"Antarktiseis" – Eine Geschichte von Emma Zweimüller - Young Circle

«Antarktiseis» – Eine Geschichte von Emma Zweimüller

Member Stories 2024

«Antarktiseis» – Eine Geschichte von Emma Zweimüller

In diesem Text reflektiert die Protagonistin ihre Trauer und den Verlust ihres Freundes Gab, der nach einem Autounfall verstorben ist. Sie fühlt sich entfremdet von ihrer Kunst, die früher gemeinsam mit ihm entstanden ist, und ringt mit der Bedeutung von Träumen und symbolischen Erinnerungen.

Eine Person ohne Kopf spricht…

«Stop-»

Alles ist zu leise, Watte verpackt die schmerzhaften Farben.

Bin ich die Farben oder sind das letzte Farbspritzer vor dem Tod?

Eine Jacke ohne Kopf spricht…

«K-k-k-k-a-a-a-a-a-a-l-l-t-t-t-t », stottert sie, während meine Lippen blau anlaufen, um mich ist Eis, vielleicht Packeis aus dem Chemieunterricht von früher, vielleicht richtiges, echtes Gletschereis, Antarktiseis…

Ein Magazin ohne Kopf spricht…

«Was wir wirklich meinen.»

Echos hallen, es sind Magazincoverfrauen, schön, makellos, nicht echt, sondern so verzerrt…

Irgendjemand musste mir sagen, dass es normal war, in abstrakt zu träumen.

Meine beste Freundin würde mir jetzt in ihrer besonnen Ich-Verbringe-Meine-Zeit-Am-Liebsten-Alleine-Zuhause-Art versichern, dass wiederkehrende Träume immer etwas bedeuteten und ich seit Wochen Mitteilungen von mir an mich ignorierte.

Und vielleicht hatte sie Recht.

Schliesslich war ich darin ungeschlagen.

Im Alles-Zulassen, weil Kunst so funktionierte, aber eigentlich doch alles anders zu meinen.

Nur waren Träume vielleicht auch bedeutungslos, immerhin platzte meiner mit jedem gemalten Bild von Neuem.

Denn Gab komplettierte meine Bilder nicht mehr. Seit seinem Autounfall fühlte sich jeder Pinselstrich leer an.

Pfirsichrot, Limettengrün und Babyblau. Schmerzfarben, die ich nicht mehr verwenden wollte, weil es Gabs Farben waren und er sie nicht mehr verwenden konnte.

Eigentlich wusste ich immer genau, was ich malen musste.

Ich sah die Leinwandbilder bereits fertig vor mir, während Pinsel zur Notwendigkeit wurden. Ausserdem wusste ich, dass alle meine Bilder liebten. Ich sah es an den neidischen Blicken und dem anerkennenden Nicken von Dozent*innen.

So ehrlich. Gewagt. Direkt. Direkt in’s Herz.

Meine Kunst war vor allem echt.

Abstrakt, schwarz-weiss, aber voller Gefühl.

Wenige Farben, die dafür Bedeutung bekamen.

Was jedoch niemand sah, war, wie falsch es sich anfühlte.

Das Malen allgemein, aber vor allem diese Bilder. Natürlich wollte ich Gefühle auslösen, doch das hier war nicht meine Kunst.

Es war unsere, Gabs und meine.

Ich hatte farblose Schatten gemalt, Gab die Farbtupfer.

Deshalb konnte ich so nicht weitermachen.

Weil von aussen niemand sah, dass ich mich von meiner Kunst verlassen fühlte, auch wenn ich meinem Therapeuten beinahe jeden Tag davon erzählte.

Ich wusste, dass ich heute doch nicht malen würde, also verliess ich die Kunstuniversität nach zwanzig Minuten wieder.

Und obwohl ich mich durch diese Entscheidung leichter fühlte, sagte ich mein eigentlich bevorstehendes Date ab.

Ich hatte mich zwar wirklich darauf gefreut, Finn, 22, ein bisschen verpeilt kennenzulernen, doch die Trauer war heute stärker als sonst, weshalb ich das Treffen lieber um einen Tag verschieben wollte.

Damit ich nicht, völlig in Gedanken festhängend, kein Wort herausbekäme, weil alles sich zu schwer anfühlte.

Wieder spricht eine Jacke ohne Kopf – zumindest denke ich das für einen kurzen Moment.

