"Ankommen" – eine Geschichte von Emma Zweimüller - Young Circle

«Ankommen» – eine Geschichte von Emma Zweimüller

Member Stories 2022

«Ankommen» – eine Geschichte von Emma Zweimüller

Mein Atem schwebt als weisse Wolke in der Luft, meine Gedanken fühlen sich fluffig und leicht an. Endlich sehe ich sie. Überall würde ich Ayota erkennen. Wie so oft trägt sie eine tief sitzende Jeans und ihre heissgeliebte Lederjacke mit der knallroten Aufschrift „Révolution“.

Als mein Wecker klingelt, ist es früh. Viel zu früh. Zumindest für andere Siebzenjährige an einem Sonntagmorgen. Doch ich stehe immer früh auf. Setze mich mit schweissnassen Händen an den Schreibtisch, eng in eine Decke gekuschelt, um Halt zu haben. Verträumt folge ich den herbstroten Blättern, die langsam im Wind tanzen und sanft auf die nassen Pflastersteine treffen.  Was gibt es Schöneres, als solcher Herbstregenpoesie zu lauschen? Doch meine Ablenkung währt nicht lange. Dann verstecke ich mich wieder. Baue Mauern um mein geschundenes Herz, das immer weiter zergeht, als würde es von Säure zersetzt. Das Licht des Bildschirms blendet mich. Grell. Weiss. Unnatürlich. Ich wünschte, meine Freundin wäre jetzt bei mir. Aber natürlich nicht zu dieser Uhrzeit. Und schliesslich steht der Herbst für Veränderung. Alles fliesst, färbt, wandelt sich. Vielleicht würde ja auch ich endlich eine Veränderung spüren. Und dann suche ich ihn. Wie immer.

„Du solltest wirklich damit aufhören.“ Seufzend drehe ich mich um und sehe Finn, der entspannt im Türrahmen lehnt, sein Dauerschmunzeln im Mundwinkel.

„Ich weiss, ich weiss. Aber… ich will eben trotzdem Gewissheit.“

„Mach nicht soviel davon abhängig. Du hast liebende Menschen um dich. Und er gehört nicht dazu. Aber das muss er auch nicht. Weil du ihn nicht brauchst.“ Sonenscheinfinn mit seinen schwarzen Locken und so korrekten Worten. Doch trotzdem ist da etwas in mir, tief verborgen, das ihm nicht glaubt.

„Ausserdem hast du immer noch mich“, zwinkert er. Mit Schwung werfe ich ein Kissen nach ihm. „Ich habe einen eingebildeten Idioten zum Bruder“, stöhne ich. Dafür hat Finn nur ein spöttisches „Pff“ übrig. „Wir essen in fünf Minuten, beeil dich“, informiert er mich. Dann trampelt er lautstark die Treppe hinunter.

Gehetzt versuche ich, meine Boots anzuziehen, veranstalte dabei aber eher eine Art merkwürdigen Tanz.

„Ayota wird dich hassen!“, flötet Finn, der völlig entspannt seine Cornflakes löffelt. Meine Antwort ist bloss ein lautes Fluchen, als ich stolpere und mein Ellbogen an der Wand entlangschrammt.

„Sie kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen“, stichelt mein Bruder weiter. 

„Warum denkst du eigentlich, dass du mehr über meine Freundin weisst als ich?“ Er zuckt mit den Schultern und grinst mich frech an. „Ich weiss nur, was jede*r weiss.“

„Mir das unter die Nase zu reiben, bringt jetzt auch nichts mehr“, entgegne ich genervt und zerre an dem Reissverschluss meiner Schuhe. Endlich bin ich bereit – ein Wunder, dass meine gemusterte Strumpfhose kein Loch bekommen hat. Mit einer blitzschnellen Bewegung wuschle ich Finn durch die Haare, der mir kommentarlos seinen beringten Mittelfinger entgegenstreckt. Dann bin ich auch schon weg.

Mein Atem schwebt als weisse Wolke in der Luft, meine Gedanken fühlen sich fluffig und leicht an. Endlich sehe ich sie. Überall würde ich Ayota erkennen. Wie so oft trägt sie eine tief sitzende Jeans und ihre heissgeliebte Lederjacke mit der knallroten Aufschrift „Révolution“. Sie winkt aufgeregt und ihr Lachen schickt ein Kribbeln durch meinen gesamten Körper. Sicherheit überkommt mich in ihrer Umarmung, mein Herz pocht fast schon schmerzhaft gegen meine Rippen. Ihre dunkelroten Lippen nähern sich meinen und ich versinke in dem Augenblick. Zergehe.

