"Anziehungskräfte" – Eine Geschichte von Sophie Omlin - Young Circle

«Anziehungskräfte» – Eine Geschichte von Sophie Omlin

Member Stories 2024

«Anziehungskräfte» – Eine Geschichte von Sophie Omlin

Nach Jahren der Erniedrigung und Verzweiflung steht Veenstra plötzlich vor einer unerwarteten Begegnung: Der Mann, bei dem er um Arbeit bittet, ist ein alter Schulfreund, der ihn nach 15 Jahren wiedererkennt. Doch wird diese Begegnung sein Leben zum Besseren wenden?

Veenstra erinnerte sich an nichts. Das heißt, er erinnerte sich nur an das im fahlen Licht der Laborlampe glitzernde Becherglas, das durch die Luft geflogen war und sein Gesicht mit unzähligen, heftig blutenden Schnitten verziert hatte, an das mächtige Bücherregal mit den wissenschaftlichen Lexika, gegen das er gestolpert war, und an die Fußtritte seines Chefs. Danach war da jedoch nichts mehr, nur noch Dunkelheit und Stille und schließlich das grelle Weiß seines Krankenzimmers. Und nun stand er mitten auf dem überfüllten Marktplatz der Stadt, ganz allein, seine abgewetzten, braunen Schuhe waren so durchgelaufen, dass er jeden einzelnen verschneiten Pflasterstein unter seinen Füßen spüren konnte. Immer wieder stieß ihn jemand weg oder fuhr ihn an, er solle beiseite gehen. All die genervten Reaktionen auf den benommenen Veenstra prallten an diesem ab wie an einer Wand, er blieb regungslos stehen, die beinahe grauen Augen ins Nichts gerichtet. Sein Gesicht hinter der schwarzen, zerkratzten Brille, das am Kinn von kaum sichtbaren Bartstoppeln umrahmt wurde, die die gleiche rotblonde Farbe trugen wie die Locken unter seinem ausgefransten Hut, war durchaus das eines dreißigjährigen Mannes. Der dazugehörige schmächtige Körper mit dem viel zu großen, geflickten Mantel aber ließ ihn wie zwanzig, ja sogar wie einen Teenager wirken. Genau deswegen fiel es anderen Menschen auch so leicht, ihn herumzustoßen und zu schikanieren. Den Schlägen und Beschimpfungen seines ehemaligen Chefs, eines aufbrausenden Wissenschaftlers mittleren Alters, war er aufgrund seiner Tollpatschigkeit und seines schüchternen, wehrlosen Charakters oft zum Opfer gefallen: „Veenstra, bringen Sie mir sofort meine Notizen. Sie können nie etwas anfassen, ohne es kaputtzumachen! Wie oft habe ich mich schon gefragt, warum ich Sie eigentlich eingestellt habe. Stehen Sie nicht heulend herum, Veenstra! Sie sind selbst schuld daran, dass ich Ihnen das Stativ an den Hinterkopf geschlagen habe!“ Wie sehr es den zuvor so lebensfrohen und aufgeweckten Dreißigjährigen zerstört hatte, für dieses grausame Monster von Chemiker zu arbeiten… aber er hatte das Geld nun einmal gebraucht.

Jede Minute, in der der verzweifelte Veenstra auf dem Marktplatz umherblickte wie ein streunender Hund und über sein erbärmliches Leben nachdachte, verging so langsam, dass er glaubte, es müssten Stunden gewesen sein, bis er sich endlich wieder in Bewegung setzte. Unter dem verächtlichen Getuschel der Passanten stellte er langsam einen Fuß vor den anderen, als müsste er lernen, wie man geht. Sein trüber Blick wanderte über die vielen Geschäfte in den Straßen, die alle überfüllt waren mit Angestellten. Wo würde er hier jemals wieder eine Arbeit finden?

