Es war ein wunderschöner Sommermorgen. Eine warme Brise wehte durch das offene Fenster in mein Zimmer. Ich hüpfte aus meinem Bett und lief ins Badezimmer. Doch auf dem Weg begann sich plötzlich alles zu drehen, das Licht blendete mich und der Boden kam immer näher. Dann wurde alles schwarz.
Ich hörte Stimmen. Wirre Stimmen. Die Stimme meines Bruders. Er rief meinen Namen, aber ich konnte nicht antworten. Die Stimme meines Vaters, meiner Mutter. Die Welt war viel zu hell und verschwommen. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, doch ich bekam alles um mich herum mit. Die starken Arme meines Vaters hoben mich vom Boden auf. Sie trugen mich ins Wohnzimmer, deckten mich mit einer Wolldecke zu. Trotzdem war mir eiskalt. Als würden sich kleine Eiskristalle immer schneller von meiner Brust aus im ganzen Körper verteilen. Dann bekam ich keine Luft mehr. Ich spürte, wie Tränen meine schneeweissen Wangen herunterrannen, doch ich hatte keine Kraft sie wegzuwischen. Meine Mutter schluchzte, meine Brüder sprachen wild durcheinander. Mein Vater blieb ruhig, seelenruhig, als wüsste er, dass alles gut werden würde, bis der Krankenwagen kam.
Ich dachte an nichts.
Fühlte nichts mehr.
Die Kälte war verschwunden.
Langsam legte sich ein weicher, dunkler Schleier über mich.
Er hüllte mich ein, sanft und vorsichtig.
Ich hiess ihn willkommen.
Das Schicksal hatte aber anscheinend andere Pläne mit mir. Man brachte mich ins Spital, sorgte dafür, dass der letzte Funken Leben in mir drinblieb.
Als ich aufwachte, lag ich in einem Raum mit weissen Wänden. Das grelle Licht blendete mich und ich musste ein paar Mal blinzeln, um etwas sehen zu können. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber schaffte es nicht. Ein starker Schmerz durchzuckte meinen Oberkörper und ich schrie laut auf. Irgendetwas stimmte nicht mit mir, ich wusste es.
Von meinem Schrei erschrocken erschienen zwei ernst dreinblickende Krankenschwestern, hinter ihnen meine Eltern. Eine unbändige Angst erfasste mich.
Mein Vater weinte.
Bittere, grosse Tränen.
Die Augen meiner Eltern waren rot geschwollen, sie schauten mich mitleidig und todtraurig an. Ich merkte, dass ich auch weinte. Die Krankenschwestern überbrachten mir dann die Nachricht.
Krebs.
Krebs, der zu lange unbemerkt geblieben war.
Krebs, der sich von meiner Lunge aus weiter in meinem Körper ausgebreitet hatte.
Krebs, der mein Leben veränderte.
Von nun an hiess es nur noch warten. Auf die nächste Arztkontrolle, auf das nächste Essen, die nächste Medikamentportion.
Auf den Tod.
Meine Familie besuchte mich jeden Tag im Spital. Sie sah mir zu, wie ich immer dünner wurde, immer blasser. Doch auch sie konnten nur warten. Wir alle warteten auf die Erlösung. Die Erlösung von meinen Schmerzen, von dem endlosen Warten. Doch der Krebs sass auch hier, neben meinen kleinen Brüdern und lachte hämisch. Er war nun Teil meiner Familie, nicht mehr wegzudenken. Alles drehte sich um ihn. Und ich wünsche mir, ich würde einfach sterben.
Aber ich starb nicht, für eine ganze Weile.
Ich schaute viel aus dem Fenster. Der Sommer zog vorbei, mit Gewittern, aber auch Sonnenschein. Ich versuchte ihn tief in meinem Herzen zu bewahren und stark zu sein. Für mich und vor allem für meine Familie.
Der Herbst verging wie im Flug, farbige Blätter tanzten im Wind und in meinen Gedanken tanzte ich gesund und frei mit ihnen mit. In Wirklichkeit ging es mir immer schlechter. Ein Teil von mir hatte das Warten satt, aber mein Herz, meine Seele, die wollten leben. Die Wärme und der Sonnenschein in meinem Herzen hielten mich am Leben. Der ewige Tanz meiner Seele hielt mich meistens fröhlich. Denn ich sah auch das Positive. Das Warten schenkte mir Zeit. Zeit, um noch mit meinen Liebsten zu sein.
Doch dann kam der Winter, kalt und düster. Er frass die Wärme in meinem Innersten immer mehr auf und ersetzte sie durch Kälte. Meine Seele hörte auf zu tanzen, meine Gedanken wurden mit jeder eisigen Schneeflocke negativer. Ich verfluchte den Krebs, das Universum, weinte mich täglich in den Schlaf, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr konnte.
An Weihnachten feierten wir in meinem kleinen Spitalzimmer. Es gab viele Geschenke und viel Essen. Ich wollte nichts essen und auch kein Geschenk. Das einzige Geschenk, das mir jemand geben konnte, war Leben. Doch da war schon der Krebs, der mir Leid und Elend schenkte, das Leben kam nicht gegen ihn an. Mit einem Zwitschern und rosafarbenen Blüten erreichte der Frühling die Welt hinter meinem Fenster. Er sagte mir, ich sollte lachen und den Rest meines Lebens geniessen. Und ich hörte auf den Frühling. Meine Seele erblühte mit den Blumen und mein Herz sang ein fröhliches Lied mit den Vögeln.
Bald war ein Jahr vergangen, das Jahr, das mir die Ärzte noch gegeben hatten. Das Warten hatte bald ein Ende. Aber wisst ihr was? Schlussendlich warten wir alle im Leben auf irgendetwas. Und schlussendlich warten wir auch alle auf den Tod. Das Wichtigste ist, dass wir den Sonnenschein in unserem Herzen bis zum Schluss tragen. Es ist ein ewiger Kreislauf, aus Warten und aus Loslassen, von geboren Werden bis Sterben. Leben und Tod.
Es war ein wunderschöner Sommermorgen. Der erste dieses Jahres. Meine Brüder schliefen in dieser Nacht auf Matratzen neben meinem Bett. Als ich am Morgen aufwachte, wusste ich, dass es das letzte Mal war.
Ich hatte keine Angst.
Ich hatte mich darauf eingestellt, ein Ablaufdatum zu haben. Ein früheres als andere, aber mein Leben war schön gewesen. Ich beobachtete meine Brüder, die eng aneinander gekuschelt noch schliefen. Ich sagte ihnen auf Wiedersehen, umarmte sie fest in meinen Gedanken. Da betraten meine Eltern das Zimmer. Sie sahen es in meinen Augen und rannten auf mich zu. Meine Brüder erwachten und verstanden auch sofort, was los war. Unser Warten hatte ein Ende und ich war bereit. In einer festen, liebevollen Umarmung meiner ganzen Familie schlief ich ein, und dieses Mal würde ich nicht mehr aufwachen.
Das Warten war vorbei.
Mein Leben war vorbei.
Doch der Sonnenschein in meinem Herzen ist immer noch hier. Am Tag, wenn die Sonne scheint, in der Nacht im Sternenhimmel.
Und er wird für immer und ewig scheinen.