Atme
Du hast dich in der Mädchentoilette eingeschlossen und versuchst, die Tränen zurückzuhalten. Dein Atem rast, du kannst ihn nicht kontrollieren.
Atme
Dir ist schwindlig, aber du kennst die Panik und die Angst zu gut.
Atme
Du klammerst dich an diesem einen Wort fest, das deine Freundin von zuhause dir vor einer gefühlten Ewigkeit sagte. Klammerst dich daran fest, als ob es dich vor dem rabenschwarzen Abgrund retten könnte, der sich plötzlich unter dir aufgetan hat.
Atme
Langsam fühlst du dich so, als würdest du doch nicht brechen.Nicht heute zumindest. Du erinnerst dich daran, dass du nicht brechen kannst, nicht brechen darfst. Erinnerst dich daran, dass niemand da ist, um dich aufzufangen, wenn du fällst. Dein Körper zittert, du weisst nicht mehr, ob du atmest.
Atme
Du blickst in den Spiegel. Nichts weist darauf hin, dass du vor wenigen Sekunden das Gefühl hattest, deine Welt würde enden. Du versuchst zu lächeln. Das Lächeln erreicht deine blauen Augen nicht. Deine hellen Haare umrahmen dein Gesicht, auf dem keine Freude zu finden ist, auch wenn du lächelst. Du versuchst, etwas zu finden, das die anderen anstarren würden, wenn du das Klassenzimmer wieder betrittst.
Atme
Du willst nicht zurück ins Klassenzimmer gehen. Auch wenn du die anderen nie über dich reden hören hast, weisst du, dass sie es hinter deinem Rücken tun. Du verstehst sogar, warum sie dich komisch finden. Das stille Mädchen aus der Ukraine, das erst seit einigen Monaten im Land ist. Das verlorene Kind, das kein Interesse an irgendetwas zeigt und meist in die Ferne starrt. Vielleicht träumend, aber vielleicht auch nur zu erschöpft, um irgendetwas anderes zu tun.
Atme
Eigentlich willst du nicht an dieser Schule sein. Du willst nicht mal in diesem Land sein. Dieser Ort, an dem dir alles fremd ist, dieser Ort, an dem du so unglaublich allein bist. Du erinnerst dich daran, wieso du hierhergekommen bist. Du kamst, damit dein Vater leben konnte. In der Ukraine hätte er in die Armee gehen müssen,wo er keine grossen Überlebenschancen gehabt hätte. Du kamst hierher, damit deine Familie nicht auseinandergerissen werden würde. Jetzt wirst du auseinandergerissen. Aber das ist in Ordnung. Glaubst du. Es ist in Ordnung, wenn dein Vater dafür leben kann.
Atme
Du erinnerst dich an deine Freunde, von zuhause. An eine Zeit, in der du nicht so unendlich allein warst. An die Pläne, die du für dein Leben hattest, an die Träume, die du zu träumen wagtest. Du weintest deine letzten Tränen, als du dich von deinen Freunden verabschiedetest. Freunde, die dir das Leben bedeutet hatten, die auch dann für dich da gewesen waren, als die Dinge schwerer wurden. Du hast nie mehr geweint, seit du Zuhause verlassen hast. Nun atmest du gar nicht mehr.
Atme
Du hoffst, dass es deinen Freunden gut geht. Du hörst nur selten von ihnen. Zu sehr sind sie eingenommen mit dem Alltag des Krieges. Viele haben Familienangehörige in der Armee. Viele versuchen zu helfen. Oft funktioniert der Mobilfunk bei ihnen nicht. Sie könnten dir dann nicht mal schreiben, selbst wenn sie die Zeit hätten.
Atme
Du verbietest dir, jetzt an all diese Dinge zu denken. Es tut weh. Der stechende Schmerz wird nicht helfen, die Panikattacke zu stoppen. Du vermisst deine Freunde. Du weisst, dass der Schmerz von der Einsamkeit kommt.Er ist längst Teil deines Alltags geworden. Dennoch flüsterst du ihm zu, dass er für einige Stunden weggehen muss. «Später», wisperst du ihm zu, «später». Es klingt wie ein Versprechen. Doch du weisst, dass später erst sein wird, wenn du allein in der Dunkelheit liegst.Deine Familie kann dir mit deinem Schmerz nicht helfen. Sie haben selbst zu viel davon und du möchtest ihnen nicht noch mehr Sorgen bereiten.
Atme
Vorsichtig füllst du deine Lungen mit Luft. Du weisst, dass du jetzt zurück ins Klassenzimmer gehen musst, wenn du nicht von deinen Lehrern gefragt werden willst, wo du so lange warst. Langsam öffnest du die Tür der Mädchentoilette und betrittst den Gang, der zu deinem Klassenzimmer führt. Du zitterst, aber die Panikattacke ist vorbei. Du hast deine Gedanken weggesperrt, zumindest bis du nachts allein bist.Dann wirst du, wie immer, von deinen Freunden, von Bombeneinschlägen und von deinem Leben, wie es einst war träumen. Aber du weisst, dass du jetzt okay sein wirst. Du versuchst dich an einem kleinen Lächeln. Die Tür, die zu deinem Klassenzimmer führt, kommt näher. Du hörst die Stimme deiner Freundin, die dir sagt:
Atme
Du hättest es beinahe vergessen. Dann öffnest du die Tür zu deinem Klassenzimmer und trittst ein.
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