"Angst ist wie Blut. Blut ist rot." – Eine Geschichte von Sarina Gygi - Young Circle

«Angst ist wie Blut. Blut ist rot.» – Eine Geschichte von Sarina Gygi

Member Stories 2024

«Angst ist wie Blut. Blut ist rot.» – Eine Geschichte von Sarina Gygi

In dieser Geschichte sitzt eine Person neben ihrem schwerverletzten Freund Juri im Krankenwagen und wird von Angst und Schuldgefühlen überwältigt, während Ärzte um sein Leben kämpfen. Die verzweifelte Protagonistin reflektiert, wie sie sich machtlos fühlt und beginnt, in schmerzhaften Gedanken zu versinken, dass sie Juri nicht genug geholfen hat – und sich nicht mit seinem Tod abfinden kann.

Ich habe Angst.

Angst, dass wenn sein Herz stehenbleibt, dass es dann vorbei ist. Dass alles umsonst gewesen ist. Und dass mein Herz dann auch stehen bleiben könnte.

Jedes Mal, wenn die stetig auf und absteigenden Sinuskurven auf dem Monitor abflachen und das Warnsignal ertönt, tut mein Herz einen Sprung und hört für ein paar Sekunden auf damit, Blut durch meinen Körper zu pumpen. Keine Ahnung, wie lange es noch dauert, bis es nicht mehr von selbst weiterschlagen würde, sondern ich umkippe und man mich neben Juri auf die Trage legt.

Die Zeit will nicht vergehen. Und tut es doch viel zu schnell. Ich weiss nicht, wie lange wir nun schon fahren. Es könnten Stunden aber auch nur Minuten sein. Keine Ahnung. Ich bin mir dessen schon lange nicht mehr bewusst, weil ich die Herzschläge auf dem Monitor zähle und nicht die Sekunden auf meiner Smartwatch.

Da ist Blut.

Überall ist Blut. Blutrotes Blut. Viel zu viel davon. Juri hat so viel Blut verloren, dass er meiner Meinung nach schon längst leergelaufen sein müsste. Wie viel Blut hat ein Mensch überhaupt? Und wie viel davon darf er verlieren, damit er noch überleben konnte?

Zum allerersten Mal in meinem Leben bereue ich, dass ich nicht Medizin studiere, sondern Kunst. Kunst bringt mir in diesem Moment nichts. Mit Kunst kann ich nichts bewirken. Mit Kunst bin und bleibe ich hier im Krankenwagen nutzlos auf dem Klappstuhl sitzen, während die Ärzte um mich herum hitzige Diskussionen führen und versuchen, das Leben meines Freundes zu retten. Und ich bin nicht fähig, etwas zu tun, ausser hier zu sitzen und mir zu überlegen, mit welcher Technik man mit Blut ein Bild auf eine Staffelei malen könnte.

Blut ist ähnlich wie Aquarellfarbe.

Nein, nicht Aquarellfarbe. Guachefarbe. Die ist dicker und deckender als Aquarellfarbe.

Dick und deckend wie Juris Blut.

Der Monitor gibt ein schrilles Geräusch von sich. Mein Herz tut einen Sprung. Ich fühle mich dazu verleitet, ihn anzuschreien, dass er aufhören soll. Dass dieses verdammte Gerät endlich aufhören soll, mir zu sagen, dass Juri in Lebensgefahr schwebt.

Ich bin nicht dumm. Ich sehe selbst, dass er in Lebensgefahr schwebt. Ich weiss, dass er jeden Augenblicks sterben kann und alles, was ich tun kann, ist hier zu sitzen, hier sitzen zu bleiben und mir zu überlegen, welche Muster und Ornamente ich mit all dem dicken, roten Blut auf der Trage auf das schneeweisse, leblos wirkende Gesicht von Juri zeichnen könnte, dass einen krassen Kontrast zu seinen fast schwarzen Haaren mit den flaschengrünen Haarspitzen bildet.

Rote Farbe würde diesen Kontrast nur noch zusätzlich verstärken. Rote Farbe würde der grausamen Szene den letzten Schliff verpassen und ein Bild kreieren, dass dem Betrachter durch Mark und Bein geht.

Der Tod des Marat, kommt mir in den Sinn und ich sehe Juri an, wie Jaques-Louis David sich die Leiche des Marat angesehen haben muss und denke mir, dass er nicht sterben darf. Er darf verdammt nochmal nicht sterben. Weil ich verdammt nochmal nicht dazu bereit bin, das Bild eines toten jungen Mannes zu malen, der sein Leben noch vor sich hat, und alles andere als tot sein soll. Der zwar vom Weg abgekommen ist, aber verdammt nochmal nicht einfach sterben darf, wenn das verdammte Leben endlich begonnen hat, ihm den richtigen Weg zu weisen. Der verdammt nochmal nicht aufgrund der Tatsache sterben darf, dass das hier meinetwegen passiert ist und ich nicht früh genug gecheckt habe, was abgeht.

Er selbst ist unglaublich begabt darin, Blut zu malen. Den Tod. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass es nur diese Begabung ist, die ihn mit dem Tod verbindet. Nun weiss ich, dass da mehr ist und es könnte schon zu spät sein.

Ich werde sterben, wenn er stirbt.

Weil ich nicht mit der Schuld werde leben können, die ich mir an seinem Tod geben werde.

Weil ich nicht genug getan habe.

Weil ich es nicht versucht habe.

Weil ich wie alle anderen blindlings darauf vertraut habe, dass alles gut werden würde, wenn man Juri in den Bilderrahmen zu pressen versucht, wo alle Menschen ihn sehen wollen.

Aber Juri passt in kein Bild. Er wird es niemals tun und dass soll er auch nicht. Er würde sich eher schreddern lassen, wie das Bild des Mädchens mit dem roten Ballon von Banksy, als sich in diesem Bilderrahmen festnageln zu lassen.

Und nun, da ich das endlich begreife, da ich endlich begreife, dass auch ausserhalb des Rahmens genug Platz für Menschen wie Juri ist, droht er, völlig von der Bildfläche zu verschwinden.

Das Leben ist verdammt nochmal unfair zu allen, die nicht in ein Raster passen.

Hier geht es zu den weiteren Member Stories:

Bewertung