Bis ich sehe, wie sie sich im Dunkeln an einen Körper schmiegt.

Ein Junge und ein Mädchen sitzen nebeneinander, ihre Umrisse deutlich erkennbar.

Sie erinnern mich an erste Dates mit fünfzehn und unbeholfene Gespräche.

Es ist warm.

Bis es das plötzlich nicht mehr ist.

Antarktiseis schwebt als eisige Schollen durch die Luft.

Alles wird kalt, nicht sehr, aber genug.

Es ist ziemlich dunkel, doch ich erkenne die Gänsehaut trotzdem.

«Ganz schön kalt.» Die Worte des Mädchens klingen irgendwie falsch in meinen Ohren.

Das ist nicht, was sie eigentlich meint, flüstern Stimmen in meinem Kopf.

Doch der Junge weiss, was sie eigentlich meint.

Wie in einem der unzähligen High-School-Drama-Filme legt er ihr seine Jacke um die Schultern.

Das Mädchen lächelt.

Sie hat genau das erreicht, was sie wollte.

Kurz meine ich, dass sie nun plötzlich weint, weil ihre Schultern beben.

Aber ich glaube, dass eigentlich ihre neue Jacke weint.

Sie vergiesst Tränen, die zu Bächen werden, zu Flüssen, dann zu einem See.

Ein See mit darauf treibenden Arktiseisschollen.

Leichte Nervosität machte sich in mir bemerkbar, als ich ihn erkannte.

Finn war Sommersprossen und sonnengebleichtes Haar, ein bisschen zu viel Parfüm und ein schlichtes Lächeln.

Nach einer kurzen Umarmung, bei der ich mich leicht nach unten beugte und netten ersten Worten fühlte ich mich schnell wohl.

Auch während wir durch das von mir ausgesuchte Museum schlenderten, verhielt Finn sich offen und interessiert, ohne dabei verkrampft zu wirken.

Ich fragte mich, was er wohl sah.

Den melancholischen Blick, den mir immer alle nachsagten oder meine wirren Locken.

Vielleicht auch, dass Lautsein oft im Stillen zu meiner Stärke gehörte, weniger verbal als vielmehr mit Pinseln.

Oder dass ich mich immer wieder ein bisschen zu sehr in Bildern verlor.

Plötzlich bekam ich das Gefühl, mich umdrehen zu müssen.

Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht mehr auf die Ausstellung geachtet hatte.

Doch als ich nun dieses Bild vor mir sah, weckte es eine entfernte Erinnerung.

Das Bild zeigte eine Jacke, die wie Wachs zum unteren Bildrand tropfte.

Ich dachte an meinen Traum.

Und da wusste ich es.

Einfach so.

Meine Kunst.

Denn langsam aber sicher drehte ich mich in einem Kreisel aus Situationen, die daraus resultierten, dass uns beigebracht wurde, dass Frauen nicht wirklich meinten, was sie sagten.

Und dass man sie deshalb nicht immer ernst nehmen musste.

Das Mädchen, welches nicht nach der Jacke fragte, weil es das so gelernt hatte und der Junge, der deshalb annehmen musste, sie wolle seine Jacke.

Ein Magazin mit der Überschrift «Was Frauen sagen und was sie eigentlich damit meinen – Datingtipps», die Worte «Du willst es doch auch» und immer wieder dieser Dialog

«Mir ist kalt.»

«Willst du meine Jacke nehmen?»

Darüber, dass mir all die Situationen irgendwie vertraut vorkamen, dachte ich nicht mehr nach. Vielmehr konzentrierte ich mich auf die Wut und die Kunst, durch die ich wütend sein und auf das Thema aufmerksam machen konnte.

Weil es das Wichtigste war, frei zu sagen, was man dachte.

Ich wusste das spätestens seit dem Tod meines besten Freundes.

Und ich wollte andere Frauen dazu anregen, ihre ehrlichsten Wahrheiten auszusprechen.

Die Initiative zu ergreifen.

Sich zu nehmen, was sie wollten.

Voller Aufregung erklärte ich Finn, was mich so abgelenkt hatte.

Und als wir später zwischen gelöstem Lachen und etwas zu verletzlichen Gesprächen durch die Nacht wanderten, fragte ich Finn, ob ihm kalt sei.

Meine Lederjacke stand ihm ausgezeichnet. 

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