"Anwen, die Hoffnungsvolle" – eine Geschichte von Robin Schläpfer - Young Circle

«Anwen, die Hoffnungsvolle» – eine Geschichte von Robin Schläpfer

Member Stories 2022

«Anwen, die Hoffnungsvolle» – eine Geschichte von Robin Schläpfer

Innerhalb der Dorfgemeinschaft breitete sich Verzweiflung aus. Man fürchtete sich vor dem kommenden Winter, der ohne Vorräte schwierig zu überstehen sein würde. Im Haus des Dorfältesten errichtete man ein provisorisches Lebensmittellager.

«Lass mich dir eine Geschichte» erzählen sagte Grossmutter in ihrer gütigen Stimmlage.

Es war Abend und die Ärzte waren vor kurzem gegangen. Auf dem abgedunkelten Gang konnte ich die Schritte der Nachtschwester hören. Laut den Vorschriften des Krankenhauses hätte ich um diese späte Stunde gar nicht mehr bei ihr sein dürfen. Der behandelnde Arzt war jedoch nachsichtig gewesen. «In diesen letzten Tagen ist es wichtig, dass ihr jemand Gesellschaft leistet, da lassen sich die Regeln auch einmal verbiegen», hatte er mit dem Anzeichen eines Lächelns gemeint. «Was denn für eine Geschichte, Grossmutter?», fragte ich und wendete mich ihr zu. «Eine Geschichte aus meiner Kindheit. Für manche mag sie wohl eher als Märchen zu verstehen sein, doch für mich besass sie immer einen Funken Wahrheit.» Mit dem Geschichtenerzählen hatte Grossmutter einige Wochen nach der Diagnose begonnen. Brustkrebs im letzten Stadium. Das war nun 3 Monate her. Damals hatte Grossmutter noch in ihrem Haus in der Nähe des Waldes mit den weissen Gardinen, den roten Ziegeln und dem kleinen Kräutergarten wohnen können. Dennoch hatte ich mehrmals in der Woche nach ihr gesehen. Immer wieder erzählte sie mir eine neue ihrer vielen Geschichten. «Ich würde deine Geschichte liebend gerne hören Grossmutter», sagte ich nun. Eng in eine Decke geschlungen sass ich auf einem alten Ledersessel zur Linken ihres Krankenbettes. Grossmutter liess sich tiefer in ihr Kissen sinken und begann mit den folgenden Worten:

«Diese Geschichte erzählte man sich zur Zeit meiner Vorfahren. Anwen war ein wunderhübsches Mädchen. Sie hatte tiefblaue Augen, in denen sich die Wellen der Küstenufer spiegelten und so helles, blondes Haar, dass es im Sonnenlicht fast weiss schien. Ihr Lachen war derart rein, dass es jeden Dorfbewohner, ob jung oder alt zum Schmunzeln brachte. Diese hatten in dieser Zeit leider nicht viel zu Lachen. Aufgrund grosser Überfischungen in den umliegenden Gewässern, waren die Fischbestände drastisch zurückgegangen. Kaum welche verirrten sich noch in die Netze der Fischer. Ihre Boote trugen sie immer weiter auf das offene Meer raus, um noch eine geeignete Stelle zu finden. Doch am kommenden Tag befanden sich nur vereinzelte, kleine Forellen in den Netzen. Die Ernteerträgnisse waren aufgrund fehlenden Regens ebenfalls zurückgegangen. Innerhalb der Dorfgemeinschaft breitete sich Verzweiflung aus. Man fürchtete sich vor dem kommenden Winter, der ohne Vorräte schwierig zu überstehen sein würde. Im Haus des Dorfältesten errichtete man ein provisorisches Lebensmittellager. Jedoch gingen auch diese Vorräte bald zu Ende. Die Menschen begannen egoistische Züge zu zeigen. So etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl verflüchtigte sich nach und nach. Einen Nachbarn, den man zuvor noch jeden Morgen freundlich gegrüsst hatte, achtete man nun mit misstrauischen Blicken, denn man konnte nie wissen, ob nicht genau dieser Nachbar einem die letzte Mahlzeit für den eigenen Verzehr stehlen würde. Obwohl anfangs hoffnungsvoll, verlor auch Anwen mit jedem vergehenden Tag, den Glauben an ein gemeinsames Aufraffen. Sie hörte von der Legende. Einer Legende von einem weissen Hirsch, der in den lokalen Wäldern beheimatet sein soll. Dieser Hirsch solle Wunder vollbringen können und diese den Menschen zugutekommen lassen, welche sich als würdig erwiesen. Anwen fasste durch diese Erzählung neuen Mut. Eines Tages schlich sie heimlich von zu Hause fort, um den Hirsch zu besuchen. Es war keinesfalls eine einfache Reise. Die Wälder waren sehr dicht bewachsen und in der Dunkelheit konnte man kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Sie suchte den ganzen Tag. Letztendlich fand der Hirsch sie. Der trockene Waldboden wurde durch sein strahlendes, weisses Fell erleuchtet und zu Anwens Erstaunen sprach er mit einer tiefen menschenähnlichen Stimme. Sie sank vor ihm auf die Knie und schilderte ihr Anliegen. Der Hirsch lauschte ihren Erzählungen mit erhobenem, geweihbestücktem Kopf.

