"Alex" – eine Geschichte von Fabienne Bumann - Young Circle

«Alex» – eine Geschichte von Fabienne Bumann

Member Stories 2022

«Alex» – eine Geschichte von Fabienne Bumann

Plötzlich trifft mich die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Er ist tot. Für immer weg. Nicht mehr da. Ich werde ihn nie mehr sehen, geschweige denn berühren oder ihn zum Lachen bringen.

Mein Herz schlägt mir bis zum Halse. Ein lautes Dröhnen erfüllt meine Ohren. Trotzdem renne ich weiter. Meine rechte Körperseite schmerzt und bei jedem Schritt fühlt es sich an, wie wenn jemand ein Messer in mich rammt. Doch Zeit ist nun alles, was zählt. Ich darf nicht zu spät kommen. Ich renne und renne. Meine Beine werden schlapp und ich kriege kaum noch Luft. Das Adrenalin und die Angst sind das Einzige, was mich zum Weitergehen antreibt.

Als ich kaum noch Luft kriege und dem Zusammenbruch nahe bin, sehe ich ihn. Er steht am Abgrund einer Brücke, ganz allein, mit geschlossenen Augen. Ich nehme meine letzte Kraft zusammen, beschleunige mein Tempo und setze an, um nach ihm zu rufen. Doch ich bin zu spät. Bevor auch nur ein Mucks aus meiner Kehle dringt, stürzt er sich in die Tiefe und gleich darauf ertönt ein ohrenbetäubender Laut. «Alex!» schreie ich und komme zum Stoppen. Ein Schluchzen dringt aus meinem Mund und meine Augen füllen sich mit Tränen.

Bei der Brücke angekommen, blicke ich nach unten. Auf dem Boden weit unter mir liegt eine verkrüppelte Gestalt. Alex. Ich bin zu spät gekommen. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Ein kalter Schauer bahnt sich über meinen ganzen Körper. Ich beginne zu zittern und rutsche auf den Boden. Zusammengekauert weine ich still weiter. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so einsam und verloren gefühlt wie in diesem Moment.

Ich weiss nicht wie viel Zeit vergangen ist, als ich plötzlich Schritte höre, die immer näherkommen. Jemand setzt sich neben mich, legt eine Jacke über meine Schultern und zieht mich an seinen Körper. Ein Geruch nach Tannennadeln vermischt mit Minze steigt mir in die Nase. Ich blicke auf und schaue in leuchtend blaue Augen. Ein Junge in meinem Alter, vielleicht auch ein bisschen älter, sitzt neben mir und versucht mich mit «Schs» zu beruhigen. Ich weiss nicht, wer er ist oder von wo er kommt. Doch ich schlinge meine Arme um seinen muskulösen Oberkörper und schluchze in sein T-Shirt, dass schon nach kurzer Zeit durchnässt von meinen Tränen ist.

Ich schätze die Anwesenheit des Fremden, dass er sich um mich kümmert, obwohl er mich nicht kennt. Es ist nett von ihm, dass er mich versucht zu beruhigen und keine Fragen stellt. Er ist einfach da und streicht mir über den Rücken. Als ich wieder aufblicke, streicht er mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und ein «Es-wird-alles-wieder-gut» Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Ich nehme seine Hand und drücke sie fest. Dann lehne ich meinen Kopf wieder an seine Brust und beginne zu reden.

«Mein Bruder…», sage ich unter Schluchzern. «Er war da von Tag eins bis jetzt. Alex war mein Ein und Alles. In letzter Zeit ist er immer distanzierter geworden und es gelang mir nur noch selten ihn zum Reden zu bringen. Ich habe ihm vorgeworfen, er wäre ein Egoist, weil er sich nicht helfen lassen wollte. Wir haben uns gestritten. Eigentlich wollte ich nur, dass es ihm gut geht und er mit mir über seine Probleme spricht. Als mir heute Nacht kalt war und ich so wie in alten Zeiten zu ihm ins Bett kriechen wollte, fand ich sein Zimmer leer vor. Er war auch nirgends sonst im Haus zu finden. Als ich sah, das seine Schuhe und seine Jacke weg waren, rannte ich los. Ich wusste, dass er hier sein würde, denn das war sein Lieblingsplatz.»

Ein Tränenstrom bahnt sich über meine Wangen und ich kann nicht mehr aufhören zu schluchzen. Sobald ich mich etwas beruhigt habe, rede ich weiter: «Ich bin zu spät gekommen. Das letzte Bild, das ich von ihm in meinem Kopf habe, ist, wie er auf dieser Brücke steht und springt.» Plötzlich trifft mich die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Er ist tot. Für immer weg. Nicht mehr da. Ich werde ihn nie mehr sehen, geschweige denn berühren oder ihn zum Lachen bringen.

Der Fremde umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, danach zieht er mich in eine Umarmung. Er signalisiert mir damit, dass er da ist und ich keine Angst haben muss.

Durch die Wärme die er ausstrahlt, fühle mich geborgen und sicher. Obwohl ich gerade den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren habe, weiss ich, dass alles gut kommen wird. Denn ich habe Leute in meinem Leben, die mich lieben. Ich bin nicht allein und werde es nie sein. Es wird immer Menschen geben, die für mich da sein werden. Meistens sind es sogar die Menschen, von denen man es am wenigsten erwartet.

Die Realität schmerzt, das ist klar. Doch es geht nicht darum, sie zu ändern. Sondern zu versuchen das Beste daraus zu machen und mein Leben weiterzuleben. Denn wenn Menschen gehen, kommen neue. Es gibt nur wenige, die bis zum Ende bleiben.

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