Niedergeschlagen, gebückt und fröstelnd trat Veenstra den Heimweg an, in seine kleine, chaotische Wohnung mit der kaputten Heizung, für die er die Miete wahrscheinlich bald nicht einmal mehr bezahlen konnte. Was würde dann aus ihm werden? In seiner Hoffnungslosigkeit hätte er auf halbem Weg beinahe das vom Schnee durchnässte Schild an der Tür eines kalt wirkenden Betongebäudes übersehen, doch im letzten Moment hielt er an und besah sich die Aufschrift. In schwarzen, kursiven Buchstaben standen da die folgenden Worte: „Assistent gesucht! Haben Sie Erfahrung im Bereich Naturwissenschaften und möchten einem jungen, aufstrebenden Physiker zur Hand gehen? Dann melden Sie sich bitte im ersten Stock bei Alejandro Rodriguez, der Sie empfangen wird.“ Veenstra zögerte, er brauchte dringend Arbeit, das stimmte, und dennoch fühlte er sich zu minderwertig, um einfach so einzutreten. Nach langem Überlegen entschied er sich, es trotzdem zu tun, öffnete die mit Eiskristallen übersäte Glastür und lief hastig die Stufen hoch in den ersten Stock. Dort stand ein stämmiger Mann mit schwarzem Haar und Bart an einer Empfangstheke, die ebenso weiß war wie der Schnee draußen auf den Dächern. Das war also Alejandro Rodriguez. Als dieser den abgemagerten Dreißigjährigen erblickte, der triefnass vor ihm stand und ihn darum bat, mit dem Verfasser des Aushangs wegen der Arbeitsstelle sprechen zu dürfen, verzog er herablassend das Gesicht, schubste seinen Gast unsanft vor sich her und brachte ihn zu seinem Chef.

Der Physiker saß in einem Ledersessel hinter einem hölzernen Schreibtisch voller Bücher, Papier und allerlei Gerätschaften, von denen Veenstra die meisten beim Namen kannte. Vermutlich waren sie etwa gleich alt, das dunkelbraune Haar des Physikers glich von der gelockten Struktur her dem seinen. Trotzdem sah er ganz anders aus, denn er trug eine teuer aussehende blaue Weste und war von Kopf bis Fuß sehr herausgeputzt. Sein Gesicht kam Veenstra bekannt vor. „Haben wir einen Bewerber?“, wollte der Physiker von Rodriguez wissen. Dieser schnaubte spöttisch. „Sieht ganz so aus. Aber wollen Sie ihn wirklich sprechen, Chef? Sehen Sie ihn an, wie armselig er daherkommt. Er ist nicht von hier, zumindest klingt er nicht so. Wenn sie mich fragen, ist er Schotte“, lachte er abfällig. Der Physiker warf ihm einen bösen Blick zu und betrachtete dann Veenstra. „Kommen Sie wirklich aus Schottland?“, fragte er, seine Stimme war neugierig und freundlich. Veenstra schüttelte den Kopf. „Ich bin Niederländer“, stammelte er mit gesenktem Blick. Das brachte den Physiker zum Schmunzeln. „Mein bester Freund aus der Schulzeit war auch Niederländer. Gott allein weiß, was aus ihm geworden ist. Vermutlich hat er mit seiner teuren Ausbildung einen großartigen Job in seiner Heimat erhalten“, erzählte er nachdenklich. „Wie heißen Sie denn?“ Veenstra, der überrascht war von der Freundlichkeit des Physikers, musste lächeln. „Mark Veenstra“, antwortete er leise. Aus irgendeinem Grund veränderte sich die Miene des Physikers nach diesen Worten plötzlich, sie wurde ernst. „Ich schaffe ihn weg. Er ist zu ungepflegt für Sie“, knurrte Rodriguez, dem der neue Bewerber überhaupt nicht gefiel, und packte diesen unwirsch am Arm. Das war zu viel für den armen Veenstra, er fiel auf die Knie und brach zitternd in Tränen aus. „Nein“, flehte er, „bitte nicht. Ich brauche diese Arbeit, ich kann mich doch kaum noch durchschlagen…“ Besorgt sprang der Physiker auf, kniete sich zu dem schluchzenden Niederländer und legte ihm den Arm um die Schultern. „Nicht weinen. Alles wird gut. Raus, Rodriguez! Ich glaube nämlich, den Mann zu kennen, den ich hier nach fünfzehn ungewissen Jahren in meinem Arbeitszimmer wiedersehe… jedoch hatte ich gehofft, der liebe Gott hätte einem so wundervollen Menschen ein besseres Leben geschenkt. Was ist nur mit dir geschehen, alter Freund?“

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