Ich stehe auf und nehme meinen weinroten Anorak vom Kleiderhaken. Klirrende Kälte schlägt mir entgegen als ich die Tür aufreisse. Der Schneefall hat für einen Moment aufgehört und man hat eine klare Sicht auf ein Lichtermeer aus unendlich vielen Sternen.
Wir sitzen an einem langen, festlich gedeckten Eichentisch, auf dem ein wunderschöner Adventskranz steht. Meine Grossmutter serviert gerade das Essen. Es gibt einen mit Brotwürfel, Sellerie und Speck gefüllten Truthahn nach einem uralten Familienrezept. Dazu, typischerweise, Süsskartoffeln und Bohnen. Draussen ist es inzwischen dunkel geworden. Der Truthahn ist so lecker, dass ich gleich drei Portionen verdrücke. Pappsatt reibe ich mir den Bauch und bereue ein wenig, so viel gegessen zu haben.
Daher beschliesse ich, noch ein wenig frische Abendluft zu schnappen. Ich stehe auf und nehme meinen weinroten Anorak vom Kleiderhaken. Klirrende Kälte schlägt mir entgegen als ich die Tür aufreisse. Der Schneefall hat für einen Moment aufgehört und man hat eine klare Sicht auf ein Lichtermeer aus unendlich vielen Sternen. Ein wunderschöner Anblick, der mich jedes Mal aufs Neue zum Staunen bringt. Ausser dem entfernten Heulen eines Wolfes herrscht absolute Stille. Beim Ausatmen bilden sich kleine Wölkchen und die Lungen schmerzen bei zu tiefem Einatmen, so kalt ist es. Meine Oma sagt, sogar die Wimpern und würden manchmal gefrieren, wenn man sich zu lange draussen aufhält. Solche Temperaturen sind eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Ort wie Alaska, wo es in den Wintermonaten im Durchschnitt -18 Grad bis -35 Grad Celsius kalt ist. Doch für jemanden wie mich, die aus Kalifornien kommt, ist dies immer noch gewöhnungsbedürftig. Wir fliegen jedes Jahr an Weihnachten zu Oma und Opa. Ein Grossteil unserer Familie wohnt nämlich in Alaska, denn meine Eltern sind vor fünfzehn Jahren in den Süden ausgewandert. Die Kälte kriecht langsam unter meinen Mantel und auch meine Finger beginnen klamm zu werden. Deshalb beschliesse ich, wieder reinzugehen und mich vor dem lodernden Kaminfeuer aufzuwärmen. Ich streife mir meine roten Stiefel mit Rentierfellbesatz ab, klopfe sie aneinander, um den Schnee abzuschütteln und lasse die schwere Eichentüre ins Schloss fallen.
Bevor ich mich zu meiner Familie setze, gehe ich rasch auf die Toilette. Dafür muss ich die knarzende Wendeltreppe hochsteigen. In der oberen Etage befinden sich nebst dem Badezimmer noch das Schlafzimmer meiner Grosseltern und ein Gästezimmer. Während den Sommermonaten, in denen Oma und Opa unten im Tal wohnen, vermieten sie die Blockhütte an Feriengäste. Diese Gegend eignet sich im Winter perfekt zum Skifahren und im Sommer zum Wandern. Gerade als ich wieder runter gehen will, höre ich ein leises, kratzendes Geräusch. Es hört sich an, als würde etwas an einem Stück Metall entlangschrammen. Mein Herz fängt an wie wild zu hämmern. Etwas ängstlich war ich schon immer. Sogar wenn meine Freundinnen mich zum Spass erschrecken, bleibt mir fast das Herz stehen. Ich nehme nun all meinen Mut zusammen und schreite zur letzten Tür, dem Schlafzimmer, aus dem die merkwürdigen Geräusche kommen. Im Zeitlupentempo drücke ich die Klinke runter und öffne mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, die weisse Holztür. Die Deckenleuchte ist nicht eingeschaltet, doch draussen vor einem der grossen Fenster steht eine grelle Laterne, welche den Lichtkegel auf etwas Rechteckiges im Raum wirft. Ich betätige vorsichtig den Lichtschalter und traue meinen Augen nicht. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht damit. Mitten im Raum neben dem türkisenen Himmelbett steht ein kleiner Käfig, indem sich ein niedlicher Hundewelpe befindet. Vorsichtig trete ich näher heran und gehe in die Hocke. Es ist ein Yorkshire Terrier, der es sich auf einer beigen Hundedecke bequem gemacht hat. Er trägt eine blaue Schleife um den Hals auf der in schwarzen Lettern geschrieben steht: Ich gehöre Avery Stones und werde ihr immer ein treuer Freund sein. Von Oma und Opa. Wow. Jetzt bin ich baff. Ich kann meine Freude kaum in Worte fassen und würde am liebsten die Treppen runterrasen und mich bei allen bedanken und meine Begeisterung teilen. Doch das geht nicht, denn ich habe soeben die Bescherung vorverlegt und mein Geschenk schon gesehen. Dies sollte nie jemand erfahren. Den Tränen nahe, versuche ich mich zu beruhigen. Mein ganzes Leben wünsche ich mir schon einen Hund und jetzt geht dieser Wunsch in Erfüllung. Wie sie es wohl geschafft haben, meine Eltern zu überzeugen?