Als sie geendet hatte sprach er: «Ich werde mich deiner annehmen, jedoch nicht ohne Tribut. Was kannst du mir im Gegenzug für die Lösung deines Problems anbieten?» «Alles, ich würde dir alles geben, damit es den Menschen wieder besser geht.» «Nun gut», antwortete der Hirsch, «Dann werde meine Untergebene. Sorge dafür, dass diese Wälder weiterhin von den Menschen geachtet und geehrt werden. Führe sie auf den richtigen Pfad.» Am nächsten Tag, als die Fischer mit ihren Booten rausfuhren, um die Netze einzuholen, staunten sie nicht schlecht, als diese zum Bersten gefüllt waren mit sich tummelnden Fischen. Auch in den folgenden Tagen und Wochen wiederholte sich das Geschehene. Bald schon hörte man die Kinder in den Gassen lauthals lachen, während sie sich über die staubigen Wege hinweg jagten. Man traf sich wieder mit Nachbarn und Verwandten zum gemeinsamen Abendessen bei Sonnenuntergang. Es gab ein grosses Fest, für das die Dorfmusiker ihre Instrumente hervorholten. Der weisse Hirsch kam eines Abends in das Dorf, Anwen sitzend auf seinem Rücken. Die Dorfbewohner rissen vor Erstaunen die Augen und Münder auf. Sie alle fragten sich, wer dieses wunderschöne Mädchen an der Seite des Hirsches war. Keiner konnte sich noch an ihren Namen erinnern oder daran, dass sie einst unter ihnen gelebt hatte. Der Hirsch hatte ihre Erinnerungen an sie ausgelöscht. Anwen war nun ein guter Geist des Waldes. Die Menschen ehrten sie durch Gaben, wie Kleidung. Sie wurde zur Dorfheiligen erklärt. Da man sich an ihren wirklichen nicht mehr erinnern konnte, gab man ihr den Namen Anwen, die Hoffnungsvolle.»

«Das war eine wundervolle Geschichte Grossmutter», meinte ich, nachdem Grossmutter geendet hatte.» «Ja, das ist sie wohl. Denk daran liebes, was auch immer geschehen mag. Sei eine Situation noch so aussichtslos. Es gibt immer einen kleinen Hoffnungsschimmer und Menschen, welche dir helfen aus dieser Situation herauszufinden. Denk immer daran….» Grossmutter hatte die Augen geschlossen. Aus Müdigkeit dachte ich anfangs, doch dann ging der Alarm des medizinischen Gerätes, an das sie angeschlossen war, los. Ein lautes Piepsen durchbrach die Stille. Auf dem Bildschirm zeigte sich eine lange, flache Linie. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich liess mich vom Sessel gleiten, warf die Decke ab und sank auf die Knie. Ich griff nach Grossmutters warmer Hand und legte sie in meine. Sanft streichelte ich mit meinem Daumen über ihren Handrücken. «Ich werde daran denken», sagte ich leise. Dann hörte ich die sich nähernden Schritte der Schwester.

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