Riven
Worte haben Macht. Das hatten sie schon immer. Sie sind weder gut noch böse und trotzdem beides. Irgendwie. Sie verletzen, können aber auch heilen, können lügen, enttäuschen und Hoffnung schenken. Worte sind Waffen, mit denen wir Menschen um uns schießen meist blind und unbedacht, nicht verstehend, wie zerstörerisch sie ist. Es gibt Tage, da fühle ich mich, als würde ich durch einen Wald voller Dornen gehen. Laufe ich stur gerade aus und achte bloß auf mich selbst lassen sie mich unversehrt, doch sobald ich ihnen Aufmerksamkeit schenke, finden sie irgendwo eine Lücke in meinem Panzer. Dann sind sie gnadenlos. Die Dornen. Das Geflüster, die Blicke und das Gekicher, gilt es etwa mir? Jede Nacht liege ich wach und denke darüber nach, wie zum Beispiel jetzt gerade. Riven bedeutet „zerrissen“. Meine Eltern schätzen die Bedeutungen von Worten nicht. Ihnen ist der Klang wichtiger. Leise lachend drehe ich mich auf die andere Seite und suche nach kühlen Stellen der Decke, um meine Füße darin zu vergraben. Der Gedankenwirbel kommt langsam zum Stillstand.
Althea
Bücher. Überall Bücher. Sie stapeln sich in und auf den Regalen. Noch nie habe ich eine unordentlichere Bibliothek gesehen und ich liebe sie von ganzem Herzen. Lächelnd fahre ich mit den Fingerkuppen über die Buchrücken, von denen keiner aussieht wie der andere. Jedes dieser Werke ist absolut einzigartig und es wert, gelesen zu werden. Es wert, zu existieren. Irgendwie sind Bücher doch wie wir Menschen. Ein schönes Cover ist nicht gleich eine gute Geschichte. Und trotzdem ertappe ich mich selbst immer wieder dabei, diesen Fakt zu vergessen. Gedankenverloren ziehe ich an einem der Buchrücken.
„Romeo und Julia, wie dramatisch.“
Erschrocken drehe ich mich mit dem Buch in der Hand um. Er steht da, als wäre er schon immer da gewesen. Na gut, vielleicht war er tatsächlich schon länger hier und ich hatte ihn nur nicht bemerkt. Der Fremde scheint etwa in meinem Alter zu sein und schaut mich mit großen, grauen Augen an. Ich betrachte ihn genauer, was ihm unangenehm zu sein scheint. Nervös trommeln seine Finger einen stummen Rhythmus auf dem Bücherstapel in seinen Armen.
„Gefällt dir die Geschichte nicht?“
Irgendwie habe ich den Drang, Shakespeares Werk zu verteidigen, es ist schließlich Shakespeare.
„Das habe ich so nicht gesagt“, sagt er verlegen lächelnd und legt den Kopf schief. Er hat ein schönes Lächeln. „Ich finde es nur nicht romantisch, dass zwei Kinder sich so sehr lieben, dass sie eher sterben wollen, als ohne den anderen zu leben. Meine Güte, die haben sich insgesamt nur vier Mal gesehen.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Ja, über das Alter lässt sich streiten, aber Liebe auf den ersten Blick würde ich schon als romantisch bezeichnen.“ Werfe ich ein. „Natürlich nur, wenn man an so was glaubt“, schiebe ich schnell nach.
Er fährt sich durch die dunkelbraunen Locken und scheint nicht zu wissen, was er darauf antworten soll.
Riven
Ich könnte mich ohrfeigen. Ich sage meist nicht viel, denke nur und wenn ich etwas sage, dann ist es das Falsche oder schlicht und einfach die Wahrheit, die nur niemand hören will. Also halte ich normalerweise den Mund. Und jetzt, jetzt steht sie hier, ein Mädchen, das ich noch nie gesehen habe und mir fällt nichts Besseres ein als ein Buch zu kritisieren das sie anscheinend mag. Ihre Haare waren das Erste, was mir an ihr aufgefallen ist. Wie ein gezähmter Fluss aus Lava fließen sie glatt über ihren Rücken. „Vielleicht solltest du Shakespeare eine zweite Chance geben, dir sind wohl die Argumente ausgegangen“ Mit einem verschmitzten Lächeln kommt sie näher und legt „Romeo und Julia“ auf meinen Bücherturm. „Bist du oft hier? Ich denke nämlich, dass ich es sein werde, dann können wir ja noch einmal diskutieren, sobald du es gelesen hast“. Oh. Verdammt sag etwas, irgendetwas, schreit eine Hirnzelle in meinem Kopf, die nicht komplett gebannt ist. Gebannt von tiefbraunen Augen. „Ja, ich bin oft hier, eigentlich sogar meistens also immer, wenn ich kann und gerade Zeit habe, du weißt schon…“ Hätte ich doch lieber nichts gesagt. „Dann hoffentlich bis bald, mysteriöser Junge“. Gott ihr Lächeln.
Althea
Irgendwie scheine ich ihn überrumpelt, denn er sieht mich nur stumm an. Also schenke ich ihm noch ein letztes Lächeln, drehe mich um und gehe in Richtung Ausgang. Draußen ist es warm, es ist einer dieser Herbsttage, die einen das Gefühl geben, in einer Postkarte zu Leben. Die Farben der Blätter leuchten mit der Sonne um die Wette, der Himmel ist blau und mit Schäfchenwolken bespickt. Ich setze mich auf die nächstbeste Bank am Rande des Parkes, der das Herz des kleinen Städtchens darstellt, schließe die Augen und denke an den Jungen aus der Bibliothek. Er hatte etwas Zurückhaltendes an sich, etwas verträumt scheint er auch zu sein, aber sind wir Leser das nicht alle mindestens ein klein wenig? Wer ständig von Magischen Wesen, Rebellionen für Freiheit und Liebe liest muss doch ein Stückweit in der Welt der Träume gefangen sein.
Riven
Keine Ahnung was mit mir los ist. Das Einzige, was ich weiß, ist dass ich ihr nachgelaufen bin. Okay Riven, tief durchatmen. Ich räuspere mich leise und setzte mich neben sie auf die Bank. „Oh hi, mysteriöser Junge, der mir hinterherläuft“, lächelt sie. „Hi mysteriöses Mädchen, das ohne ein Buch aus einer Bibliothek geht.“
Drei Wochen später
Wir liegen auf der kleinen Wiese im Park und ich kann mein Glück kaum fassen. Altheas Kopf liegt auf meiner Brust, ich habe meine Arme um sie geschlungen und lese ihr vor. Nicht Shakespeare, den kann ich immer noch nicht leiden. Ab und zu gibt sie ein Seufzen von sich oder fährt mit ihren Fingern über meine. Althea bedeutet „heilend“. Mit ihr fühle ich mich nicht mehr wie ein Reh, ich bin auch kein Dorn. Ihre funkelnden Augen lassen mich fliegen, ihre Küsse verschließen Wunden und ihr Lachen macht mich zum glücklichsten Menschen auf Erden. Worte haben Macht. Liebe die größere. Wenn sie heilt, dann komplett. Ich möchte mir gar nicht vorstellen was passiert, wenn sie verletzt.