir gehen werden.
Jetzt lösche ich das Licht aus, unser Spiegelbild verblasst und verbleibt mir wie eingebrannt zurück. Ich stehe im Dunkeln, plötzlich deutlich wahrnehmend, wahrhaftig, leuchtend. Ich habe mich tief eingegraben in dir als Zeichen, dass ich gelebt habe, dass ich gewesen bin, dass ich da war mit dir und getrotzt habe der Absurdität unserer Existenz. Wir sind uns dem erlebten Jetzt deutlich bewusst, stellen einen kleinen Lichtpunkt dar inmitten von Abertausenden, inmitten von Gewesenem und Werdendem, indem der Einzelne zur lärmenden Masse wird. Ich will nicht zu den anderen zählen, will nicht versinken im Grenzenlosen und auf einen unbekannten Punkt zurasen, an verschwommenen Bildern vorbei, wie ein lang verblichener Film, durch vermeintliche Beschleunigung in die Regression, die Zeit ausdünnend, negierend, suspendierend. Immer höher, immer weiter, fortrückend vom dröhnenden Zuvor, von meinem Selbst.
Wir aber sind hier, betrachten uns in unserer langen Weile von aussen. Ich nehme dich wahr: Bist Du noch dasselbe Ich, oder aber bin ich schon weit weg entrückt von dir und sehe mich nun von der anderen Seite des Spiegels an?
Hier geht es zu den weiteren Member Stories: