Mit leisen, aber sicheren Schritten steige ich die metallene Feuerleiter an der Aussenwand des alten Hochhauses hoch. Jede Stufe knarzt unter mir, als könnte sie jederzeit nachgeben. Ein kühler Windhauch streift über meine Haut, bringt den Geruch von feuchtem Asphalt und Zigarettenrauch mit sich, während ich weiter nach oben steige. Es ist nicht mein Zuhause, dieses Hochhaus. Ich gehöre nicht in diesen Stadtteil, nicht mehr. Früher war ich oft hier, zusammen mit meinem besten Freund. Früher, als wir noch Kinder waren. Aber warum wir ausgerechnet dieses Gebäude ausgesucht haben, weiss ich nicht mehr genau. Vielleicht, weil man von hier aus beide unsere Häuser sehen konnte – seins direkt nebenan, meins weiter weg, kaum mehr als ein kleiner Fleck am Horizont. Oder vielleicht, weil wir immer auf der Suche nach etwas Neuem waren, nach einem Ort, der nur uns gehörte. Und dieser Platz wurde zu unserer geheimen Dachterrasse.
Oben angekommen, umfängt mich die Stille der Nacht, die kurz vor dem Erwachen steht. Der Himmel ist noch tiefschwarz, doch am Horizont zeichnet sich bereits der erste, schwache Sonnenschein des nahenden Morgens ab. Mit einem vertrauten Schwung setze ich mich auf die kleine Mauer am Rand des Dachs, lasse meine Beine über dem Abgrund baumeln. Unter mir bewegen sich die Lichter der Autos als winzige, flackernde Punkte.
Ich greife in meine Hosentasche und ziehe ein zerknittertes Notizpapier heraus. Wie oft er das wohl geschrieben hat? Wie oft er wohl seine Worte wieder verworfen hat und neu begonnen hat? Ich schätze ungefähr so oft, wie ich diesen Brief durchgelesen habe. Zu oft.
Ich öffne das Papier, lese seine Worte erneut durch.
Hey Ayla,
Ich habe lange überlegt, wie ich anfangen soll. Es fühlt sich irgendwie alles falsch an, was ich schreibe. Nach nicht genug. Es tut mir so leid. Wirklich. Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen dürfen. Die ich nicht hätte sagen wollen. Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, ich war einfach überfordert. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, als du mir erzählt hast, dass du wegziehst. Ich wusste, dass du angenommen wirst, an dieser Uni. Ich wusste du würdest es schaffen. Aber insgeheim hatte ich gehofft, du würdest es nicht. Nicht weil ich für dich nicht wollte, dass du es schaffst. Ich wollte dich einfach nicht loslassen. Ich habe Angst, dass ich dich so verliere. Du bedeutest mir wirklich sehr viel, ich hoffe das weisst du. Und ich hoffe du kannst mir verzeihen.
Lass uns reden, wenn du bereit bist. Ich werde da sein, du weisst wo.
Leise Tränen kullern mir die Wangen runter. Ich hatte ihm schon längst verziehen. Ich wusste, dass er mich nur nicht verlieren wollte. Ich wollte ihm doch nur ein bisschen Zeit geben, das alles zu verarbeiten. Dieser Brief ist alles, was mir noch von ihm bleibt. Ich kann einfach nicht glauben, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Dass unser Streit das letzte war, was wir miteinander geredet haben. Dass er gegangen ist, ohne zu wissen, dass ich ihm längst verziehen hatte. Dass ich nie wirklich wütend auf ihn war, jedenfalls nie für lange.
Irgendwie hoffte ich, dass er einfach auftauchen würde. Dass es ein Missverständnis war. Dass alles gut werden könnte, wenn ich nur lang genug warte. Doch jetzt, je länger ich hier sitze und er nicht auftaucht, desto realer wird es. Er kommt nicht mehr zurück. Es ist wirklich wahr, was sie gesagt hat.
Ein leises Schluchzen entweicht mir, als die Realität mich vollends trifft. Der Unfall. Er. Weg. Für immer. Ich umklammere den Brief fester, als ob er mich noch mit ihm verbinden könnte, als ob seine Worte ihn irgendwie wieder lebendig machen könnten. Aber nichts kann das. Keine Worte. Keine Tränen. Kein Warten.
Der Himmel über mir wird langsam heller, die Sonne steigt immer höher. Der Anbruch eines weiteren Tags, als wäre nichts geschehen. Als hätte dieser Nachricht nicht mein ganzes Leben verändert. Die Stadt erwacht unter mir. Aber ich fühle mich, als wäre die Zeit stehen geblieben. Wie kann die ganze Welt einfach weitermachen, während meine zusammenbricht?
Meine Tränen fliessen unaufhaltsam, die Schuld, der Schmerz überwältigen mich. Hätte ich ihn nicht warten lassen. Hätten wir uns nur ausgesprochen. Vielleicht wäre er dann nicht in dieses Auto gestiegen. Vielleicht wären wir dann hier oben gewesen. Hätten miteinander spass gehabt. Die Sonne geht auf, als würde sie nichts von dem wissen, was ich verloren habe. Ein weiterer Tag beginnt, gleichgültig meiner Trauer, meinem Schmerz. Ich sehe die goldenen Strahlen am Horizont, die die Stadt in sanftes Licht tauchen, und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich weine um meinen besten Freund, den ich verloren habe, ohne mich verabschieden zu können. Weine, weil ich ihn warten liess. Weine, weil die Welt einfach weitermacht, während meiner Welt die Zeit gestoppt wurde.
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