„Herbstoutfits stehen dir“, murmelt sie an meinem Ohr. Ihre Hände gleiten über meine stoffbedeckten Arme, umfassen sanft meine Hände. Dann schlendern wir durch die Stadt, atmen Oktober und Freiheit und Leben. Tausend Gedanken wirbeln in meinem Kopf, doch es sind wunderschöne Erinnerungen und wundervolle Worte, die ich auf meinem Handy festhalte:

Zwischen warmen Lachgesprächen und Kribbelgedanken ein kleines bisschen Heilung.

Ayota linst mir neugierig über die Schulter, ihr herbes Parfum benebelt meine Sinne. „Dein Kopf ist Poesie, Muna.“ Dieser liebevolle Blick und ihre Worte bedeuten mir alles. Vor allem jetzt, wo ich doch so oft von den Gedanken überwältigt und überfordert bin, die sich wie Schlangen in meinem Kopf winden. Entspannt lehne ich mich an sie, schliesse meine Augen und fühle die Geborgenheit, als sie einen leichten Kuss auf meinen Scheitel haucht.

Ayota sieht so sorgenfrei aus, wenn sie schläft. Wir sind, noch im Moment schwimmend, nach Hause gekommen, kichernd und küssend. Mittlerweile ist es drei Uhr, die Nacht hat sich sanft um meine Freundin geschlungen. Nur ich bin noch wach. Denn meine Gedanken sind zurückgekehrt, dieses Chaos von Gefühlen. Wut, Zorn, Schmerz. Ich weiss nicht, wie ich weitermachen soll, wie ich existieren soll. Wieder der Bildschirm. Ich suche, suche, suche. Wie in einem Rausch hämmern meine Finger auf die Tasten. Ich habe das Gefühl, erstickt zu werden. Doch da entdecke ich etwas. Meine Hände zittern und meine Augen brennen, als sie Zeile für Zeile über den Text huschen. Und dann, so plötzlich, suche ich nicht mehr. Kein grosser Knall, keine laute Explosion. Höchstens ein unspektakuläres Plopp. Ich finde endlich, endlich diesen einen Hinweis, der mir so viel bedeutet hat. Und doch ist da nichts. Keine Aufregung. Kein Glück. Kein Frohsein und erst recht kein Freisein. Nur gleichgültig starre ich auf einen Namen. Buchstabe reiht sich an Buchstabe. Ein Wort. Trotzdem so unglaublich nichtssagend, ohne Botschaft. Keine Antwort. Keine Erklärung und keine Anleitung. Wer bin ich? Wo ist er? Ich bin wie gelähmt. Kein Höhepunkt. Nicht einmal ein weiterer Tiefpunkt.

Jamie.

„Wie immer“ hat ein Ende, das Suchen, das Warten. Nur nicht das Ankommen. Einen Moment lang verliere ich mich. Werde in einen Abgrund gestossen, befinde mich im freien Fall. Ich habe das Gefühl, dass etwas in mir reisst, vielleicht auch zerbricht. Ich falle, falle, falle. Es scheint keinen Boden zu geben, nichts, was mich auffängt. Doch dann blicke ich zu Ayota, erinnere mich an Finns Worte, denke an mein Leben. Und plötzlich ist da auch ein neuer Gedanke. Gerade noch leise und ungesehen, jetzt doch so unglaublich präsent. Schreiend. Meinen Kopf vollständig einnehmend. Es ist egal, wie mein Vater heisst. Er ist nicht da. Er war nie wirklich für mich da und er wird es auch nie sein. Nur eine schöngeredete Erinnerung, ein Wunsch, vielleicht auch eine Hoffnung. Die Hoffnung, gerettet zu werden. Nur…Vielleicht muss ich mich selbst retten. Meine Existenz nicht mehr in Frage stellen und anfangen zu leben. „Wie immer“ töten, ihn vergessen, mich erschaffen. Denn egal ob Jamie, Leo oder Parker. 

Ich bin ich. 

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