Lautes Gelächter und Stimmengewirr lässt mich ins Wohnzimmer führen. Im Türrahmen bleibe ich einen Moment stehen und lasse das Bild, welches sich mir bietet auf mich wirken. Noch nie zuvor habe ich ein so schön dekoriertes Zimmer gesehen. Ein riesiger geschmückter Weihnachtsbaum mit Lametta, riesigen Kugeln und Lichterketten. Darunter liegen unzählige Pakete in allen Formen und Grössen. Die vielen Kerzen und das Knistern des Feuers verleihen dem Raum etwas Magisches. Mein Blick fällt auf eines der deckenhohen Fenster. Es hat wieder zu schneien begonnen und auf der Scheibe haben sich feine Eiskristalle gebildet. Meine Schwestern, die beiden Naschkatzen, sitzen vor einem der Plätzchendosen und stopfen sich eins nach dem anderen in den Mund. Ich sehe Madison und Mia schon bildlich vor mir, wie sie über Bauchschmerzen und Übelkeit klagen. Naschen gehört zu einer ihrer liebsten Beschäftigungen. Ich frage mich immer wieder, wie sie so viele Süssigkeiten essen können und doch so unfassbar schlank sind. Meine Oma macht mir mit einem Handzeichen klar, dass ich mich zu ihr setzen soll. Im Schneidersitz setze ich mich neben sie und versinke fast in der weichen Polstergruppe. Meine Grossmutter erzählt meinen Schwestern und mir häufig spannende Geschichten von früher. Darauf hoffe ich auch jetzt. Denn ich könnte ihr stundenlang zuhören und sie liebt es ebenfalls in Erinnerungen zu schwelgen.
Für mich ist dies das schönste Weihnachtsfest, was ich jemals hatte. Nicht nur wegen dem zuckersüssen Hundewelpen, sondern auch wegen der hervorragenden Stimmung. Ich bin unendlich dankbar für all die schönen Momente und lieben Menschen in meinem Leben.
PS. Am Weihnachtsmorgen waren wir in der Hütte eingeschneit. Der Schnee war so hoch, dass wir nicht einmal mehr aus der Tür kamen.
Ich nehme mein selbstgebasteltes Lesezeichen, lege es zwischen die beiden Seiten und klappe das Buch zu. Die nächsten Tagebucheinträge, nehme ich mir vor, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt lesen. Vorsichtig nippe ich an meiner grossen Tasse mit Apfelpunsch, während ich auf meinem Bett sitze und nachdenklich aus dem runden Fenster starre. Diese alten zerfledderten Tagebücher habe ich in unserem neuen Haus auf dem Dachboden entdeckt. Sie lagen mit einer Rose in einer Holzkiste und waren mit einer Schnur zusammengebunden. Avery muss wohl stundenlang dort gesessen haben und die schönsten Momente ihres Lebens auf Papier festgehalten haben. Wie wundervoll. Tagebuchschreiben sollte eigentlich jeder, nicht wahr?
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